Pläne sind zum Ändern da

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4

Wie jeden Mittwoch machte sich Nora gleich nach der Arbeit auf den Weg zu ihren Eltern. Sie stieg ins Auto, drehte das Radio lauter und versuchte, die Probleme in der Galerie hinter sich zu lassen. Sie fuhr gern in ihr Heimatdorf. Es war immer wie eine Zeitreise. Jede Straße, jeder Baum und jedes Haus, mochten sie sich auch noch so verändert haben, erinnerten sie an ihre Kindheit. Die gestutzten Linden in der kleinen Einkaufsstraße, die wie abgebrochene Streichhölzer in einer Reihe standen, das rote Backsteinhaus mit der Dorfkneipe, die alte Schule mit der geschnitzten und bemalten Eingangstür und natürlich die ewig rauschende Pappelallee, die zum Sportplatz führte, die Bilder all dessen hatte sie für immer abgespeichert. Bis auf wenige Zugezogene kannte sie fast alle Menschen, die hier wohnten. Viele ihrer Schulfreunde lebten noch dort. Manche waren zuerst weggezogen und dann wieder zurückgekommen.

Wie hatte Uwe beim letzten Klassentreffen gesagt? „Friedrichshagen hat etwas Magisches.“ Na ja, das war ein bisschen übertrieben für ihren Geschmack. Aber vielleicht hatte die Heimat eines Menschen allgemein etwas Magisches für ihn. In ihrem Kopf jedenfalls schwirrten stets einzelne Puzzleteile von Episoden aus ihrer Kindheit herum, bis sie sich eins schnappte und die Geschichte wieder ganz wurde.

Gerade kam sie an dem See vorbei, in dem sie als Kinder Kaulquappen gefangen hatten. Sie füllten sie in ein Einweckglas und wollten beobachten, wie Frösche daraus wurden. Leider dachte niemand daran, einen Deckel auf das Glas zu tun und so hatte die Katze ihren biologischen Forschungen ein Ende gesetzt.

Sie musste lächeln. Hier am See hatte sie auch ihren ersten Kuss bekommen, mit neun. Buck und Ben, die Zwillingsbrüder aus der Nachbarschaft, hatten sie öfter abgeholt. Räuber und Schandarm war ihr Lieblingsspiel gewesen. Meistens musste Nora das Opfer sein und irgendwo reglos herumliegen. Einmal wollte Ben sie zum Abschied auf den Mund küssen. Instinktiv hatte sie den Kopf weggedreht, und er traf nur ihr rechtes Ohr. Das Gefühl seiner feuchten Lippen und das schmatzende Geräusch hatte sie nie vergessen.

Lautes Hupen katapultierte sie unsanft in die Gegenwart. Ihr gegenüber an der Kreuzung stand Uwe. Er ließ die Scheibe seines Lieferwagens herunter und warf ihr im Vorbeifahren eine Kusshand zu. Sie drohte ihm mit dem Zeigefinger und lachte. Komisch, gerade hatte sie an ihn gedacht, und schon tauchte er auf. So war das in diesem Nest.

Nora bog in die kurze Auffahrt zum Hof ihrer Eltern ein. Sie parkte neben dem Hühnerstall und stieg aus. Sogleich spürte sie, wie die Katze sich an ihre Beine schmiegte. Sie beugte sich hinab, um sie zu streicheln. „Na, altes Mädchen?“ Ihre Eltern hatten immer Katzen gehabt, alle hießen Tante Frieda, egal, ob Weiblein oder Männlein. Einen Unterschied gab es aber natürlich doch. Die weiblichen Tiere sperrte ihre Mutter regelmäßig ein, wenn sie rollig waren. Sie wollte nicht, dass sie Junge bekamen. Früher wäre hier niemand auf die Idee gekommen, Katzen kastrieren zu lassen. Überzählige Katzenbabys wurden seit Urzeiten im Wassereimer ertränkt. Keiner dachte sich etwas dabei. Das hatten Nora und ihre Schwester erst viel später kapiert und waren Else dankbar. Nora schüttelte den Kopf und kam wieder hoch. Was ihr aber auch alles in den Sinn kam, wenn sie hier war!

Ihr Vater humpelte ihr entgegen. Seit Kurzem ging er am Krückstock. Er diente ihm nicht nur als Gehhilfe, sondern auch als Werkzeug, wie ihre Mutter Nora neulich zugeflüstert hatte. Er jagte damit die Hühner in den Stall und pulte das Unkraut aus den Fugen des Gehwegs. Seit ihr Vater sich nicht mehr so wie früher bewegen und auch nicht mehr Fahrrad fahren konnte, hatte er oft schlechte Laune.

Heute aber strahlte er sie an. „Ich war bei Dr. Marx. Alles in Ordnung! Sie sagt, ich könne noch hundert werden!“

„Na, das ist ja toll, Papa.“ Nora umarmte ihn zur Begrüßung. Wie dünn er geworden war! Seine alte, an den Knien abgewetzte Cordhose hielt sich nur dank der Hosenträger auf den schmalen Hüften. Auch die Gartenarbeit hatte er aufgegeben. Er wirkte nicht mehr so kräftig wie noch vor einem Jahr. Von ihrer Mutter wusste sie, dass ihr Vater diverse Tabletten nehmen musste und dass er keineswegs gesund war. Diese Tatsache verschwieg er meistens oder vielleicht verdrängte er sie ja auch. Darin waren viele Männer Meister.

Diese Erfahrung hatte Nora jedenfalls gemacht. Wenn sie plötzlich, wodurch auch immer, zu einem neuen Standpunkt gelangten, vergaßen sie ihre früheren Gegenargumente, als hätte es sie nie gegeben. Sie konnten sich alles schönreden. Da brauchte sie nur an ihren Chef zu denken. Günther würde auch die Vorverlegung des Eröffnungstermins durch die Bürgermeisterin noch als Superidee hinstellen. Wahrscheinlich war diese Art von Anpassung eine Überlebenstaktik, die noch aus der Evolution stammte, überlegte Nora giftig. Sie begann schon wieder, sich zu ärgern. Sie streichelte noch einmal Tante Frieda und ging dann ins Haus.

Es war eine kleine Kate aus dem neuzehnten Jahrhundert, in welcher schon ihre Großeltern gewohnt hatten. Drinnen roch es noch genau wie in ihrer Kindheit: im Flur nach Katze, in der Küche nach gedämpften Kartoffeln für die Hühner und im Wohnzimmer nach Lavendel. Alle Räume lagen in einem Rundgang. Vom Flur ging man rechts in die Küche, von dort ins Wohnzimmer, dann ins Elternschlafzimmer, von da ins Kinderzimmer, das Nora sich mit Hanna geteilt hatte, und von dort gelangte man wieder in den Flur. Eine Treppe führte zum Dachboden, der aber nie ausgebaut worden war. Die Fußböden waren inzwischen gefliest und auch neue Fenster eingebaut worden. Die Einrichtung jedoch hatten ihre Eltern behalten. Ihre Mutter wollte nie einsehen, warum sie ihre schöne Eichenholz-Vitrine, die sie geerbt hatte, gegen eine Anbauwand aus Sperrholz eintauschen sollte.

Nora konnte das gut verstehen. Sie liebte selbst alte Sachen, lediglich im Büro bevorzugte sie moderne, praktische Schränke.

Der einzige Kompromiss, den ihre Mutter gemacht hatte, war die Küchenzeile. Die hatte sie erst vor zehn Jahren noch einmal erneuert.

Else saß im Sessel und las, die alte Patchwork-Decke auf den Knien. Sie trug wie immer einen Rock, an Hosen hatte sie sich nie gewöhnt. Während ihrer Jugendzeit in Friedrichshagen trug keine Frau welche. Die langen, weißen Haare hatte sie zum Knoten aufgesteckt. „Kind, du bist ja schon da!“, rief sie überrascht, als Nora ins Zimmer trat. Schwerfällig stand sie auf. „Ich mach uns erst mal Kaffee.“ Den Roman legte sie aber nicht weg, sondern las noch mit dem Wasserkocher in der Hand die Seite zu Ende.

Nora war jedes Mal fasziniert, wie sehr sich ihre Mutter in ein Buch vertiefen konnte. Früher war ihr nicht selten das Essen angebrannt, weil sie lesend am Herd gestanden und vergessen hatte, im Topf zu rühren. Ihr Vater tat das als ihren „Lesefimmel“ ab. Nora aber war stolz auf die anhaltende Liebe ihrer Mutter zur Literatur und freute sich, dass die Diskussion über Bücher ein wichtiges Gesprächsthema zwischen ihnen war. Am liebsten lasen sie beide historische Romane und konnten stundenlang die Charaktere analysieren und über die Figuren schimpfen, als ob es echte Personen wären.

Nora packte den mitgebrachten Kuchen aus, legte ihn auf einen Teller und setzte sich mit ihren Eltern an den kleinen Küchentisch.

„Ist der von Bäcker Kunkel?“, fragte ihr Vater und langte zu.

„Nein, den hab ich aus der Stadt mitgebracht, Papa, Kunkel ist doch letztes Jahr gestorben, hast du das vergessen?“

„Hat er“, antwortete ihre Mutter für ihn und wischte sich die Krümel vom Mund. „Alles vergisst er, aber so ist das eben mit alten Leuten, da müsst ihr jetzt durch, du und deine Schwester.“

„Damals im Krieg hatten wir gar keinen Kuchen“, ergänzte ihr Vater, „nich‘, Else?“

„Ja, und die Alten hatten keine Altersdemenz, sondern waren einfach nur wunderlich.“

„Stimmt“, nickte Otto, „Demenz hatten wir auch noch nicht. Die wurde erst später erfunden, nich‘, Else?“

Die lächelte verschmitzt, und Nora fragte sich, ob ihre Eltern sie gerade veralberten, als ihr Handy klingelte. Sie kramte in ihrer Tasche danach.

Es war Ralf. „Hallo, Schatz, ich wollte dir nur sagen, dass ich heute später komme. Warte nicht auf mich, es kann ein langer Abend werden. Du weißt doch, die Dienstversammlung ist heute.“ Nein, wusste sie zwar nicht, aber vielleicht hatte er es erwähnt. Nora hörte im Hintergrund lautes Muhen. Dann war er also in irgendeinem Kuhstall.

Noch bevor sie antworten konnte, raunzte Ralf genervt seinen Praktikanten an: „Meine Güte, wie oft hab ich Ihnen schon gesagt, wo Sie die Kanüle ansetzen sollen? So wird das nie was! Entschuldige, Nora, ich muss hier dringend eingreifen, dann also bis morgen. Kuss.“

Nora steckte das Handy zurück in die Tasche. Ihr stand mal wieder ein einsamer Abend bevor. Es wurde wirklich Zeit, dass sie wegkamen von diesem ganzen Stress.

„Musst du schon los?“, fragte Noras Mutter, als sie eine halbe Stunde später aufstand und nach ihrem Autoschlüssel griff. „Ja, aber du weißt doch, Mutti, dass ich nächste Woche wiederkomme.“

„Wann geht eigentlich eure Weltreise los?“ Die Frage ihrer Mutter klang etwas ängstlich.

Nora hatte sie auch schon mehrmals beantwortet. „Wenn alles klappt im Oktober. Und bevor du fragst: in sechs Monaten sind wir wieder hier.“

„Sechs Monate sind eine lange Zeit“, sagte ihre Mutter leise.

„Denn kann ick all dot sin!“ Ihr Vater wechselte ins Plattdeutsche, was in letzter Zeit öfter vorkam.

Ihre Eltern hatten miteinander immer Platt gesprochen, mit Nora und ihrer drei Jahre jüngeren Schwester Hanna aber nie. Sie sollten es in der Schule nicht so schwer haben und etwa Hochdeutsch als erste Fremdsprache lernen müssen.

 

„Vorhin wolltest du noch hundert werden, Papa.“ Sie verkniff sich das „schon vergessen?“ und fügte noch hinzu: „Ihr wisst doch, dass Hanna sich dann um euch kümmern wird. Im Herbst zieht sie wieder nach Friedrichshagen, das Haus ist ja schon fast fertig.“

Manchmal dachte Nora wirklich mit schlechtem Gewissen an ihr Vorhaben, so lange wegzufahren. Was, wenn ihre Eltern inzwischen starben? Aber letztendlich hatten Else und Otto ihre Töchter von jeher ermuntert, ihr eigenes Leben zu führen. Beide waren früh aus dem Haus gegangen. Und einsam waren ihre Eltern nicht. Sie hatten einen großen Freundes- und Bekanntenkreis, glücklicherweise auch unter jüngeren Leuten. Ihre Mutter hatte bis zur Rente in einem Waisenhaus gearbeitet. Viele ihrer damaligen Schützlinge hielten Kontakt und besuchten sie mit Kindern und Enkeln. Außerdem wurde Nachbarschaftshilfe in Friedrichshagen großgeschrieben.

„Ach ja, was ich noch sagen wollte, Uwe kümmert sich um euren Garten, ich habe beim Klassentreffen mit ihm gesprochen.“

„Oh, das ist schön“, freute sich ihre Mutter, „ob er auch ein paar Schalen bepflanzt?“

„Sicher, alles, was du willst, Mutti, er macht uns einen Freundschaftspreis.“

„Der hat doch keine Ahnung, das kann ich alles machen“, krähte ihr Vater entrüstet.

Leider nicht mehr, dachte Nora, laut sagte sie: „Er kann dir ja ein bisschen helfen.“ Sie zwinkerte ihrer Mutter zu. „Jetzt muss ich aber los. Falls ich noch was einkaufen soll bis nächsten Mittwoch, ruft mich an.“ Im Rückspiegel sah sie ihren Vater mit dem Stock in Richtung Hühnerstall humpeln.

5

Zu Hause angekommen, fütterte Nora als Erstes die Pferde. Wenn Ralf spät heimkam, war das ihre Aufgabe. Weil es nachts noch ziemlich kalt werden konnte, entschloss sie sich, die beiden Stuten von der Weide zu holen. Sie machte in der Futterkammer zwei Eimer mit Hafer fertig und kippte sie in die Krippen der beiden Boxen. Als Nächstes öffnete sie das Tor zur Koppel. Als die Pferde das Klappern hörten, kamen sie erst langsam angetrottet und wurden dann immer schneller. Auf dem Platz vor dem Stall hielten sie an und ließen sich von Nora über die Nasen streicheln. Sie schmiegte sich an die warmen Leiber und genoss den vertrauten Geruch der Tiere. Jedes ging in seine Box und machte sich über das Futter her. Die beiden Füchse gehörten Ralf. Sie waren zwar seine alten Turnierpferde, aber noch jung genug, um Fohlen zu bringen. Er war nie wirklich erfolgreich gewesen und hatte auch viel zu wenig Zeit für das Training gehabt. Irgendwann hatte er die Turnierreiterei ganz aufgegeben. Jetzt ritt er nur noch selten. Schon das Aufsteigen bereitete ihm große Mühe. Nora fand das schade, denn etwas Sport würde ihm guttun. Vielleicht konnte sie ihn auf Island dazu überreden.

Sie gähnte. Es wurde langsam dunkel. Eine Weile sah sie den Pferden noch beim Fressen zu und ging dann zum Haus zurück. Der Katzennapf vor dem Eingang war noch halbvoll. Den würde sie erst morgen früh wieder auffüllen müssen. Sie selbst hatte auch keinen Hunger. Der Kuchen vom Nachmittag reichte völlig aus.

In der Küche las sie kurz Zeitung und räumte den Geschirrspüler ein. Anschließend ging sie durch alle Zimmer und schloss die noch geöffneten Fenster. Das alte Bauernhaus war viel zu groß für sie und Ralf geworden. Als Bea noch zur Schule ging, hatten hier öfter ihre Freundinnen übernachtet und sich in allen Räumen breitgemacht, sodass Nora ihr Schlafzimmer beinahe verteidigen musste. Wenn Bea am Wochenende mal von der Uni nach Hause kam, hatte sie in fast jedem Zimmer irgendwelche Dinge fallen lassen. Überall lagen Haarklammern, Bürsten, Unterwäsche, Taschen, Schmuck oder Bücher von ihr herum. Im Gegenzug benutzte sie alle Sachen ihrer Mutter, die dann fehlten, wenn sie wieder weg war. Ralf hatte scherzhaft erklärt, sie hinterlasse ihre Duftmarke. Nora räumte entnervt hinter ihr her und fand sie einfach nur unordentlich. Jetzt musste sie manchmal feststellen, dass ihr diese gewisse Unordnung fehlte, weil sie Lebendigkeit und Dynamik bedeutete und das Gegenteil von Einsamkeit war, die sie in diesem Riesenhaus manchmal empfand. Sie verzehrte sich als Mutter sicher nicht über ein gesundes Maß hinaus nach ihrer Tochter, aber manchmal vermisste sie die Zeit, als Bea klein gewesen war. In diesen Momenten wurde ihr schmerzlich bewusst, wie lange das schon her war. Der oft geseufzte Satz ihrer Mutter fiel ihr ein: „Kinder, wo ist die Zeit geblieben?“ Mehr als einmal fragte sie sich, was wohl noch kam in ihrem eigenen Leben. War es das jetzt? Eilte ihr Zug weiter auf seinem eingefahrenen Gleis oder wurde noch eine Weiche gestellt, die in eine unbekannte Richtung wies? Aber in welche? Eine unbestimmte Sehnsucht machte sich breit in ihrer Brust und drohte, ihr die Luft zu nehmen. Verwirrt brach sie ihre Gedankengänge ab. Vielleicht sollte sie einfach zufrieden sein mit dem Leben, das sie hatte. Eine Viertelstunde später stieg Nora in die Badewanne. Das Wasser war ziemlich heiß, aber nach dem kühlen Regenwetter tat das gut. Sie hatte eine Kerze angezündet und das Radio eingeschaltet, damit es nicht so still war. Sie war nicht gern allein in dem großen Haus. Seit Beas Auszug kam das natürlich oft vor, denn Ralf wurde manchmal mitten in der Nacht zu Notfällen gerufen und musste ja auch regelmäßig am Wochenende arbeiten. Dass er, so wie heute, zur Versammlung fuhr, war seltener. Sie hätte gern mit ihm über die neuesten Ereignisse in der Galerie gesprochen, ihm ihre Sorgen hinsichtlich der Ausstellungseröffnung mitgeteilt. Aber daraus wurde, wie so oft, nun nichts. Morgen würde es neue Ereignisse, möglicherweise neue Sorgen oder auch Lösungen geben, und irgendwann verpasste man dann den Zeitpunkt, dem Partner alles, was einen bewegte, zu erzählen. Ging das nur ihnen so? Oder war das ein Problem einer langjährigen Beziehung? Früher hatten sie sich alles erzählt. Oder hatten sie damals mehr Zeit gehabt? Oder den Drang, den anderen an der noch so kleinsten Gefühlsregung teilhaben zu lassen? Sie wusste es nicht. Aber wann immer sie zur Ruhe kam, musste sie darüber nachdenken. Sie hatte das Gefühl, als rasten sie nur noch durch den Alltag, alle beide. Obwohl er angeblich das Ende seines Arbeitslebens herbeisehnte, kam es ihr vor, als ob er jede Minute bis dahin auskostete - so wie ein dem Tod Geweihter, der noch möglichst viel erleben will. Das war paradox. Er führte ellenlange Beratungsgespräche mit den Besitzern seiner Patienten, trug sich freiwillig für Wochenenddienste ein und telefonierte beim Abendbrot mit Pharmavertretern. Sie hatte versucht, mit Ralf darüber zu reden.

Er hatte ihre Gedanken belächelt und sich wieder dem Fernseher zugewandt, so als ob ihr Problem nicht existieren würde.

Aber sie konnte doch nicht alles auf die „Zeit danach“ verschieben, die Zeit von Ralfs Rentnerdasein und ihrem Sabbatical. Sie lebten schließlich jetzt! Sie musste noch einmal versuchen, mit ihm zu sprechen. Es war allerdings schwierig, mit ihm zu diskutieren, wenn er ihre Zweifel und Gedanken nicht teilte. Dann hatte er keine Lust, all das „durchzukauen“, wie er es nannte. „Das ist eben so!“, war sein Standardsatz.

Bald war ihr dreißigster Hochzeitstag. Sie würde ihn zu einem Ausflug einladen oder zum Essen. Sie stieg aus der Wanne und trocknete sich ab. Danach stand sie vor dem großen Badezimmerspiegel und ließ das Handtuch fallen. Sie betrachtete ihren Körper, als ob in dem Bild von ihr die Lösung lag. Sie hatte ihre Figur stets gemocht, schaute sich auch jetzt, mit über fünfzig, gern an. Sie war immer noch schlank, nicht allzu klein und nur wenig Grau hatte sich unter die blonden Haare gemischt. Wenn sie nicht gerade in den Vergrößerungsspiegel sah, konnte sie außer den Krähenfüßen um die braunen Augen herum nicht viele Falten im Gesicht erkennen. Über der Oberlippe prangte ein kleines, etwa fünf Millimeter großes, dunkelbraunes Muttermal. Mit etwas Fantasie konnte man es herzförmig nennen. Als ihre Hautärztin vorgeschlagen hatte, es zu entfernen, hatte sie abgelehnt. Es gehörte zu ihr, seit sie denken konnte. Sie wollte es behalten. Die Brüste, na ja, die waren nicht mehr so schön wie früher, aber das konnte man wohl auch nicht erwarten. Groß und schwer, ja, aber prall? Das war einmal.

Was sah Ralf, wenn er sie anschaute? Diese Frage schlich sich sofort ein. Wann war das überhaupt zum letzten Mal gewesen? Meist liebten sie sich im Dunkeln, wobei das Wort „meist“ schon eine Übertreibung war. Irgendwas lief hier falsch. Sie musste nur herausfinden, was. Aber war das nicht auch normal in ihrem Alter, dass die Lust aufeinander nachließ? Dreiundzwanzig Uhr war jedoch eindeutig zu spät, um solche Gedanken zu wälzen.

Nora zog ihr Nachthemd an und ging ins Bett. Irgendwann gegen Morgen wachte sie vom Motorgeräusch eines Autos auf, schlief aber sofort wieder ein.

6

Am nächsten Tag in der Galerie machte Nora sich als Erstes daran, den Zeitplan bis zur Ausstellungseröffnung zu aktualisieren. Wie oft hatte sie das in den letzten Wochen getan? Sie hatte sich mit Günther zusammengesetzt, und sie waren noch einmal alle Punkte durchgegangen. Ganz genau hatten sie überlegt, was alles in welcher Reihenfolge erledigt werden musste, damit sie am Tag der Eröffnung fertig sein würden.

„Mein Kollege aus dem Museum in Wilkendorf hat erzählt, dass sie, kurz bevor die ersten Besucher vorne hereinkamen, hinten noch Schilder angeschraubt haben. Und fertig ist die Ausstellung nach wie vor nicht. Das ist heute so Mode, Nora. Damit zeigt man in unseren Kreisen, wie wahnsinnig viel man zu tun hat.“ Günther lachte und stand auf, um das Fenster zu öffnen und um sich die Hose hochzuziehen. Das tat er neuerdings dauernd.

Kein Wunder, dachte sie, der Bauch hängt über dem Gürtel. Sie fand, dass er sich ziemlich gehenließ.

Als sie ihn kennenlernte, hatte er sich noch mehr Mühe mit seinem Aussehen gegeben und war auch wesentlich schlanker gewesen. Aber schließlich wurde er bald sechzig; das Alter machte eben auch vor den Männern nicht halt. Sie hatten ja sogar so etwas wie Wechseljahre.

Nachdem ihr Chef sich wieder hingesetzt hatte, äußerte Nora etwas spitz: „Ich weiß ja nicht, in was für Kreisen du verkehrst, aber in dieser Galerie haben wir bisher immer alles bis zum Termin geschafft, und das werden wir auch diesmal.“ Dann fuhr sie versöhnlicher fort: „Ich gebe zu, dass nichts dazwischenkommen und auch niemand krank werden darf. Natürlich werden wir in den letzten vier Wochen sicher mal länger machen müssen. Urlaubssperre versteht sich von selbst. Lass uns noch über die Eröffnungsfeier reden! Gibt es schon genaue Pläne? Da wird ja sicher deine Schneekönigin mitmischen wollen. Jetzt, wo klar ist, dass der Minister kommt.“ Den Seitenhieb konnte sie sich nicht verkneifen. Sie sah ihren Chef gespannt an.

„Frau Barkow ist meine Vorgesetzte, Nora, und ich muss sagen, nach dem unrühmlichen Abgang ihres Vorgängers, der im Übrigen keinen Finger für uns gerührt hat, bin ich ganz froh, dass sie sich ein bisschen für unsere Galerie interessiert.“

Nora warf empört „ein bisschen?“ ein, wurde aber sofort von Günther unterbrochen. „Nein, Nora, lass mich ausreden! Sie zeigt uns, dass sie die Galerie will. Andere Städte haben sich längst von ihren Kultureinrichtungen getrennt, Museen geschlossen oder in andere Trägerschaften überführt. Da kann ich dir Dutzende von Beispielen aufzählen. Letztendlich ist mit unserem Stadtmuseum auch nichts anderes passiert. Für die Politik ist Kultur keine Pflichtaufgabe, das weißt du ganz genau. Aber Politik wird nun mal von Menschen gemacht, und da kann es nicht schaden, die Bürgermeisterin auf unserer Seite zu haben. So, und jetzt du!“

„Okay, okay, du hast ja recht, wir werden das Beste draus machen. Was bleibt uns auch anderes übrig.“

„Und wenn Frau Barkow und das ganze Stadtparlament sich am Ende mit unserer neu präsentierten Stadtgeschichte schmücken und hier mit ihren Gästen herkommen, kann das ja nur gut für uns sein. Vielleicht wird dann auch wieder mehr Geld für Sonderausstellungen fließen“, schloss Günther.

„Was ist denn nun mit der Eröffnung? Hast du schon Musik?“, hakte Nora noch einmal nach.

„Ja, Musik ist klar. Ich hab eine Big Band engagiert, die ich von einem Konzert kenne. Ziemlich abgefahren, die Jungs.“ Er grinste und sah plötzlich sehr jung aus. „Ich dachte, das ist mal was anderes. Büfett ist auch geregelt, wird vom DEUTSCHEN HOF gesponsert. Dann das Übliche, Reden, Grußworte und so weiter. Und die Schneekönigin wollte noch Kinderballett, also hab ich das auch organisiert. Natürlich Schwanensee.“ Er verdrehte die Augen. „Find ich ja bisschen übertrieben, aber was soll’s! Den Sekt servieren dann die älteren Ballettmädchen der Jugend-Theatergruppe.“

 

„Na, das klingt ja ganz toll. Da hast du wohl deine Hausaufgaben schon gemacht.“

„Nur die Einladungsliste fehlt noch, das Plakat und die Kleinigkeit der Ausstellung.“ Nora tippte auf ihren Zeitplan. „Wie gesagt, wir tun alles, deshalb muss ich jetzt los. Lass uns nächste Woche wieder reden, und bitte, unterschreib die Leihverträge und schick sie ab! Mit der Versicherung hab ich telefoniert, Herr Meyer ist mit der Summe einverstanden.“

„Wird gemacht, Frau Schönemann.“

Günther schloss hinter Nora die Tür und atmete tief durch. Er setzte sich an den Schreibtisch und fühlte sich auf einmal sehr erschöpft. Langsam drehte er sich um und zog den Thieme/Becker aus dem Regal.

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