Sammlerherz

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„Stell dir vor, Wilhelmine war schwanger!“ Nora geriet immer noch ganz aus dem Häuschen, als sie Sanne an deren Küchentisch gegenübersaß. „Aber wo ist das Kind geblieben? Es hieß immer, dass sie unverheiratet und ohne Nachkommen gestorben sei.“ Sie schüttelte den Kopf. „Und wo soll ich jetzt suchen? Ich könnte im Taufregister nachsehen. Vorausgesetzt, das Kind wurde hier in Neustadt geboren. Sonst vielleicht in Berlin? Ich muss es versuchen.“ Sie nippte an ihrem Wein und aß von der Käsepizza, ein riesengroßes Wagenrad, das sie sich teilten.

„Aber das ist total spannend!“, rief Sanne aus. „Das ist es doch, was dir am meisten Spaß macht, oder? Geschichten erforschen.“

Nora freute sich. „Stimmt. Gleich morgen rufe ich im Archiv an. Dort lagert das Taufregister jener Zeit. Bettina hat sowieso noch mehr für mich. Der ominöse Karton aus dem Hause der Gräfin Rattau wartet.“ Aber vorher musste sie ihrer Chefin beichten, dass sie schon wieder stundenlang ins Stadtarchiv abtauchen wollte. Die hatte sowieso nur noch schlechte Laune.

Als hätte Sanne Noras Gedanken erraten, fragte sie: „Wie macht sich Frau Kürlein denn nun? Seid ihr miteinander schon warm geworden?“

„Nee!“ Noras Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. „Sie ist zickig und ungerecht. Wenn sie schlechte Laune hat – und das hat sie meistens –, triezt sie uns mit ihren unendlich vielen Aufgaben und Vorschlägen. Sie hat eine neue Vortragsreihe eingeführt. Einmal im Monat muss einer von uns ein Referat halten zu einem Thema aus der eigenen Arbeit. Stell dir vor, der arme Leo, der kaum vor drei Leuten reden kann, soll vor einem ganzen Saal was sagen. Sie will unbedingt die Besucherzahlen erhöhen, auf Teufel komm raus!“

Beim Thema Leo war Sanne zusammengezuckt, das war Nora nicht entgangen. Die beiden waren bis vor Kurzem ein Paar gewesen. Leider hatte die Liebe nicht lange gehalten. Sanne war während ihrer ständigen Auslandsreisen dem Charme eines französischen Fotografen erlegen. Nora seufzte unmerklich. Leider war auch diese Romanze schon wieder vorbei. Es wollte einfach nicht klappen mit ihrer Freundin und den Männern. Geschickt wechselte sie das Thema. „Hilfst du mir eigentlich, ein Kleid für die Hochzeit zu finden?“

„Klar, wann ist denn der Termin?“

„In drei Wochen.“ Nora war selbst erschrocken, dass es schon so bald losgehen sollte. Dann würde ihr kleines Mädchen eine verheiratete Frau sein. „Stell dir vor, Ralf hat mich gefragt, ob er mich mitnehmen soll“, schnaubte sie.

Sanne hob alarmiert den Kopf. „Du hast hoffentlich abgesagt?“

Nora erzählte ihr von dem Zusammentreffen mit ihrem Ex auf dem Reiterhof.

„Halte dich fern von ihm und vergiss nicht, was er dir angetan hat!“, ermahnte Sanne sie noch einmal. Eine steile Falte war auf ihrer glatten Stirn erschienen, ihr Mund missbilligend gekräuselt. Mit Schwung warf sie die langen braunen Haare zurück. „Wieso fährst du eigentlich nicht mit Hanna und ihrem Mann?“

„Die sind auf Rügen im Urlaub, reisen schon früher an. Nee, nee, ich fahre selbst, kein Problem. Meine Mutter will nun doch nicht mit, es ist ihr zu anstrengend.“

„Das Kleid kaufen wir nächste Woche bei Linda“, bestimmte Sanne, „das schönste, das wir kriegen können, und dann kann dein Ralf sich wieder mal in den Allerwertesten beißen, dass er dich hat gehen lassen.“ Sie hob das Glas und trank einen kräftigen Schluck Wein.

Nora schob ihren Teller von sich weg und schwieg. Sie dachte an Ralfs schlotternde Arbeitshose und seinen Bartschatten.

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„Und? Hast du einen Eintrag ins Geburtsregister über das Kind von Wilhelmine Ernst gefunden?“ Nora wippte vor Nervosität mit dem Fuß auf und ab. Ihr Schuh, den sie halb abgestreift hatte, fiel herunter.

„Leider nicht“, antwortete Bettina und schüttelte den Kopf. „Nichts. Ich habe wirklich alle infrage kommenden Jahrgänge angesehen. Mit achtundvierzig wird sie wohl kaum noch ein Kind geboren haben. Wahrscheinlich hat sie nicht in Neustadt entbunden. Da musst du wohl mal ins Evangelische Landeskirchliche Archiv nach Berlin.“

Nora hörte das Bedauern in der Stimme ihrer Kollegin. Aber in die Hauptstadt wollte sie sowieso, um einen gewissen Karl Kiesewetter aufzusuchen. Der Antiquitätenhändler, Herr Meusel, hatte ihr endlich die Adresse jenes Käufers verraten, der das „Selbstporträt als Schwangere“ bei ihm erworben hatte. Er meinte sogar, der Herr besäße noch mehr Bilder von Wilhelmine und sei am Ende selbst ein Händler. Demnach wäre es wohl kein Problem, bei ihm vorbeizugehen. „Und wie sieht es mit dem Karton der Gräfin aus?“, hakte sie nach.

„Wird heute gebracht. Ich verzeichne alles, und morgen, spätestens übermorgen kannst du kommen.“

„Danke, das mache ich. Eine Frage noch, Bettina. Hast du was über eventuelle Mitschülerinnen Wilhelmines herausgefunden?“

„Leider nicht. Genau die Akten des Lyzeums, die wir bräuchten, sind im Krieg verbrannt. Ich habe das noch mal recherchiert. Du weißt doch, ein Teil unseres Archivs wurde bombardiert. Tut mir leid.“

Dann blieb die einzige Spur wohl der kleine Nachlass der Gräfin, dachte Nora und zog ihren Schuh wieder an. Ihr Blick fiel auf den Bildschirm ihres Computers. Dort war inzwischen eine neue E-Mail eingegangen. Carlo Ernesto war der Absender. Der Name sagte ihr nichts. Sie öffnete den Text und begann zu lesen.

Sehr geehrte Frau Schönemann,

ich möchte mich für eine Ausstellung in der Städtischen Galerie bewerben. Ich zeichne vorwiegend in Kohle und Bleistift, aber auch Aquarell und Pastell, großformatig. Im Anhang finden Sie einige Fotos meiner Arbeiten. Ich würde mich freuen, bald von Ihnen zu hören. Carlos Ernesto aus Berlin

PS: Gern komme ich natürlich mit einer Auswahl meiner Blätter bei Ihnen vorbei!

Nora öffnete den Anhang. Fünf Abbildungen hatte Ernesto mitgeschickt. Es waren norddeutsche Landschaften. Sie zog die Fotos größer. Über allen Arbeiten lag eine seltsame Melancholie, ein Fernweh auslösender Sog. Nicht schlecht, dachte sie. Etliche Künstlerinnen und Künstler hatten sich schon gemeldet, die im nächsten Jahr ausstellen wollten. Aber bisher war noch niemand dabei gewesen, der Nora vollständig überzeugt hatte. Aus der kurzen Biografie, die Carlo Ernesto mitgeschickt hatte, war nicht viel zu entnehmen, nur sein Geburtsjahr und eine Auflistung seiner bisherigen Ausstellungen. Sie wusste auch nicht, ob sich Josefine Kürlein das alleinige Recht vorbehielt, zu entscheiden. Darüber hatten sie noch nicht gesprochen. Zurzeit nahm die Wilhelmine-Ausstellung Nora vollständig in Anspruch. Sie klickte auf „Antworten“:

Sehr geehrter Herr Ernesto,

vielen Dank für Ihr Angebot. Ich finde Ihre Zeichnungen sehr interessant. Wie Sie sich denken können, müssen wir aus einem größeren Kreis die Künstlerin oder den Künstler auswählen, die oder der dann bei uns im nächsten Jahr die einzige Sonderausstellung bestreiten wird. Bitte haben Sie noch etwas Geduld. Ich melde mich wieder.

Mit freundlichem Gruß

Nora Schönemann

Das sollte für heute reichen. Trotzdem musste sie sich schnellstens mit ihrer Chefin einigen. Ein Jahr Vorlauf für so eine Ausstellung brauchte man schon. Josefine Kürlein. Rätselhaft. Gestern bei der Dienstberatung war sie irgendwie anders gewesen, so ruhig und ausgeglichen, fast leutselig. Wie konnte jemand so launisch sein? Nora wurde ja auch mal wütend, aber dann machte sie sich einmal Luft und es war wieder gut. Vielleicht war ihre Chefin aber auch endlich angekommen, hatte gemerkt, dass alles prima lief und sie sich auf ihre Kolleginnen und Kollegen verlassen konnte.

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„Zeig mal!“ Hans wollte die E-Mail von Nora Schönemann unbedingt selbst lesen.

Karl stand auf und ging zum Laptop hinüber. „Bitte. Lies. Hast du gedacht, es kommt gleich eine Zusage? Klar, dass das noch dauert. Wenn sie absagen, kann ich immer noch eine andere Galerie fragen.“ Er ging zurück zum Sessel, in dem er sich zum Zeichnen niedergelassen hatte, und nahm den Bleistift wieder in die Hand.

„Was ist das für ein Porträt, das du da am Wickel hast? Wieder eine von deinen Fantasien?“ Hans schaute seinem Freund über die Schulter. Dessen Zeichenstift flitzte über das Papier und legte ein Gesicht frei. Es war das einer nicht mehr jungen Frau, die mit großen Augen in die Welt schaute. Die Oberlippe des schön geschwungenen Mundes war etwas größer und darüber prangte ein kleiner Leberfleck. Hans kniff die Augen zusammen. „Kennst du sie?“ Karl zeichnete unbeirrt weiter. „He, ich rede mit dir!“

„Nein, nein, ist nur so ’ne Idee“, murmelte Karl abwesend. Er skizzierte manchmal zum Zeitvertreib und zur Fingerübung zusammengewürfelte Bilder, wie er sie nannte. Charakteristische Merkmale verschiedener Gesichter fasste er zu einem zusammen. Was ihn faszinierte, hielt er fest. Das kurze Näschen der Bäckerin kombinierte er mit dem Mund der Postfrau und den Augen der Nachbarin. Skeptisch blickte er auf die gerade entstandene Skizze. Das Gesicht ähnelte dem Foto von Frau Schönemann, das er in einem Zeitungsartikel gefunden hatte. Er kratzte sich am Kopf und steckte den Bleistift hinter das Ohr. Da konnte man ja gespannt darauf sein, wie sie wirklich war, wenn sie schon jetzt in seinem Unterbewusstsein herumgeisterte, dachte er irritiert.

 

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Endlich hatte Nora es zum Archiv geschafft. Dauernd hielt sie jemand auf. Bald war Schließzeit, aber um den Inhalt des Kartons mit dem Nachlass der Gräfin wenigstens einmal anzuschauen, würde die Zeit noch reichen. Er stand schon auf einem Tisch am Fenster bereit. Hastig durchquerte sie den Raum und setzte sich. Heute war es ziemlich leer, nur wenige Plätze des Lesesaals waren besetzt. Wahrscheinlich hatte niemand Lust, diesen sonnigen Tag mit staubigen Akten zu verbringen. Nora war das egal. Selbst bei schönstem Badewetter wäre sie hergekommen. Fasziniert betrachtete sie das Paket. Es handelte sich um eine Hutschachtel des Kaufhauses Wertheim, die mindestens so alt sein musste wie ihr Inhalt. Vorsichtig öffnete Nora den Deckel und steckte ihre Nase in den Karton. Er roch etwas muffig, er war sicher jahrelang verschlossen gewesen. Viel war nicht darin. Sie fand ein paar Fotos von dem Stadthaus der Gräfin, die in den Zwanzigerjahren entstanden sein mussten, ein Spitzentaschentuch mit Monogramm und einen Packen mit Briefen, zusammengehalten mit einem rosa Seidenband. Vorsichtig löste Nora die Schleife. Die Briefe waren an die Gräfin adressiert, aber nicht nach Neustadt, sondern nach Budapest, Váci Straße 24. Dort musste sie mit ihrem zweiten Mann gewohnt haben. Die Váci Straße war schon damals wegen ihrer Villen und teuren Läden berühmt gewesen. Die Gräfin schien die Briefe also irgendwann hierhergebracht zu haben. Nora drehte einen der Umschläge um und starrte auf die schnörkelige Schrift des Absenders: Wilhelmine Ernst. Vor Überraschung schlug sie die Hand vor den Mund und blickte sich verstohlen um. Die wenigen Leserinnen und Leser räumten gerade ihre Sachen zusammen. In einigen Minuten schloss das Archiv. Mitnehmen konnte Nora die Briefe nicht, da halfen nicht mal ihre guten Beziehungen zu Bettina. Sie würde noch einmal wiederkommen müssen.

Die Archivarin kam ihr auf dem Flur entgegen. „Na? Zufrieden?“, fragte sie scheinheilig und blieb stehen.

„Warum hast du nichts gesagt?“, fragte Nora.

„Ich wollte dir die Überraschung nicht verderben. Aber gelesen habe ich nichts. Bin gespannt, was du herausfindest. Dann bis bald!“

Nora gab ihr die Hand. „Ja, bis demnächst!“

18

Als Nora bei der kleinen Boutique in der Sängerstraße ankam, blieb sie vor dem Schaufenster stehen und spähte hinein. Wie vermutet, saß ihre Freundin schon auf der Couch, die sonst nur den wartenden, gelangweilten Ehemännern vorbehalten war, und prostete Linda, der Inhaberin, zu. Das konnte ja heiter werden! Linda hatte den Laden erst vor einem halben Jahr eröffnet und war schon jetzt der Liebling der Kundinnen über fünfzig. Sie schaffte stets eine große Auswahl an schicken Kleidern heran, die Problemzonen und Alterserscheinungen geschickt kaschierten und trotzdem nicht wie Säcke wirkten. Außerdem führte sie außergewöhnliche, extravagante Accessoires. Sanne und Nora hatten sich schon das eine oder andere Stück gegönnt. Linda selbst war eine nicht ganz schlanke und nicht mehr ganz junge Blondine, die natürlich ihre Verkaufsmodelle selbst trug. Sie wollte ihren Kundinnen Mut machen, auch mal etwas Gewagtes anzuziehen, und stellte täglich neue Kombinationsmöglichkeiten zur Schau. Die Kleiderstangen bogen sich unter der Last der Modelle verschiedener Stoffe und Schnitte. Lederröcke aus Mailand kokettierten mit duftigen Blusen aus Brüssel. Leinenkleider aus Hamburg schwebten im Luftzug unter dem offenen Fenster hin und her. Silberne Ohrringe, lange Gliederketten mit exotischen Anhängern und Armbänder aus Edelstahl klimperten im Takt mit der leisen Musik, die aus den kleinen, versteckten Lautsprechern drang. In den Kabinen war das Licht gedimmt, sodass die Kundinnen nicht frustriert wieder herauskamen. Nicht jede konnte schließlich souverän mit ihrer Figur umgehen. Linda setzte auf das gute Gefühl, das sich bei der Anprobe unweigerlich einstellte, und bot eine ausreichende Auswahl an Konfektionsgrößen.

Mit Schwung drückte Nora die Ladentür auf und lief schnurstracks auf Sanne und Linda zu. Die beiden kreischten wie Teenager und zogen ihre Freundin zu sich auf die Couch. „He! Lasst das!“, protestierte sie. „Die Angelegenheit ist ernst. Ich bin die Brautmutter und brauche ein Kleid.“

„Entspann dich, Süße, ist schon alles erledigt. Guck mal nach vorne!“ Sanne lallte leicht. Wie viele Gläser mochte sie schon getrunken haben? Nora zog die linke Augenbraue hoch und lenkte ihren Blick auf die prall gefüllte Kleiderstange neben der Kabine. Bodenlange und kniekurze Kleider, alle mit gewagtem Ausschnitt, drängelten sich dicht an dicht. Linda hatte sie nebeneinander gehängt, sodass sie sich nicht gegenseitig verdeckten und man auf den ersten Blick sah, was einem gefiel. Nora schnappte sich ein grünes, kurzes Kleid und verschwand in der Umkleide, nicht ohne sich vorher einen Schluck Sekt zu genehmigen. Man wusste ja nie. Leider saß das gute Stück überhaupt nicht. Aber drei Schweißausbrüche später hatte sie mit Sannes und Lindas Hilfe das Richtige gefunden: einen blausilbernen Traum aus Seide mit tiefem, aber noch anständigem Ausschnitt und nicht zu kurzen Ärmeln. In der Taille war es gerafft, sodass ihre Speckröllchen geschickt kaschiert wurden. Nachdem Linda sie noch mit dem passenden Schmuck ausstaffiert hatte, verließ Nora Arm in Arm mit ihrer Freundin den Laden. Für die Hochzeit ihrer Tochter fühlte sie sich gewappnet.

19

„Und du willst wirklich in Neustadt ausstellen, Jungchen?“

Karl schmunzelte. „Ja, Oma Karla. Will ich. Hab sogar schon eine E-Mail an die Städtische Galerie geschickt.“

Seine Großmutter schüttelte den Kopf, meinte dann aber: „Vielleicht hast du recht. Wir sollten endlich mit den alten Geschichten aufhören und die Stadt nicht mehr meiden. Du wirst schon das Richtige tun und … he, lass das!“ Sie schlug nach dem Block auf seinem Schoß. „Du sollst mich doch nicht zeichnen!“

Geschickt wich Karl ihr aus und hob das Blatt, an dem er gearbeitet hatte, triumphierend in die Höhe. „Ich werde mir doch so ein Modell nicht entgehen lassen. Du wirst immer schöner, Karla“, schmeichelte er ihr. Seine Großmutter war eine große, schlanke Frau. Auch jetzt noch, mit vierundneunzig, hielt sie sich gerade und war eine gepflegte Erscheinung. Das ehemals rote Haar hatte sie zu einem üppigen Knoten am Hinterkopf zusammengesteckt. Es sah aus, als hätte sie einen Schneeball dort befestigt. Das Gesicht mit den vollen Wangen wirkte frisch und glatt wie eh und je, und die leuchtenden blauen Augen zogen ihr Gegenüber in den Bann. Karl hatte immer noch einen Heidenrespekt vor der energischen Karla. Wahrscheinlich hätte er das Experiment Neustadt sogar abgeblasen, wenn sie ihren Segen nicht dazu gegeben hätte. Seine Oma hatte ihn großgezogen, nachdem ihn seine Mutter kurz nach seiner Geburt im Stich gelassen hatte. Karla war eine ziemlich bekannte und gefragte Fotografin. Sie griff inzwischen zwar nur noch selten zur Kamera, aber wenn doch, entstand jedes Mal ein Kunstwerk, um das sich die Galeristen rissen und das die Kritiker bestaunten. Karlas Zimmer in der Seniorenresidenz war vollgestopft mit gerahmten Fotografien, die von Ausstellungen zurückkamen oder dorthin gebracht werden sollten. In den Neunzigerjahren hatte sich Karla eine Camera obscura gebaut und begonnen, den Ursprüngen der Fotografie nachzuspüren. Wegen der langen Belichtungszeiten war das Verfahren bei vielen ihrer Kolleginnen und Kollegen nicht sehr beliebt, sie aber für ihre Städtebilder berühmt geworden. Die Schwarz-Weiß-Fotos waren in einen eigentümlichen Schatten getaucht, der den Betrachter in eine frühere Zeit zurückversetzte. Über dem Motiv lag eine Melancholie, die Erstaunen oder gar Rührung hervorrief. Diese Melancholie hatte Karl sein Leben lang begleitet. Karlas Bilder waren auch früher schon so gewesen. Mit der Camera obscura hatte sie nur eine neue Dimension erreicht. Ob bewusst oder unbewusst, sie drückte damit aus, dass in ihr eine unstillbare Sehnsucht lauerte, die sie nicht zu beherrschen, eine Lücke, die sie nicht zu schließen vermochte. Karl wusste, dass das mit dem Verlust ihrer Familie zusammenhing, über den sie fast nie sprach. Ihre Mutter war bei ihrer Geburt gestorben, ihre Tochter hatte ihr sang- und klanglos ein Enkelkind dagelassen. Der Kontakt war abgebrochen, und Karla wusste nicht, ob ihre Tochter noch lebte. Ihr Ehemann hatte ebenfalls das Weite gesucht. Ihm war schon sehr früh klar geworden, dass er diese Frau weder verstehen noch ihr das Wasser reichen konnte. Na und? Sie hatten niemanden gebraucht. Zusammen waren sie unschlagbar. Karla und Karl.

Karl ließ seinen Blick schweifen. Ein ganzes Regal in dem kleinen Zimmer beherbergte die Kameras, die Karla als Künstlerin begleitet hatten. Karl hatte schon als kleiner Junge vor den Leicas und Exas gestanden und gestaunt. Er hatte seine Oma gefragt, warum „die Kamera“ weiblich war. „Weil nur Frauen mit dem Herzen sehen und dort die Bilder speichern, Jungchen“, war ihre knappe Antwort gewesen. Das hatte er sich bis heute gemerkt. Karl nahm wieder den Block und kritzelte noch schnell eine Skizze von Karla, wie sie am Fenster stand. „Wollen wir ein bisschen rausgehen? Ich kann dich auch im Rollstuhl schieben, vielleicht willst du ein paar Fotos machen?“, ermunterte er sie. Insgeheim hoffte er, sie würde ihm jetzt, am Ende ihres Lebens, mehr über ihre und seine Vorfahren erzählen. Warum hatte Karlas Großmutter ihr Kind weggegeben? Und was waren das für Leute, bei denen erst Karlas Mutter und dann sie selbst aufgewachsen war und die sie „Oma“ und „Opa“ genannt hatte? Er wusste nur, dass ihre Großeltern 1933 mit ihr Neustadt Hals über Kopf verlassen und ihr eingeschärft hatten, nicht zurückzukehren. Was war der Grund gewesen? Karl hatte einfach Angst, es nie zu erfahren.

Als Karla in eine warme Decke eingehüllt im Rolli saß und sie sich von dem Haus entfernten, fragte sie: „Und bei dir? Was macht die Liebe?“

Karl stöhnte und schritt schneller aus, so als würde er dadurch ihrer Frage entkommen können.

20

Die Luft war zum Schneiden dick. Nora hatte nicht geahnt, dass diese platte Redensart einmal auf die Stimmung in einer Dienstberatung der Städtischen Galerie zutreffen würde. Ihre Chefin thronte wie immer am Fenster hinter ihrem Schreibtisch. Das allein war schon ein Affront gegen ihr Team. Warum setzte sie sich nicht wie ihr Vorgänger zu ihren Kollegen an den runden Tisch? Hatte sie Angst vor Respektverlust? Leo hielt sichtlich den Kopf eingezogen, und selbst die immer ausgeglichene und fröhliche Andrea legte ihre Stirn in Falten. Nachdem Josefine Kürlein die schwache Zuhörerschaft bei Leos Vortrag kritisiert und anschließend in gewohnt steifer Manier darüber doziert hatte, wie die Besucherzahlen zu steigern seien, wagte Nora, das Thema zu wechseln. Sie musste schließlich wissen, wie der Ausstellungsplan im nächsten Jahr aussehen sollte. Carlo Ernesto hatte ihr inzwischen noch mehr Fotos seiner Arbeiten per E-Mail geschickt. Von allen Angeboten fand sie seine Bilder am interessantesten und spektakulärsten. Sie war davon überzeugt, dass die Gäste der Galerie sie lieben würden. Besonders die Winterbilder hatten es Nora angetan. Wie viele Farben er für Schnee verwendete, wenn die Sonne schien! Sie war gespannt auf den Maler und freute sich darauf, ihn persönlich kennenzulernen. Seine E-Mails waren jedenfalls sehr nett und unaufdringlich. Entschlossen ging sie in die Offensive: „Wenn Sie sich vielleicht mal die Fotos der Werke von Carlo Ernesto anschauen möchten, Frau Kürlein, ich habe sie auf meinem Rechner. Also, ich würde ihn gern im nächsten Jahr ausstellen.“ Die Mappen mit den anderen Bewerbern hatte ihre Chefin schon gesehen.

Doch die wischte Noras Vorschlag mit einer Handbewegung fort. „Ich habe bereits einen Kandidaten für die nächste Ausstellung, Frau Schönemann. Es ist Otto Suhrbier aus Frankfurt am Main.“

Vor Schreck umklammerte Nora den Sitz ihres Stuhls. Suhrbier war der neue Stern am Himmel der abstrakten Malerei. Er war international gefragt, aber hier in Neustadt? War das nicht eine Nummer zu groß? Hilfesuchend drehte sie sich zu Andrea und Leo um. Die blickten sie nur ratlos an. „Aber kostet das nicht zu viel?“, versuchte sie es erneut.

„Da machen Sie sich mal keine Gedanken. Das regle ich schon“, kam es gönnerhaft von Josefine Kürlein.

 

Damit war die Beratung zu Ende. Nora verließ sprachlos den Raum. Was sollte sie nun Carlo Ernesto sagen? Doch so schnell würde sie nicht aufgeben. Vielleicht wollte dieser Suhrbier ja gar nicht in der Provinz ausstellen.

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