Sammlerherz

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Nach dieser unerfreulichen Nachricht eilte Nora in ihr Büro, schnappte sich ihre Sachen und verließ die Galerie in Richtung Stadtarchiv. Sie hatte beschlossen, ganz weit wegzutauchen, nämlich in die Welt der Wilhelmine Ernst. Sie wollte endlich anfangen, deren Briefe an die Gräfin zu lesen. Nachdem sie einen der letzten freien Arbeitsplätze im Lesesaal gefunden hatte, zog sie bedächtig die rosa Schleife von dem Päckchen und öffnete den ersten Umschlag.

27. Mai 1933

Liebste Hermine,

ich hoffe sehr, dass mein Brief Dich bald erreichen wird, denn Du bist ja so oft in Budapest und ich weiß immer nicht, wohin ich meine Post schicken soll. Aber irgendwann wirst Du sie schon lesen können. Bitte melde Dich doch an, wenn Du wieder in Neustadt bist. Ich möchte Dich gern treffen. Ich bin hier so allein! Mit meiner Mutter kann ich nicht reden seit der schrecklichen Sache mit meinem Kind. Dabei ist sie ordentlich aufgeblüht, nachdem mein Vater starb. Auch die Trinkerei hat sie aufgegeben, ist aber dennoch ein altes Weib, das auf den Tod wartet. Ich weiß auch nicht, was ich noch soll auf der Welt. Als Malerin habe ich alles erreicht. Mein wackerer Galerist Brönning reißt mir die Bilder aus den Händen. Das Interesse der Käufer ist ungebrochen. Das Geld geht an eine Stiftung für junge Künstlerinnen. Ich brauche es nicht. Manchmal male ich wie besessen, dann wieder tagelang gar nicht. Mein Leben ist leer. Was wohl aus meinem Kind geworden ist? Diese Frage beschäftigt mich nun, nach so vielen Jahren. Ich hasse meine Mutter. Hüte Dich gut, Hermine, und grüß mir Deinen Ehemann.

Auf bald, Deine Wilhelmine.

Nora faltete den Brief wieder zusammen und überdachte noch einmal die Fakten, die ihr bekannt waren. Wilhelmine war also an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag nach Berlin gegangen. Da war sie wohl schon schwanger gewesen, wahrscheinlich von John O’Lally, jenem irischen Maler, den sie kurz vorher kennengelernt hatte. Über ihn hatte sie jedenfalls in ihrem Tagebuch geschrieben. Oder war noch ein anderer Mann im Spiel gewesen? Es blieb die Frage, was aus ihrem Kind geworden war. Nora beschloss, so bald wie möglich nach Berlin ins Evangelische Landesarchiv zu fahren, um herauszufinden, ob die Geburt des Kindes in einem der Kirchenbücher vermerkt war. Ihr Handy vibrierte in der Tasche. Nora nahm es heraus und ging zur Tür. Sie erntete missbilligende Blicke und machte, dass sie auf den Flur kam. Der Anruf kam von Leo. „Was gibt es denn so Wichtiges? Ich bin gerade im Jahr 1933“, versuchte sie zu scherzen.

Doch Leo klang ernst. „Nora, ich glaube, du musst wieder in die Galerie kommen. Unsere Chefin liegt im Krankenhaus.“

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Karl stand am Fenster und nieste. Verdammte Erkältung! Und gerade morgen würde er so viel reden müssen. Die Volkshochschule hatte ihn für einen Vortrag über den Impressionismus engagiert. Ob er sich lieber krankmelden und absagen sollte? Gut, dass bald Wochenende war. Er schlenderte zum Schreibtisch zurück und wandte sich wieder den Klassenarbeiten zu, die er bis morgen noch korrigieren musste. Dabei hätte er sich lieber dem Skizzenbuch gewidmet, das er bei eBay ersteigert hatte. So ein Schnäppchen hatte er schon lange nicht mehr gemacht. Offenbar hatte der Verkäufer nicht gewusst, was er besaß. Karl jedoch war, noch bevor er die Signatur der Malerin entdeckt hatte, klar gewesen, was er da vor sich hatte. Der Strich war schließlich unverkennbar. So zeichnete nur Wilhelmine Ernst. Und nun bereicherte dieses kleine Büchlein seine Sammlung. Die Skizzen waren in Paris entstanden, auf einer ihrer Studienreisen. Die Stadt war damals der Sehnsuchtsort der Malerinnen und Maler gewesen, und auch Wilhelmine Ernst hatte es dort hingezogen. Als Frau war es ihr nicht möglich gewesen, an die Universität oder Kunstakademie zu gehen. Stattdessen hatte sie mit privaten Zeichenstunden bei Professoren vorlieb nehmen müssen. Das Geld dafür hatte sie durch den Verkauf ihrer Bilder aufgebracht, wodurch sie sich schnell einen Namen als Porträtistin machte. So viel war ihm bekannt. Wenn er doch nur mehr über sie und ihre Familie wüsste! Die Bilder, die er besaß, konnten schließlich nicht reden. Das vermochte nur seine Großmutter, aber die schwieg eisern, wenn er sie darauf ansprach. Früher hatte ihn das Thema auch nicht so interessiert. Erst jetzt, mit zunehmendem Alter, wollte er alles über die Künstlerin erfahren. Sie war in Neustadt gestorben, aber das Grab existierte nicht mehr. Das hatte er schon recherchiert. Offiziell hieß es, dass sie keine Nachkommen habe. Das war natürlich Unfug. Dafür war er ja wohl der lebende Beweis. Aber warum hatte sie ihr Kind verleugnet? Fragen über Fragen. Vielleicht sollte er noch einmal nach Neustadt fahren und im Stadtarchiv forschen. Doch das ging erst in den Ferien. Möglicherweise würde er dort etwas über Wilhelmines Eltern herausbekommen. Ihre Jugendzeit und das letzte Jahrzehnt in Neustadt lagen im Dunkeln. Alle anderen Stationen ihres Malerlebens konnte er inzwischen anhand ihrer Bilder belegen. Sie hatte bis 1923 in Berlin gelebt und war von dort aus öfter zu mehrmonatigen Studienreisen aufgebrochen. Glücklicherweise hatte sie ihre Werke fast immer signiert und auch datiert, sodass er leicht nachvollziehen konnte, wann sie wo gewesen war. Er stand auf, um sich noch einen Tee zu kochen. Und dann waren endlich die Klassenarbeiten wieder dran.

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Mit Josefine Kürleins Sachen in der Tasche saß Nora wieder im Auto und fuhr in Richtung Neustädter Klinik. Als sie in der Galerie angekommen war, hatten sich ihre Kollegen noch in heller Aufregung befunden. Ihre Chefin war auf dem Flur neben dem Kopierer zusammengebrochen. Andrea hatte sie gefunden, Erste Hilfe geleistet und den Notruf alarmiert. Als Josefine Kürlein wieder bei Bewusstsein gewesen war, hatte sie den Notarzt angeschnauzt, der sie mit ins Hospital nehmen wollte, und fiel gleich erneut in Ohnmacht. Der Doktor hatte kurzen Prozess gemacht und sie von zwei Sanitätern in den Krankenwagen verfrachten lassen. Ihr Handy und ihre Handtasche waren im Büro liegen geblieben. Nun sollte also Nora die Aufgabe zufallen, ihrer Chefin die Sachen hinterherzutragen. Aber was mochte sie wohl haben? Einfach ohnmächtig zu werden! Hoffentlich war es nichts Ernstes.

Nora bog in die Straße ein, die geradeaus zum Städtischen Krankenhaus führte. Sie stellte das Auto auf dem Besucherparkplatz ab und machte sich auf den Weg. Das Gebäude war vor Kurzem saniert worden, und es hieß, dass die Zimmer sehr schön geworden seien. Die Patienten sollten sich wie im Urlaub fühlen. Die Wände waren auch nicht mehr weiß, so wie früher, sondern in einem zarten Gelbton getüncht worden. Nur den Geruch kriegen sie nicht raus, dachte Nora. Es roch wie eh und je nach Desinfektionsmittel und … Krankheit, nicht gerade wie im Hotel. Nora hastete die Flure und Treppen entlang und entdeckte endlich eine Glastür mit einem Schild: Station 23. Sie fand die Stationsschwester und fragte nach der Zimmernummer ihrer Chefin.

„Sieben“, knarzte die Mittfünfzigerin im rosa Kittel, ohne von ihrem Bildschirm aufzusehen.

Nora schloss leise die Tür und suchte das Krankenzimmer. Bevor sie klopfte, holte sie noch einmal tief Luft. Wer wusste schon, was sie jetzt erwarten würde?

Der Raum war winzig. Nur ein einzelnes Bett stand am Fenster, das einen Spaltbreit geöffnet war. Nora trat näher. Sie war sich nicht sicher, ob unter der hellblauen Decke tatsächlich ihre Chefin, die strenge Josefine Kürlein, lag. Kalkweiß und hohläugig, einen Arm mit der Infusionsnadel ausgestreckt, starrte sie an die Decke. Nora schluckte, zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich unaufgefordert. Josefine Kürleins Tasche legte sie als stumme Erklärung für ihre Anwesenheit auf den Nachttisch. Sie konnte einfach keine Verbindung zwischen der reglosen Gestalt und ihrer taffen Kollegin herstellen. Wie ein Püppchen aus Wachs, leblos und jämmerlich, lag sie da. Erschrocken suchte Nora nach Worten.

„Ich will ein Kind“, kam es tonlos vom Bett her.

Nora unterdrückte den Impuls, ihre Chefin in den Arm zu nehmen. Stattdessen griff sie instinktiv nach der Hand ohne Infusionsnadel. Sie spürte gleich, dass da noch mehr Geständnisse kommen würden, und schwieg.

„Das war heute die achte Fehlgeburt. Diesmal ging es bis zur zehnten Woche. Ich hatte so gehofft, dass ich es schaffen würde. Ich habe wirklich alles versucht! Jeden Tag habe ich Räucherstäbchen angezündet, so wie es mir eine Wahrsagerin geraten hat.“

Nora erschauderte. Ihre Chefin glaubte Wahrsagerinnen? Das war ja unfassbar!

Josefine Kürlein hielt inne und drehte endlich ihr Gesicht zu Nora. „Ich tauge einfach nichts. Ich bin nichts wert als Mutter, verstehen Sie? Mein Körper stößt einen Embryo ab. Ich bin nicht normal!“ Sie nagte an ihrer zitternden Unterlippe und versuchte vergeblich, das Weinen zu unterdrücken. Wahrscheinlich hatte sie auch jetzt noch Angst, die Kontrolle zu verlieren. Bald jedoch schluchzte sie hemmungslos.

Nora knetete ihre Hand. „Aber das ist doch nicht Ihre Schuld!“, rief sie. „Das ist die Natur!“ Sie packte ihre Chefin bei den bebenden Schultern und rüttelte sie leicht, so als könne sie diese dummen Gedanken aus ihr herausschütteln. Damit öffnete sie jedoch alle Schleusen, und aus Josefine Kürlein brach nun die ganze Geschichte heraus.

Seit zehn Jahren versuchte sie, ein Baby zu bekommen, erfolglos. Sie hatte viel Zeit bei Gynäkologen und in Krankenhäusern zugebracht, eine Fehlgeburt nach der anderen erlitten. Sie war in einer Familie mit vielen Geschwistern aufgewachsen und hatte sich schon früh Kinder gewünscht. Nach erfolgreichem Studium und der Promotion sah sie ihre Kinderlosigkeit als persönliche Niederlage an, als etwas, was sie nicht beeinflussen konnte. Nora hatte den Verdacht, dass das ihr eigentliches Problem war, etwas nicht im Griff zu haben.

 

„Was ist eigentlich mit Ihrem Mann?“

Ihre Chefin gähnte. Offensichtlich war sie sehr erschöpft. „Kommt am Wochenende. Ist auf Montage. Das macht es nicht gerade leichter.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Ich meine die Sache mit den fruchtbaren Tagen und so.“

Nora fühlte sich an ihr eigenes Elend erinnert, als sie vor mehr als fünfundzwanzig Jahren erfahren hatte, dass sie keine weiteren Kinder mehr bekommen konnte. Das erzählte sie ihrer Chefin nun.

Doch die winkte nur ab: „Aber Sie hatten schon eins! Das ist was anderes!“

„Stimmt“, gab Nora zu, „aber ich verstehe Sie, glauben Sie mir, ich weiß, wie Sie sich fühlen!“

„Danke“, erwiderte ihre Chefin und drehte sich zur Seite. Die Audienz war beendet.

Nora erhob sich und ging zur Tür.

„Wollen wir uns nicht endlich duzen?“ Josefines Stimme war kaum hörbar. Nora wandte sich verdutzt um, doch ihre Chefin sprach weiter. „Ich muss ein paar Tage hierbleiben. Vertritt mich, Nora, ich weiß, dass du das gut machst.“

24

Erst als Nora wieder in der Berliner S-Bahn saß, begann sie, sich zu ärgern. Den halben Tag hatte sie schon verplempert. Ihre Suche im Landeskirchlichen Archiv Berlin war ergebnislos gewesen. Wilhelmine hatte ihr Kind definitiv nicht hier zur Welt gebracht. Die infrage kommenden Jahrgänge der Berliner Kirchenbücher waren lückenlos erhalten. Nora hatte gründlich gesucht, aber keinen Eintrag eines unehelichen Kindes einer Wilhelmine Ernst, wohnhaft in Berlin, gefunden. Sie musste sich wohl oder übel damit abfinden, in dieser Sache nicht weiterzukommen. In der S-Bahn war es stickig. Jetzt im Juni war es richtig heiß. In ihrem Wagon saßen viele Fahrgäste, selbst um die Mittagszeit. Nora zog die Jacke aus und holte ihr Buch aus der Tasche. Sie musste noch eine Weile fahren. Hoffentlich hatte sie bei ihrer folgenden Unternehmung etwas mehr Glück. Eigentlich war sie nicht der Typ, der Leute mit einem Besuch überraschte. Normalerweise meldete sie sich an. Sie hatte auch tatsächlich bei Karl Kiesewetter, dem neuen Besitzer des „Selbstporträts als Schwangere“, angerufen, ihn aber nicht erreicht. Irgendwie drängte ihr Bauchgefühl sie dazu, es dennoch zu probieren. Vielleicht war es besser, wenn sie einfach vor der Tür stand, als wenn er vorgewarnt wäre und womöglich gar absagte. Der Antiquitätenhändler Hermann Meusel hatte jedenfalls seine Zweifel gehegt, was diesen Herrn Kiesewetter betraf. Angeblich war er verschlossen und scheu. Es konnte aber durchaus sein, dass er ein echter Sammler war und noch mehr Bilder der Malerin besaß. Dieser Hinweis allein hatte Noras Ehrgeiz angestachelt.

Die nächste Station wurde angesagt, und sie packte ihre Sachen zusammen. Die Wegbeschreibung vom S-Bahnhof zum Akazienweg hatte sie sich ausgedruckt. Nachdem sie ausgestiegen war, marschierte sie los. Nach zehn Minuten erreichte sie das Mietshaus. Es war ein dreistöckiges graues Gebäude aus den Nachkriegsjahren. Der Vorgarten sah nicht sehr gepflegt aus. Die Rosen hätten im Frühjahr geschnitten werden müssen, registrierte Nora. Sie hatten holzige Stiele, die nach einer Rosenschere schrien. Sie bemerkte zudem, dass die grüne, schwere Eingangstür halb offen war. Im Hausflur stand der Servicewagen einer Reinigungsfirma. Ein junger Mann mit Kopfhörern wischte die Treppe und trällerte vor sich hin. Er schaute gar nicht hoch, als Nora sich an ihm vorbeischob und langsam die Stufen hinaufging. In der dritten Etage entdeckte sie endlich das Namensschild von Karl Kiesewetter. Sie stockte kurz und drückte schließlich beherzt auf den Klingelknopf. Zunächst tat sich nichts, und sie wollte schon ein zweites Mal klingeln. Doch dann hörte sie es rascheln; etwas fiel zu Boden und jemand fluchte laut. Plötzlich schwang die Wohnungstür auf. Vor Schreck trat Nora einen Schritt zurück. Ein großer Mann in Jogginghose und ausgeleiertem Batman-T-Shirt stand vor ihr. Seine feuerroten Haare, die leicht mit grauen Strähnen durchsetzt waren, standen nach allen Seiten ab. Herausfordernd starrte er sie an, sagte aber nichts, denn in seinem Mund steckte ein Fieberthermometer. Nora bekam große Augen und vergaß die Worte, die sie sich in der S-Bahn überlegt hatte.

Karl Kiesewetter hob die Hände und machte „Hm?“.

Nora räusperte sich und überlegte krampfhaft, wie sie beginnen sollte. Sie hatte sich die Begegnung mit dem Sammler ganz anders vorgestellt; sich sogar ausgemalt, dass er sie hineinbitten würde. Immerhin hatte sie ja nur ein rein fachliches Interesse an der Malerin und trat keineswegs als seine Konkurrentin auf. Schließlich fand sie ihre Sprache wieder. „Herr Kiesewetter?“

„Hm.“ Er nickte und hob erneut fragend die Hände.

„Ich komme wegen Wilhelmine Ernst. Sie haben doch vor Kurzem ein Bild von ihr erworben, ein Selbstporträt.“

Er nahm das Thermometer aus dem Mund, schaute mit zusammengekniffenen Augen darauf und schüttelte den Kopf. Dann fuhr er Nora an: „Woher wissen Sie das überhaupt? Ich verkaufe es nicht weiter! Auf Wiedersehen!“ Er machte Anstalten, in die Wohnung zurückzukehren.

Nora rief ihm fast panisch hinterher: „Aber nein! Ich möchte es doch nur ausleihen! Für eine Ausstellung!“ Mutig fuhr sie fort: „Haben Sie vielleicht noch mehr Bilder?“

„Nein!“ Damit schlug Karl Kiesewetter ihr die Tür vor der Nase zu.

Na toll, dachte Nora, das hast du ja sauber hingekriegt. Doch dann konzentrierte sich ihr Zorn auf den ungehobelten Sammler. So ein Idiot! Lässt mich gar nicht zu Wort kommen. Das war ihr ja noch nie passiert! Sich so von einem Kerl abbürsten zu lassen! Wütend lief sie die Treppe hinunter. Was für ein Tag! Jetzt brauchte sie erst mal einen Kaffee, oder besser noch: einen Kognak.

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Karl kochte, und das nicht nur vor Wut. Er hatte Fieber, das fehlte noch. Mutlos ließ er sich auf die Couch fallen. Nun würde er wohl doch ein paar Tage zu Hause bleiben müssen. Das war ihm klar geworden, als er endlich seine Brille gefunden und das Thermometer abgelesen hatte. Und dann diese Frau! Den Antiquitätenhändler würde er zur Schnecke machen. Warum gab der einfach seine Adresse heraus? Wer war sie überhaupt? Hatte sich nicht mal vorgestellt. Na ja, war auch egal. Da er keine Brille getragen hatte, würde er sie sowieso nicht wiedererkennen. Irgendwas an ihr war ihm bekannt vorgekommen. War es ihre Stimme? Möglicherweise. Wegen seines Sehfehlers hatte sich sein Gehörsinn umso besser ausgeprägt. Darauf konnte er sich verlassen. Aber wo sollte er die Stimme schon mal vernommen haben? Allmählich verrauchte seine Wut, und fast schämte er sich dafür, dass er ihr die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte. Er hätte sie wenigstens fragen können, was das für eine Ausstellung war, in der sie Bilder von Wilhelmine Ernst zeigen wollte. Vielleicht würde er dann sogar noch etwas Neues über die Malerin erfahren. Zu dumm, dass er manchmal seinen Jähzorn nicht bändigen konnte. Er hatte das zwar schon besser im Griff als früher, aber gelegentlich gingen tatsächlich noch die Pferde mit ihm durch. Er hatte deswegen sogar eine Therapie gemacht, sonst hätte er seinen Job als Lehrer wohl längst an den Nagel hängen können. Die Einzige, die ihn ganz schnell wieder zur Räson brachte, war seine Großmutter. Wenn er als Kind oder Jugendlicher ausgerastet war, hatte sie ihn einfach ausgelacht. Das hatte geholfen. Auch jetzt musste er bei dem Gedanken an Karla schmunzeln. Mühsam erhob er sich von der Couch und ging statt ins Bett hinüber ins Arbeitszimmer. Einen Zeichenblock und Stifte hatte er immer auf dem Tisch liegen. Er griff danach. Dann versank er in seine Lieblingsbeschäftigung und vergaß Zeit und Raum. Eine Stunde später blickte er ungläubig auf das Resultat seiner Kritzelei: das Porträt einer nicht mehr jungen Frau mit kurzem Haar und einem Fleck über der Oberlippe. Er legte es beiseite. Eine Fieberfantasie.

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Nora war zum Reiterhof gefahren. Das Einzige, was sie von ihrer schlechten Laune heilen konnte, war ein Ausritt mit ihrem Pferd. Sie nahm ihre Sachen und lief in Richtung Sattelkammer. Aber noch kreisten ihre Gedanken um die Galerie. Bei ihrer Arbeit trat sie auf der Stelle. Sie bekam keine neuen Werke für ihre Ausstellung mehr zusammen, sie fand nicht heraus, was mit Wilhelmines Kind geschehen war, und welche Sonderausstellung im nächsten Jahr gezeigt werden würde, stand immer noch nicht fest. Josefine hatte sie zwar als ihre Stellvertreterin eingesetzt, aber Nora wagte es nicht, deren Abwesenheit auszunutzen, um Otto Suhrbier abzusagen. Andererseits wollte auch Carlo Ernesto verständlicherweise endlich wissen, woran er war. In einer sehr netten E-Mail hatte er sie daran erinnert. Ihre Chefin musste eine weitere Woche im Krankenhaus bleiben, weil sie Fieber bekommen hatte. Vielleicht sollte Nora sie noch einmal besuchen und sie rundheraus fragen. Jetzt, wo sie sich besser verstanden und sich durchaus etwas nähergekommen waren, würde sie wahrscheinlich gar nicht mehr darauf bestehen, so eine Koryphäe wie den berühmten Otto Suhrbier in das kleine Neustadt zu holen. Womöglich wäre sie nicht abgeneigt, Nora zu vertrauen und Ernesto zuzusagen. Am Montag wollte sie endlich wieder in das Stadtarchiv gehen und die Briefe von Wilhelmine an die Gräfin weiterlesen. Vielleicht erfuhr sie doch noch die eine oder andere Neuigkeit. Jetzt aber war Sonntag und sie freute sich auf den Ausritt. Hoffentlich begegnete sie nicht wieder ihrem Ex. Das konnte hier jedoch immer passieren, wenn Tiere krank wurden. Kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende gedacht, stieß sie fast mit Ralf zusammen.

„Nora!“ Er grinste unverschämt, und fast schien es ihr, als sei er erfreut über ihr erneutes Zusammentreffen.

Mit einer steifen Geste gab sie ihm die Hand und sagte nichts. Sie hasste sich dafür, dass sie nicht locker mit der Situation umgehen konnte. Aber er hatte ihr einfach zu wehgetan, und richtig ausgesprochen hatten sie sich immer noch nicht. „Und? Hast du es dir noch mal überlegt, ob du nicht doch mit mir gemeinsam zur Hochzeit unserer Tochter fahren willst?“, fragte er.

„Nein, es bleibt dabei, Ralf, ich fahre allein“, erwiderte Nora ärgerlich. Hatte sie das nicht schon beim letzten Mal deutlich gesagt? Warum wollte er sie weichklopfen? Sie würden schließlich so oder so als Elternpaar auftreten müssen, das war aus ihrer Sicht bizarr genug.

„Wir könnten uns schon mal einstimmen“, drängelte er weiter. „Vor allem sollten wir über die Vergangenheit reden.“ Er blieb stehen, setzte seine alte, braune Ledertasche, in der er Medikamente und verschiedene Notfallbestecke aufbewahrte, ab.

Die haben wir zusammen in Stockholm gekauft, schoss es Nora in den Kopf. Sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie er zielstrebig eine große Aktentasche mit silberner Schnalle aus dem Regal gezogen hatte und damit zur Kasse marschiert war. Die oder keine sollte es sein. Sie blickte ihn an und fragte sich zum wiederholten Mal, wie er wohl allein klarkam. Beim letzten Besuch in ihrem Haus hatte sie den Eindruck gehabt, dass ihm der Haushalt über den Kopf wuchs. Aber das ging sie ja nichts mehr an. Und natürlich hatte er recht. Sie sollten zu einer Normalität im Umgang miteinander finden.

„Nora, können wir diese dumme Sache nicht einfach hinter uns lassen?“ Was hatte er gerade gesagt? Dumme Sache? „Diese dumme Sache hat mein Leben zerstört, Ralf. Diese dumme Sache heißt Jana. Und möchtest du vielleicht auch deinen Sohn als dumme Sache bezeichnen?“

Er zog den Kopf ein. „So war das doch nicht gemeint, Nora. Ich weiß, dass ich schuld bin an allem, was passiert ist, aber immerhin hattest du inzwischen auch jemand anderen.“ Weiter kam er nicht.

„Lass Max aus dem Spiel!“, schrie Nora ihn empört an. „Ich hätte nie was mit einem anderen angefangen, das weißt du ganz genau! Ich habe dich geliebt.“ Ihre Stimme zitterte und sie wandte sich ab. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine Gestalt wahr. Der Rittmeister, Klaus-Dieter, näherte sich. „Lass gut sein“, zischte sie Ralf zu, der betroffen schwieg. „Wir sehen uns bei der Hochzeit.“ Damit wandte sie sich ab und begrüßte den Rittmeister.

 

Später, als sie mit ihrem Pferd den Feldweg entlanggaloppierte, schalt sie sich eine Zicke. War nicht wirklich genug Zeit vergangen? Sie konnte das Rad sowieso nicht zurückdrehen und musste das Beste aus der Situation machen. Liebte sie Ralf etwa noch? Die Frage konnte sie wohl getrost mit Nein beantworten. Seit sie ihn und Jana im Pferdestall erwischt hatte, war diese Liebe zerbröselt wie ein trockener Sandkuchen. Aber es verband sie einfach zu viel, das ließ sich nicht leugnen. Dazu gehörten ihre Tochter und dreißig gemeinsam verbrachte Jahre mit vielen Erinnerungen. Warum konnte sie nach zwei Jahren Trennung und einer neuen Liebe nicht einfach normal mit ihm umgehen? Sie zügelte Jupiter. Vielleicht ergab sich während der Hochzeitsfeier eine Gelegenheit, mit Ralf zu reden. Ihre Gedanken wanderten weiter zu ihrem unsäglichen Besuch bei Herrn Kiesewetter in Berlin. Das war auch ein Thema, bei dem man graue Haare kriegen konnte. Nachdem er sie so abserviert hatte, war sie tatsächlich in die erstbeste Kneipe gestürmt. Sie hatte sich in dem Viertel sowieso nicht ausgekannt und war in die „Ecke“ geraten, eine winzige Gaststätte mit Barbetrieb. Zielstrebig hatte sie sich an den Tresen gesetzt und einen doppelten Kognak geordert. Als das Glas vor ihr stand, hatte sie ein schlechtes Gewissen bekommen. So einen Unfug hatte sie seit ihrer Jugend nicht mehr gemacht, zumal der Alkohol ihr Problem nicht lösen würde. Aber warum nicht mal was Unkonventionelles tun? Nachdem sie die Flüssigkeit hinuntergestürzt hatte, hatte sie sich besser gefühlt und sich umgesehen. Zwei Plätze weiter war ihr ein großer, schlanker Mann in ihrem Alter aufgefallen, der sie wie eine Erscheinung anstarrte. Er hatte eine beginnende Glatze gehabt und war nicht unattraktiv gewesen. Nachdem er ihr mit seiner Kaffeetasse zugeprostet hatte, hatte sie gefühlt, wie der Kognak sich heiß in ihrem Magen ausbreitete, und ihm einen freundlichen Blick zurückgeschickt. Es schien ja doch noch nette Männer zu geben, nicht nur solche cholerischen Rüpel à la Kiesewetter. Der Unbekannte war inzwischen einen Platz näher herangerückt und hatte zum Sprechen angesetzt. Da sie nicht auf eine neue Bekanntschaft aus war, hatte sie schnell bezahlt und war zur S-Bahn geeilt.

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