Pläne sind zum Ändern da

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7

Es klopfte. Johannes steckte seinen Lockenkopf durch den Türspalt. „Sie wollten mich sprechen, Chefin?“

„Setzen Sie sich, Johannes. Ich hab Ihnen den neuen Zeitplan gemailt. Wie wir ja nun seit gestern wissen, haben wir nicht mehr so viel Zeit bis zur Eröffnung. Schauen Sie sich’s mal an! In diesem Monat muss unbedingt noch die Liste mit den exakten Nummern für die einzelnen Exponate fertig werden. Die Nummern sind ja dann später identisch mit den Beschriftungsnummern in den Vitrinen. Wie weit sind Sie denn damit?“

„Fast fertig. Nur der Abschnitt Neustadt im neunzehnten Jahrhundert fehlt noch.“

„Ja, ich weiß, darum kümmere ich mich in den nächsten Tagen. Da wollten wir die aufstrebende Wirtschaft anhand von neu entstehenden Unternehmen zeigen. Ich glaube, im Fundus des ehemaligen Stadtmuseums finden wir dazu schöne Beispielobjekte. Ich werde mich mit Leo mal umsehen. Dann kann er gleich den Zustand prüfen und zur Not noch das eine oder andere restaurieren. Wir bringen die Sachen ins Zwischenmagazin, sodass Sie alles aufnehmen und vermessen können. Die Karteikarten mit Angaben zu jedem Exponat lege ich bei. Ach ja, und geben Sie gleich alles in das Inventarisierungsprogramm ein! Das ist ein Abwasch. Der PC dort ist wieder in Ordnung.“

Ihr Handy klingelte. Hanna war dran. Sie gab Johannes ein Zeichen, dass sie fertig waren.

„Hanna! Na, Schwesterherz? Was gibt’s denn?“

„Oh, nichts Besonderes. Ich dachte nur, wir könnten mal wieder zusammen Kaffee trinken? Hast du heute Zeit?“

Nora überlegte kurz. „Wie wär’s um vier im PUSSICAT?“ „Abgemacht! Bis nachher. Muss noch ein Schwergewicht massieren. Danach kann ich eine Stärkung gebrauchen.“ Sie lachte gackernd, und Nora fiel mit ein. So hatten sie schon als Kinder herumgealbert und noch jetzt, als erwachsene Frauen, konnten sie jede Geburtstagsrunde mit ihrem ansteckenden Lachen erheitern oder nerven, je nachdem. Hannas Ex hatte immer eine Augenbraue gehoben und keine Miene verzogen, aber das war eine andere Geschichte.

Drei Stunden später saß Nora auf einer Couch im PUSSICAT und wartete auf ihre Schwester, die fast jedes Mal zu spät kam. Das Café hatte im letzten Jahr neu eröffnet und war der Renner in Neustadt. Inzwischen musste man reservieren, um einen Tisch zu bekommen. Die Inhaberin war eine üppige Mittvierzigerin, die sich damit einen Lebenstraum erfüllte. Sie stand selbst hinterm Tresen, begrüßte alle Gäste persönlich und nahm die Bestellungen auf. Den Kaffee und selbstgebackenen Kuchen brachten dann die Herren, die sie aufs Feinste angelernt hatte. Alle kamen aus artfremden Berufen und waren zuvor arbeitslos gewesen. Sie trugen lange Kellnerschürzen und weiße Hemden. Man kam sich wegen ihrer ausgesuchten Höflichkeit vor, wie in einem Wiener Kaffeehaus. Auch die Ausstattung des Lokals ähnelte einem solchen. Es gab runde Holztische mit geschwungenen Beinen, Sessel und Sofas mit Biedermeier-Bezügen, Rüschengardinen, Rosen in kleinen Vasen und gedimmtes Licht. Was Nora besonders freute, war, dass an den Wänden Gemälde von Neustädter Künstlern hingen, Landschaften und Stillleben, die die Wirtin eigens angekauft hatte. Rosi selbst war stets sorgfältig geschminkt und frisiert. Die dunklen Locken hatte sie mit einem breiten Band gezähmt. Heute war es ein grünes. Sie war ziemlich groß und versteckte ihre drallen Rundungen in einer Haremshose und einem sogenannten Überwurf. Der hatte aber einen so tiefen Ausschnitt, dass wenigstens ihr toller Busen zur Geltung kam, nicht zuletzt durch die goldene Kette mit einem Pfeil als Anhänger, der direkt darauf zeigte.

Nora war jedes Mal beeindruckt von ihrer Aufmachung. Sie selbst hatte zwar Schuhe mit hohen Absätzen an, aber kombiniert mit Jeans und Pullover. Morgens musste es immer schnell gehen. Sie schminkte nur die Wimpern und pinselte etwas Rouge auf, damit sie nicht so blass wirkte. Aus Schmuck machte sie sich nichts, sie trug lediglich ihren Ehering und fast immer die gleichen Ohrringe.

Jetzt kam Rosi an ihren Tisch. Inzwischen kannten sie sich schon etwas, und Nora nahm ihr nicht übel, dass sie sagte: „Na, Schätzchen, du wartest doch nicht etwa auf einen Lover?“

Nora lachte. „Nein, auf meine Schwester. Sie kommt sicher gleich.“

Hanna arbeitete als Physiotherapeutin in einer Praxis in Neustadt. Nach ihrer Scheidung war sie von Friedrichshagen hierhergezogen. Sie hatte vor fünfzehn Jahren ihre Familie wegen eines anderen Mannes verlassen. Das war damals in ihrem Heimatort ein ziemlicher Skandal gewesen. Auch ihre Eltern hatten sehr darunter gelitten, zumal Anton, ihr Neuer, der Neffe ihrer Mutter war. Hanna, dieses Schaf, hatte alle Schmach auf sich genommen und war ausgezogen.

Nora war von Anfang an klar gewesen, dass sie wohl kaum die alleinige Schuld am Scheitern ihrer Ehe trug. Erst viel später hatte sich herausgestellt, dass auch ihr Schwager längst eine andere liebte. Er hatte es nur nicht an die große Glocke gehängt.

Am schlimmsten war das Gezerre um die Kinder gewesen. Hannas Anwalt hatte ihr geraten, die beiden Mädchen vorerst beim Vater zu lassen und dann einen Antrag auf das Sorgerecht zu stellen. Zu Nora hatte sie damals gesagt, es war, als hätte man ihr beide Arme abgehackt. Einerseits fühlte sie sich schuldig an der Misere, andererseits wollte sie auch nicht zurück.

Ein paar Monate später kam die kleine Marta dann per Gerichtsbeschluss zu ihr. Mandy war schon vierzehn und wollte bei ihrem Vater bleiben. Inzwischen waren sie erwachsen und die Probleme von damals verblasst.

„Warum hast du deine Stirn in Falten gelegt? Mach das weg! Das bleibt sonst so stehen!“ Hanna, die eben an den Tisch fegte, gackerte sofort los.

„Ich weiß“, antwortete Nora schuldbewusst, „das hat Mutti immer gesagt, wenn wir Grimassen geschnitten haben.“

Die beiden Frauen begrüßten sich herzlich. Hanna ließ sich neben ihrer Schwester auf dem Sofa nieder. Sie hatte wie immer ein Kleid an und legte, genau wie Rosi, viel Wert auf ihr äußeres Erscheinungsbild. Die blondgefärbten Haare waren lang und etwas abgestuft. Auch Schmuck trug sie reichlich. Nora wusste, dass Anton sie großzügig behängte, wie er scherzhaft zu sagen pflegte. Die Wirtin kam an ihren Tisch und nahm in ihrer unnachahmlichen Art die Bestellung auf: „Na, meine Süßen? Was darf ich euch bringen lassen?“, säuselte sie und warf dabei ihre Mähne zurück.

„Für mich ein Kännchen Kaffee und ein Stück Mohntorte“, erwiderte Nora.

Hanna wollte nur einen großen Milchkaffee. „Ich bin auf Diät.“ Das war sie seit gefühlten vierzig Jahren. Zugegeben, sie war etwas fülliger als Nora, und irgendwann in letzter Zeit war auch ihre Taille abhandengekommen, aber diese Diäten hatten ihr noch nie etwas anderes als schlechte Laune eingebracht.

„Warum willst du denn abnehmen? Anton liebt dich doch so wie du bist.“

„Bald ist Urlaubszeit, da will ich in den Badeanzug vom letzten Jahr passen“, erklärte Hanna.

„Kauf dir einen neuen. Rosi! Können wir bitte noch ein Stück Mohntorte haben?“

„Hast ja recht. Jetzt in den Wechseljahren bringt es sowieso nichts mehr“, stellte Hanna resigniert fest; ein paar Minuten später schob sie sich genüsslich ein Stückchen Torte in den Mund.

„Wann zieht ihr um?“, fragte Nora nun.

Hanna und Anton hatten ein Haus in Friedrichshagen gebaut und wollten sich um ihre Eltern kümmern. Nora war froh darüber. Auch Antons Mutter lebte noch dort und brauchte mehr und mehr Hilfe.

„Spätestens im September, denke ich. Am Anfang werden sich bestimmt einige das Maul zerreißen, wenn die Rabenmutter, die ihre Kinder verlassen hat, wieder da ist. Aber was soll’s, da müssen sie durch.“

„Ach komm, das ist eben auf dem Lande so. Der Tratsch geht auch vorbei, zumal dein Ex ja längst nicht mehr in Friedrichshagen wohnt.“

Hanna nahm einen großen Schluck Kaffee und wischte sich den Schaum mit dem Handrücken von der Oberlippe. „Mag sein. Inzwischen ist es mir auch egal. Ich freue mich jedenfalls, wieder dort zu wohnen. Und das Haus wird schön!“, schwärmte sie.

„Hoffentlich zieht ihr nicht vor Ende September um. Davor habe ich nicht viel Zeit, um dir beim Packen zu helfen.“ Nora berichtete ihrer Schwester in groben Zügen von der Terminverschiebung der Ausstellungseröffnung.

Hannas Augen wurden groß. „Das ist ja ein dicker Hund! So, so, die Schneekönigin, von der hört man ja nur solche Sachen. Hast du die schon mal lachen sehen? Ich nicht. Ständig total verkniffen, auf allen Zeitungsfotos. Dabei ist sie gerade erst vierzig. Schade um das Mädel!“

„Sie soll uns einfach nur unsere Arbeit machen lassen. Das würde mir schon reichen“, klagte Nora.

Rosi kam zum Kassieren und wünschte den Schwestern „schöne Stunden bis zum Wiedersehen“.

„Ich muss noch mal aufs Klo. Kommst du mit?“, fragte Hanna. Zu zweit gingen sie die schmale Treppe zum WC hinunter. Wie das Café, war natürlich auch das Örtchen etwas Besonderes. Rosentapeten säumten den Weg dorthin; sogar das Toilettenpapier war mit Blumen bedruckt. Walzermusik ertönte aus den Lautsprechern.

Beim Händewaschen, selbstverständlich mit Rosenseife, fragte Nora ihre Schwester: „Schläfst du eigentlich noch mit Anton?“

Hanna starrte sie verständnislos an: „Ja, mit wem denn sonst?“

Nora wurde rot. „Die Betonung lag eigentlich auf dem ersten Wort.“

„Na, aber hallo! Was dachtest du denn?“

„Ach, nur so …“

„Jetzt, wo man nicht mehr verhüten muss, ist das doch alles noch viel entspannter.“

Daran hatte Nora noch gar nicht gedacht.

Endlich fiel bei Hanna der Groschen: „Ja, dann lass dir doch mal was einfallen! Verführ ihn, mit Spitzenunterwäsche und so, klappt immer.“ Sie lächelte aufmunternd.

 

8

Nora sah aus dem Küchenfenster zu Ralfs Praxis hinüber. Sie lag genau gegenüber von ihrem Wohnhaus. Schon vor fünfundzwanzig Jahren hatten sie den alten Bauernhof in Hickelshagen übernommen und nach und nach alle Gebäude ausgebaut. Das hatte mehrere Jahre gedauert. Nora hatte manchmal gedacht, sie lebe auf einer Baustelle. Ständig hatten sie Zementstaub und anderen Dreck mit in die Wohnung getragen. Im Flur ließ Nora dauerhaft einen Wischeimer stehen. Manchmal fragte sie sich, wie sie das damals alles geschafft hatte, die Arbeit, das Kind, den Haushalt, die Putzerei und das Kochen für die Handwerker am Wochenende. Aber irgendwie war es wohl gegangen. Ralf hatte auch viel gearbeitet, dennoch hatten sie sich immer mal ein paar Stunden zu zweit gegönnt, um dem Alltag zu entkommen. Bea war bei Else und Otto gewesen, und sie beide waren einem für Nora unbekanntem Ziel entgegengefahren.

Bei dem Gedanken an Ralfs Einfallsreichtum musste sie lächeln. Einmal hatte er sich einen Jeep geliehen; sie hatten mitten im Wald auf dem Hochsitz eines befreundeten Jägers übernachtet, der sehr komfortabel mit einer Schlafcouch eingerichtet war. Noch jetzt schlug ihr Herz heftiger, wenn sie an diese Nacht dachte. Wie lange das alles schon her war! Die Sprechstunde war fast vorbei. Heute, am Sonnabendvormittag, waren nicht so viele Leute mit ihren kranken Tieren gekommen. Nachmittags hatte Ralf noch Hausbesuche vor. Nora wollte die Zeit nutzen, um sein Lieblingsessen zu kochen, denn heute war ihr dreißigster Hochzeitstag. Ob er wohl daran denken würde? In der Vergangenheit war es selten vorgekommen, dass er diesen Tag vergessen hatte. Meistens brachte er ihr ein kleines Geschenk mit oder lud sie in ein Restaurant ein.

Na ja, mal schauen, sagte sie sich. Heute hatten sie sich noch gar nicht gesehen. Er war früh aufgestanden, und sie hatte etwas länger geschlafen.

Sie verharrte immer noch mit ihrer Kaffeetasse am Fenster, als ein großer Jeep auf den Parkplatz einbog. Umständlich kletterte eine Frau aus dem Auto, bemüht, mit ihren spitzen Absätzen nicht in den Rasengittersteinen hängen zu bleiben. Über den roten Locken trug sie einen riesigen Hut, so in Sombrero-Art, wie Nora belustigt feststellte: Ella von Bredenbrick. Die bekannteste Frau in Hickelshagen und darüber hinaus. Nora kam selbst vom Lande und wusste, wie hier, wo jeder jeden kannte, getratscht wurde. Aber wenn nur die Hälfte von dem stimmte, was über Ella von Bredenbrick erzählt wurde, hatte die Frau eine bewegte Vergangenheit.

Sie war ungefähr vierzig Jahre alt und lebte in einem großen Haus zusammen mit zehn Hunden. Sie kam fast täglich in die Praxis mit einem der Viecher. Irgendwas war ja immer: Entwurmung, Tollwutspritze oder Durchfall.

Frau Keipke, Ralfs Mitarbeiterin, hatte sie „Hundemutter“ getauft, weil sie die Tiere wie Kinder behandelte. Zwei Ehemänner hatte sie schon unter die Erde gebracht, die allerdings sehr viel älter als sie gewesen waren. Graf von Bredenbrick, dessen Namen sie trug, war an einem Zuckerschock gestorben. Irgendwie hatte der Notarzt es nicht rechtzeitig zu ihm geschafft. Ihr zweiter Gatte, Ulli Höffer, ein hiesiger Bauunternehmer, war eines Tages aus ungeklärter Ursache vom Gerüst gestürzt. Die Dame hatte nun Geld genug und brauchte nicht zu arbeiten.

Nora beobachtete amüsiert, wie sie mehrfach versuchte, die Heckklappe ihres Jeeps zu öffnen, um drei Körbe herauszuholen, in denen sich kleinere Hunde befanden. Sie ließ die Körbe stehen und stöckelte in Richtung Praxis.

Noch bevor sie die Eingangstür erreicht hatte, kam Ralf ihr entgegen, nahm die Körbe und trug sie zur Tür wie ein Diener.

Nora war sprachlos. So viel Aufmerksamkeit hätte sie sich von ihm gewünscht, wenn sie mit vollen Einkaufskisten nach Hause kam. Aber sie wollte nicht ungerecht sein. Die Patienten gingen natürlich vor. Eine Stunde später stand der Jeep der Hundemutter nach wie vor auf dem Parkplatz. Was machte die so lange in der Praxis? Frau Keipke war längst gegangen und die Sprechstunde offiziell schon vorbei.

Endlich sah Nora sie wegfahren.

Ralf kam zur Tür herein. Inzwischen war es Nachmittag. Sie hatte also noch Zeit zu kochen, damit es dann mit dem geplanten Candle-Light-Dinner klappte. Sie ging auf ihn zu und schlang die Arme um seinen Hals.

„Lass mal, mein Shirt ist schmutzig.“ Er trat einen Schritt zurück.

Sie ließ die Arme sinken.

„Ich fahre noch zu ein paar Patienten und bin heute Abend wieder da. Kann später werden.“ Damit drehte er sich um und ging zur Tür. Er kam noch einmal zurück, nahm sich einen Apfel aus der Obstschale und biss kräftig hinein.

Leicht panisch rief Nora ihm nach: „Du weißt aber schon, was für ein Tag heute ist?“

„Sonnabend!“ Damit fiel die Tür ins Schloss.

Nora blieb ratlos stehen. „Na gut“, sprach sie laut zu sich selbst, „warten wir es ab!“

Sie ging zum Kühlschrank und holte das Kasseler, das sie beim Metzger gekauft hatte, heraus. Sie bestreute das Fleisch mit Pfeffer, gab etwas Öl in die Pfanne und legte den Braten hinein. Dann schob sie die Bratpfanne in den Backofen und stellte die Temperatur ein. Mechanisch schälte sie Kartoffeln, kochte Rotkohl und Schokoladenpudding. Mit den Gedanken war sie woanders. Was war los mit Ralf? Warum wich er ihr aus? Oder bildete sie sich das alles nur ein? Heute Abend, nach dem Essen, würde sie mit ihm reden. Natürlich musste sie das geschickt anstellen, nicht mit der Tür ins Haus fallen. Immerhin war es ihr Hochzeitstag, und der Abend sollte doch harmonisch verlaufen. Sie würde über die geplante Reise mit ihm sprechen. Langsam mussten sie auch den Flug buchen.

Inzwischen war der Braten fast gar. Jetzt konnte sie noch die Soße zubereiten und alles warm stellen. Dann war Zeit für ein Bad. Und nun kam die wichtigste Frage: Was sollte sie anziehen? Sie besaß nur ein schwarzes Kleid. Glücklicherweise passte es noch. Darunter trug sie die Spitzenunterwäsche, die sie am Freitag erstanden hatte. Nun hieß es warten. Gegen Mitternacht löschte sie die Kerzen und stellte das Essen in den Kühlschrank. Den restlichen Wein kippte sie weg. Sie wollte Ralf nicht hinterhertelefonieren, wählte schließlich aber doch seine Nummer. Mailbox.

Kurze Zeit später rief er zurück. „Was ist denn?“

„Wo bleibst du? Ich warte seit Stunden auf dich!“

„Du, ich mach hier ‘nen Kaiserschnitt, geht grad nich‘.“ Er legte auf.

Sie setzte sich ins dunkle Wohnzimmer. Eine halbe Stunde später klappte die Autotür. Sie hörte, wie er in den Keller ging.

Er kam mit einer Flasche Bier herein, die er im Stehen austrank. „Zehn Welpen, meine Güte. War das ein Tag! Wie siehst du eigentlich aus? Warst du weg? Ich geh duschen. Nacht.“

9

Nora stand früh auf und kochte Kaffee. Sie konnte sowieso nicht mehr schlafen. Als das Frühstück fertig war, erschien Ralf in der Küche. Er setzte sich im Schlafanzug an den Tisch und langte zu. „Ich bin vielleicht fertig! Und heute wieder Bereitschaftsdienst. Na ja, was soll‘s, hilft ja nix. Kannst du die Pferde nachher rauslassen? Ich muss wahrscheinlich noch mal weg. Was machst du heute?“

„Schön, dass du dich dafür interessierst, was ich mache“, sagte sie spitz. „Weißt du eigentlich, dass gestern unser Hochzeitstag war?“ Sie hatte beschlossen, die Flucht nach vorn anzutreten. „Ich hatte gekocht und den ganzen Abend auf dich gewartet.“

„Echt? Den hab ich glatt vergessen. Hatte einfach zu viel zu tun. Das musst du doch verstehen. So kurz, bevor ich hier alles aufgebe, liegt eben noch viel an.“ Er köpfte ein Ei, streute reichlich Salz drauf und löffelte es aus.

„Das muss ich schon seit Jahren verstehen, Ralf. Aber wenigstens unseren Hochzeitstag hast du kaum je vergessen.“

Natürlich ging er nicht weiter darauf ein, sondern sagte stattdessen: „Brandner hat sich auch noch nicht wieder gemeldet. Ich hoffe, dass er noch zu seinem Wort steht.“ Olaf Brandner war der potenzielle Käufer von Ralfs Praxis. Er wollte ihn, wenn Nora und Ralf auf Weltreise waren, vertreten und danach die Praxis kaufen. Eigentlich hatte er auch fest zugesagt, sich aber schon länger nicht mehr gemeldet. Im schlimmsten Fall musste Ralf nach ihrer Rückkehr weiterarbeiten, bis er einen neuen Käufer gefunden hatte.

„Ruf ihn doch an, dann weißt du es genau. Langsam sollte das wenigstens mit der Vertretung klar sein, oder? Wenn wir Mitte Oktober loswollen, wäre es schön, wenn er ein paar Tage eher kommen würde. So könntest du ihn noch etwas begleiten und ihm alles zeigen. Oder was meinst du? Hast du dich denn schon mal um die Flüge gekümmert? Oder wollen wir erst, wenn wir bei Bea sind, alles Weitere planen?“ Nora schluckte den letzten Bissen des Brötchens herunter und stellte ihren Teller beiseite. „Mir wäre es jedenfalls lieber, wenn die nächsten Stationen unserer Reise bald feststehen würden. Schon allein wegen der Sachen, die ich mitnehmen muss. Von Island nach Amerika und dann nach Australien, das war doch schon klar, oder? Und bleibt es dabei, dass wir da ein Wohnmobil mieten? Dann könnte ich ja schon mal nach Anbietern schauen.“

Ralf hatte sie die ganze Zeit angesehen und mehrmals zu einer Antwort angesetzt. Er goss sich noch Kaffee ein und trank einen Schluck. Den Löffel ließ er in der Tasse. Diese Angewohnheit hatte er von jeher. Nora dachte jedes Mal, er würde sich damit ins Auge pieken. „Mach es doch nicht so kompliziert, Nora. Es ist erst Mai. Wenn wir die Flüge im Juli buchen, reicht das ewig noch. Dann planen wir eben mal nicht alles vorher ganz genau. Meinetwegen guck nach Wohnmobilen! Wenn Brandner nicht kommt, können wir das sowieso vergessen.“

„Was? In dem Fall musst du eine neue Vertretung finden! Schließlich war das doch alles deine Idee. Oder hat sich an deinem Plan mit der Weltreise was geändert? In ein paar Wochen unterschreibe ich den Vertrag für meine Freistellung, und meine Stelle wird befristet ausgeschrieben. Dann kann ich erst nächstes Jahr im Mai wieder zurück.“

„Wir werden sehen. Ich rufe ihn mal an.“ Wahrscheinlich hatte er recht. Bei Nora musste stets alles nach Plan laufen. Dabei sagte ihre Mutter immer: „Wer einmal plant, muss meistens zweimal planen.“ Und so war es ja auch oft. Ralf war im Gegensatz zu ihr ein spontaner Mensch. Wenn sie allein daran dachte, wie er seine Autos kaufte! Während sie noch über die Farbe grübelte, saß er schon beim Verkäufer und unterschrieb den Vertrag. Auch als sie das Haus ausgesucht hatten, war es ähnlich gelaufen. Er hatte es einmal von außen gesehen und die Zusage gemacht. Allerdings musste sie zugeben, dass er seine spontanen Entscheidungen nur selten zu bereuen brauchte.

Sie schaute ihn an. Auch nach dreißig Jahren fand sie ihn attraktiv. Der Drei-Tage-Bart stand ihm. Auch wenn er etwas dicker war als früher, hatte er seine breiten Schultern behalten. „Tierarzt zu sein, erspart das Fitnessstudio“, pflegte er zu sagen. Seinen Kopf rasierte er schon seit Jahren kahl, sodass man nicht genau gemerkt hatte, seit wann er wirklich kaum noch Haare hatte. „Aber zum Schluss hängen wir noch einen Badeurlaub dran, irgendwo da, wo es nicht so überlaufen ist, ja?“ Sie blickte träumerisch aus dem Fenster und sah, wie die Sonne sich langsam hinter den Wolken hervorquälte. Sie musste gähnen. Es war eigentlich viel zu früh am Sonntag. Ob sie noch mal ins Bett schlüpfen sollte? Vielleicht kam Ralf ja mit? Früher hatten sie das öfter getan – nach dem Frühstück ins Bett. Glücklicherweise hatte sie die neue Spitzenunterwäsche wieder an. Sie stand auf und ging um den Tisch herum auf ihn zu.

Sein Handy klingelte. Ein paar Sekunden später war er aus der Tür.

Nora zuckte mit den Schultern. Ja, was sollte sie heute machen? Eigentlich gab es nur eins, das gegen jeglichen Frust half, das ihr alle Traurigkeit nahm und alle Probleme vergessen ließ: Reiten. Und genau das würde sie heute machen.

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