Fremdsprachliches Lernen und Gestalten nach dem Storyline Approach in Schule und Hochschule

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

2.3.2.1.1 Zur Typologie: Konkrete Beispiele für den Fremdsprachenunterricht

Eine narrative Rahmenhandlung für ein Storyline-Projekt kann – je nach Lernbereich, Zielsetzung, Interesse, Alter und Sprachkompetenz der Lernenden – auf unterschiedlichste Art und Weise geschaffen werden. Da der Schwerpunkt dieser Arbeit auf dem Fremdsprachenunterricht liegt, werden nachfolgend vorrangig diesbezügliche Beispiele genannt, wobei es selbstverständlich auch möglich ist, einen Teil des Projekts im fremdsprachlichen und andere Phasen im muttersprachlichen Unterricht zu realisieren.

Generell kann jedes beliebige Thema als Aufhänger für ein Storyline-Projekt gewählt werden. Dabei kann es sich um ein Kapitel aus dem Schulbuch (Robin Hood; Space camp Florida; Life on a farm), eine Phantasiegeschichte (Aliens; Dragon Island; The enchanted forest), ein fächerübergreifendes und/oder bilinguales Thema (Life in a medieval castle; A trip across the Australian outback; Californian gold rush), die Lektüre eines Märchens (Cinderella; Snow White; Little Red Riding Hood), eines klassischen Werkes (Macbeth; Romeo and Juliet; The Great Gatsby) oder eines Jugendromans (Robinson Crusoe; Uncle Tom’s cabin; Harry Potter) handeln. Darüber hinaus kann auch ein musikalischer Beitrag1 (Phantom of the Opera von A.L. Webber; Loch Lomond von Runrig; Zombie von The Cranberries) oder ein aktuelles Thema aus der Lebenswelt der Jugendlichen (Song contest; Work and travel; Our new youth club) als Basis für eine Storyline dienen. In den meisten Fällen wird es so sein, dass sich realitätsnahe und fiktive Elemente in einem Storyline-Projekt vermischen und lediglich ein Schwerpunkt bezüglich der gewählten Unterrichtsthematik festgelegt werden kann.

 Landeskundliche Themen

Landeskundliche Themen2 eignen sich besonders auch für bilinguale Storyline-Projekte. Ob es sich hierbei um den amerikanischen Bürgerkrieg, ein umstrittenes Staudammprojekt in Indien, das Leben einer Familie in einer australischen Wüstenlandschaft oder in einer englischen Stadt im Mittelalter handelt, ist relativ unerheblich. Entscheidend ist, dass das Interesse der Lernenden durch einen geeigneten Einstieg in die Thematik geweckt wird, so dass sich eine inspirierende Geschichte entwickeln kann.

Impulse für einen Einstieg können auf unterschiedliche Weise erfolgen: Historische Dokumente wie Geburtsurkunden, Fotografien oder ein Tagebuchauszug eines US-Einwanderers, eine Wegbeschreibung oder eine historische Landkarte, ein altes Werbeplakat oder ein Gemälde, ein Bittbrief oder Hilfeappell einer indischen Familie usw. regen zu einem Brainstorming an und aktivieren somit die eigene Vorstellungskraft. Auch aktuelle Zeitungs- und Zeitschriftenartikel bieten sich für eine Vielzahl von Kontexten an. Sie lösen einerseits persönliche Betroffenheit aus und dienen andererseits als Beweismittel für die Authentizität und Aktualität des Vorfalls. Eine starke emotionale Betroffenheit kann oft über audiovisuelle Medien, also authentische Nachrichtensendungen oder Sequenzen aus Spiel- und Dokumentarfilmen, erreicht werden. Gerade das Internet bietet mittlerweile unzählige Quellen und Möglichkeiten, die selbstverständlich stets auf ihre Glaubwürdigkeit und Authentizität hin überprüft werden sollten, bevor sie im Unterricht genutzt werden. Authentische oder fingierte Reise- und Stellenanzeigen, Werbeplakate bzw. -prospekte für Produkte, Dienste und Veranstaltungen oder auch ein simples Statement der Lehrkraft (“Imagine you are engineers from L.A. who are asked to design a dam in the Colorado River area ...“) können ebenfalls als motivierende Aufhänger für eine zu entwickelnde Geschichte dienen.

 Real-life-Geschichten

Geschichten, die sich auf den eigenen Erfahrungsbereich und konkreten Lebensalltag der Schülerinnen und Schüler beziehen, wirken besonders motivierend.3 Je nach Lernalter, Interesse oder örtlicher Gegebenheit bieten sich folgende Themenbereiche für Storyline-Projekte an: eine Urlaubs- oder Studienreise, ein Besuch im Zoo oder Zirkus, die Gestaltung eines Schulhofs oder eines örtlichen Parks, die Eröffnung/Verwaltung eines Jugendzentrums oder einer Disko, der Bau eines Wohnblocks oder einer neuen Autobahnstrecke usw.4 Der Einstieg in die gewählte Thematik kann über ein real existierendes oder ein fingiertes Werbeplakat, eine Annonce, einen Direkteinstieg (“We are asked to design a new youth club ...“), eine persönliche Mitteilung (“I heard that ...“), eine persönliche Erzählung (“Some years ago I joined a photo competition. I won a trip to New Zealand ...“) oder über eine bloße Frage (“Do you think our village is attractive for tourists?“) erfolgen.

 Textbasierte Geschichten oder Phantasiegeschichten

Als Vorlage für ein Storyline-Projekt kann auch ein Buch dienen.5 Der Vorteil liegt auf der Hand: Die Geschichte muss nicht neu erfunden werden und somit erspart man sich Vorbereitungszeit. Als Nachteil könnte sich allerdings die Tatsache erweisen, dass man gedanklich zu sehr auf die „echte“ Geschichte, also den Originaltext, fixiert ist. Dienlich sind in jüngeren Klassen Märchen, auch unbekannte aus anderen Ländern, sowie Phantasiegeschichten, egal ob veröffentlicht (wie Harry Potter) oder selbst verfasst, aber auch allerlei bildgestützte Geschichten, Bilderbücher oder auch biblische Geschichten. In älteren Klassen bieten sich Texte aus dem Bereich Science Fiction oder der aktuellen Jugendliteratur (z.B. Holes) an, aber auch Klassiker (z.B. Romeo and Juliet).

Hinsichtlich der Vorgehensweise bestehen mehrere Möglichkeiten: Eine Geschichte wird im Laufe des Projekts etappenweise vorgelesen oder frei erzählt und von den Lernenden durch Dialoge, Collagen und Nebenhandlungen konkretisiert und dokumentiert. Alternativ kann lediglich der Beginn, ein markanter Ausschnitt oder auch nur das Ende einer Geschichte erzählt, vorgelesen oder per Film bzw. DVD präsentiert werden. Besonders geeignet scheinen für solche Zwecke so genannte dilemma stories zu sein, bei denen die Schülerinnen und Schüler für eine Problemsituation Lösungen finden und gegeneinander abwägen müssen. Des Weiteren können (fingierte) Annoncen, das Abspielen verschiedener Geräusche bzw. eines musikalischen Beitrags oder das Mitbringen eines geheimnisvoll wirkenden Gegenstandes (z.B. eine Flaschenpost oder Handtasche) als Einstieg in eine Phantasiegeschichte dienen, denn diese muss nicht zwangsläufig in Buchform vorliegen und bis zum Schluss als verbindliche Vorlage dienen. In der Regel sind Schülerinnen und Schüler während bzw. nach einer derartigen Storyline motiviert, die ursprüngliche Textvorlage zu rezipieren, um diese mit den eigenen Vorschlägen und Ideen zu vergleichen. Eine gute Möglichkeit also, um Literaturunterricht spannend und schülerorientiert zu gestalten!

Von Zeit zu Zeit kommt unter Kolleginnen und Kollegen die Frage auf, wie viel Phantasie und gestalterische Freiheit bei realitätsbezogenen und landeskundlichen Themen erlaubt seien. Hier kommt es zweifellos auf die Zielsetzung an: Soll schwerpunktmäßig ein landeskundlicher bzw. sachlicher Inhalt vermittelt werden, dann sollte dieser authentisch sein, das heißt, Jahreszahlen, Schauplätze und Ereignisse sollten nicht verändert werden, stattdessen sollte das Thema die Lernenden vielmehr dazu anregen, intensiv zu recherchieren. Wird dagegen ein historisches oder geographisches Ereignis „nur“ als Aufhänger für eine Storyline oder eine Nebenhandlung verwendet, dann kann großzügiger und kreativer verfahren werden.

2.3.2.1.2 Zur Dramaturgie: Einstieg – Zwischenfall – Ende

Der Einstieg entscheidet in der Regel bereits darüber, ob ein Thema akzeptiert und wie ein Storyline-Projekt verlaufen wird, deshalb sollte er bewusst gewählt werden, um die Lernenden für das Thema nachhaltig zu fesseln. Förderlich sind vorantreibende und konkretisierende Fragen wie: “What would you look like if you lived in the 18th century? What kind of clothes would you wear?“ oder “What would your home look like?“ Erfahrungsgemäß sprechen Lernende relativ bald in der Ich-Form, auch wenn sie eine Phantasiegestalt darstellen, was ein Zeichen dafür ist, dass sie engagiert bei der Sache sind (involvement principle).

Im Laufe eines Storyline-Projekts werden die Schülerinnen und Schüler durch Dilemmas und unerwartete Zwischenfälle (incidents) immer wieder zu kreativen und adäquaten Problemlösungen herausgefordert. Je nach Thema, Alter und Sprachniveau der Lerngruppe bieten sich folgende Vorschläge für zu bewältigende Situationen an:

 Eine Person wird krank, kündigt ihren Besuch an oder taucht plötzlich (wieder) auf

 Eine Person handelt in nicht nachvollziehbarer Art und Weise: sie verlässt einen Ort, wird kriminell oder anderweitig auffällig

 Ein Fest oder eine Veranstaltung soll aus einem bestimmten Grund veranstaltet werden

 Ein wichtiger Gegenstand wird verloren, zerstört, gefunden oder gewonnen

 Eine Naturkatastrophe oder ein anderes Ereignis zerstört eine Landschaft, einen Bauernhof, einen Zoobereich oder ein Zirkuszelt

 Eine Einrichtung soll eröffnet, verkauft oder geschlossen werden

 Eine folgenreiche politische Entscheidung wird getroffen

 Eine für die Menschheit bedeutsame Erfindung oder Entdeckung wird gemacht

 

Je nach Inhalt, Art und Struktur einer Geschichte kann diese ein natürliches Ende finden, nämlich dann, wenn der Problemfall gelöst wurde oder wenn die geplante Veranstaltung (z.B. Eröffnung eines fiktiven Jugendzentrums oder eines Museums) endlich stattfinden kann. In anderen Fällen werden externe Expertinnen und Experten zu einem Thema eingeladen, um zu ermöglichen, dass die schülereigenen Vorstellungen mit den tatsächlichen Gegebenheiten verglichen und – falls erforderlich – modifiziert werden können. Hier bieten sich lokale Persönlichkeiten oder auch Vereine an. Eine Expertenrunde kann sich auch aus Kollegium, älteren Klassen, Eltern oder Gästen verschiedenster Einrichtungen zusammensetzen. Im Notfall kann auch auf vertrauenswürdige Websites und E-mailkontakte zurückgegriffen werden.

Auch das Aufsuchen von Expertinnen und Experten im Sinne einer Exkursion bietet sich an. Als mögliche Ziele für Besuche eignen sich ortsansässige Betriebe, öffentliche und private Einrichtungen, geographische oder historische Sehenswürdigkeiten. Mitunter kann auch die Elternschaft oder eine befreundete Klasse als Publikum für eine Aufführung eingeladen werden, um auf diese Art das Projekt abzuschließen und gleichzeitig zu präsentieren. Im Anschluss an jedes Storyline-Projekt sollte zudem eine Reflexion und Evaluation stattfinden, um individuelle Lernprozesse und Lernerfolge bewusst zu machen und diese als Sprungbrett für das weitere Vorgehen verwenden zu können (vgl. Bell/Harkness 2006).

Fazit: Geschichten liefern einen weiten authentischen Rahmen für ganzheitliches und kreatives, soziales und emotionales, inhalts- und problemorientiertes, aufgabenbasiertes und interdisziplinäres, sprachliches und kulturelles Lernen, und sie sprechen darüber hinaus multiple Intelligenzen an (vgl. Gardner 1994; 2002; 2007). Sie ermöglichen eine Vielzahl von authentischen Rede- und Schreibanlässen und fördern somit echte, mitteilungsbezogene Kommunikation. Meine Fallstudien in Teil B sollen zeigen, ob und inwiefern dies alles auch im fremdsprachlichen Klassenzimmer realisierbar ist.

2.3.2.2 Key Questions und deren Funktionen

Wer bin ich? Warum gibt es Kriege? Gibt es einen Gott? Wie kommt es, dass die Sterne nachts leuchten und nicht herunter fallen? Kann man auf dem Mars leben? Solche oder ähnliche Fragen sind typisch für Kinder. Die Geschichte zeigt jedoch, dass auch erwachsene Menschen seit jeher Fragen an ihre bzw. in Bezug auf ihre Existenz und Umgebung stellen. Ohne diese Fragen würden die Geistes-, Human- und Naturwissenschaften vermutlich nicht existieren und sich auch nicht weiterentwickeln können.

Während Kleinkinder, sobald sie sprechen können, ihre Umgebung unermüdlich mit Fragen konfrontieren und unverzüglich befriedigende Antworten verlangen, verliert diese natürliche Art des Lernens mit Hilfe situativ verankerter Fragen im Laufe der Schulzeit leider mehr und mehr an Bedeutung: Fragen von Seiten der Lernenden werden aus Zeitgründen oft nicht oder nur oberflächlich berücksichtigt. Ferner kommt im Fremdsprachenunterricht der Aspekt der erwünschten sprachlichen Korrektheit häufig als erschwerender Faktor hinzu, der die Lernenden einschüchtert und im Laufe der Zeit verstummen lässt (vgl. Kapitel 4.3.2.1 und 4.4.2). Das schulische Frageverfahren ist darüber hinaus meist ein recht unnatürliches und im wahrsten Sinne ein fragwürdiges Unterfangen, das Vos (1992, 1) mit humorvollen Worten charakterisiert: “‘He who asks questions will be a wise man’. (...) It is an old saying. For nowadays we know, that she who asks questions will become wise too. Maybe even wiser. He or she, (...) teachers ask most of the questions. The children provide the answers. That is why a teacher is wiser than children“.

Im Rahmen der Storyline-Arbeit sind Fragen in Form der so genannten Schlüsselfragen (key questions) von essenzieller Bedeutung, denn sie dienen als zentrales, lernzielorientiertes Planungs- und Strukturierungsinstrument für ein gesamtes Unterrichtsprojekt und leiten die einzelnen Episoden und Abschnitte einer Geschichte ein. Key questions werden im Gegensatz zum üblichen Unterrichtsverfahren nicht in Form von Suggestivfragen (display questions) gestellt, um nachträglich die längst bekannte „richtige“ Antwort zu erhalten, die von der Klasse in einer Art Ratespiel zu liefern ist, sondern sie werden aus einem wirklichen Interesse heraus gestellt und fordern zu kreativen, breitgefächerten Lösungen, innovativen Ideen, plausiblen Hypothesen und zum stetigen Nachdenken, Recherchieren und Weiterfragen heraus. Sie haben somit für alle Beteiligten eine echte Fragefunktion (referential questions). Dabei geht es zunächst um ein “asking for experience“ (Ebd., 11) und weniger um ein “asking for knowledge“ (Ebd.).

Schülerinnen und Schüler besitzen oft einen ungeahnt umfangreichen Wissensschatz. Gerade deshalb ist es sinnvoll und gleichzeitig erforderlich, dass die persönlichen Erfahrungen konstant in das Unterrichtsgeschehen einbezogen werden, um eigene (und fremde) Wissenskonstruktionen bewusst zu machen, zu reflektieren und gegebenenfalls zu reorganisieren. Typische enggefasste bzw. geschlossene Schulfragen im Stil von “Where exactly do gorillas live?“ oder “What did Viking ships look like?“, bei denen es um das detaillierte Abfragen bzw. Reproduzieren von Faktenwissen geht, animieren die Befragten meist eher zu schweigendem Schulterzucken als zu spontanen Äußerungen. Die offenen key questions bei Storyline dagegen (z.B. “Where do you think gorillas might want to live?“ oder “What do you think a Viking ship looked like?“) zielen verstärkt auf das Einbringen von persönlichen Erfahrungen, Vorwissen und Vorstellungen ab und regen die Lernenden zur aktiven Beteiligung, zum stetigen Reflektieren und fundierten Begründen an.

Ein wichtiges Prinzip des Storyline-Modells besteht darin, stets den Bezug vom Unterrichtsthema zur konkreten, heterogenen Lebenswirklichkeit der Lernenden herzustellen. Somit zählt es zu den Aufgaben der Lehrkraft, diese Verbindung immer wieder neu zu knüpfen, und zwar mit Hilfe von persönlichen Fragen wie “What would you do if ...?“ oder “How would you feel when ...?“. In diesem Sinne gibt es bei Storyline kein dualisierendes Denken mit den binären Kodes richtig/falsch, gut/schlecht und entweder/oder. Es gibt also niemals nur eine einzig richtige Lösung, aber auch keine komplett falschen oder unlogischen Antworten auf eine Frage, da die Lernenden ihre jeweils individuellen Vorstellungen und Wirklichkeitskonstruktionen äußern, die sich aus ihren spezifischen Erfahrungen und Wissensaneignungen (Interimswissen) speisen. Diese können durchaus konträr und ungewöhnlich sein und somit gerade deshalb zu stimmigen Begründungen und neuen, authentischen Fragen herausfordern, so dass zuerst formulierte Antworten unter Umständen zu einem späteren Zeitpunkt revidiert oder modifiziert werden (müssen). Doch zunächst werden alle Beiträge als eigene Wissenskonstruktionen (subjektive Theorien) anerkannt und als Ausgangspunkt für weitere Investigationen und Fragestellungen betrachtet.

Nicht die möglichst korrekte Reproduktion fremden Wissens ist also das Ziel der Storyline-Arbeit, sondern die Aufdeckung individuell bedeutsamer Wissenskonstruktionen und der persönlichen mentalen Modelle durch learning by discovery. Aus diesem Grund werden die Lernenden immer wieder dazu ermuntert, Fragen zu formulieren, ihre individuellen Vorstellungen und Ideen zu äußern sowie eigene Hypothesen aufzustellen, und zwar bevor sie sich an der Wirklichkeit orientieren und bevor sie mit den tatsächlichen Gegebenheiten konfrontiert werden. Das Prinzip lautet: “First you do the work yourself, then you compare it with reality. This is a consequence of the ‘structure before activity’-principle (...); children should be looking around with educated eyes“ (Vos 1991, 93).

Spätestens am Ende eines Storyline-Projekts haben die Lernenden in der Regel eine Liste mit echten, ungelösten Fragen zusammengestellt. Ihr Wissensdurst drängt sie, diese von geladenen Expertinnen und Experten beantwortet zu bekommen oder sie im Rahmen eines Unterrichtsgangs an den realen Gegebenheiten zu verifizieren: “What’s different from our farms and a real farm?“, “What’s better on our farms?“, “What could be improved on the real farm?“. Auf der Basis langjähriger Storyline-Erfahrung bewertet auch Björg Eiriksdóttir (2001) die Qualität dieser grundsätzlich anderen Vorgehensweise als äußerst positiv für die Lernenden: “I think this is so effective and the children are often so pleased when they realise that their model is right or even better than the real thing“ (Ebd., 149).

Um nachhaltiges Lernen mit hohem Transferwert zu gewährleisten, müssen auch thinking skills (Frame 2001; 2007), also verschiedene metakognitive Strategien entwickelt und gefördert werden, wie dies im Rahmen von Storyline-Projekten auf vielfältige Art und Weise geschieht: Die offenen Schlüsselfragen fördern das problemlösende und divergente Denken, das eigenständige und zielgerichtete Recherchieren sowie das hypothesengeleitete und kreative Experimentieren; sie unterstützen demzufolge die Lernenden beim Erwerb und bei der Strukturierung ihres Wissens und machen sie zudem neugierig für neue Fragestellungen und Lernbereiche im Sinne des lebenslangen Lernens.1

Key questions stellen für Lehrende immer eine Herausforderung dar: “The teacher knows what the questions are but cannot be certain exactly how the children will respond“ (Harkness/Håkonsson 2001, III). Gerade der Auftakt einer Geschichte zählt somit zu den besonders sensiblen Phasen innerhalb einer Storyline und das Stellen guter Fragen bedarf der Übung. Vos (1991) hebt in diesem Zusammenhang hervor, dass es nicht sinnvoll sei, eine Storyline durch einen informativen Einstieg (advance organiser) zu eröffnen: “It ruins the adventure“ (Ebd., 93). Frame (2001) dagegen behauptet mit Recht, dass dies nicht zwangsläufig der Fall sein muss, sondern dass Lernprozesse sogar erfolgreicher verlaufen können, wenn die Zielsetzungen explizit formuliert wurden: “New understandings about how the brain operates suggest that many learners need an overview to be able to see the ‘big picture’ to help them locate what they learn“ (Ebd., 44). Allerdings ist zu beachten, dass ein Storyline-Projekt in erster Linie von den diversen unvorhersehbaren Ereignissen und Überraschungsmomenten lebt: “This is a powerful motivating factor that keeps the ‘line’ fresh, and helps to ensure continuing interest and enthusiasm“ (Bell/Harkness 2006, 35). Es sollte also auf eine gute Balance zwischen Überblick/Mitbestimmung und Überraschung/Spannung geachtet werden.

Zu den Hauptaufgaben der Lehrenden gehört also, eine Geschichte so vorzustrukturieren, dass sie zu einer Kette von Fragestellungen und kreativen Problemlöseverfahren anregt sowie zahlreiche Gelegenheiten für Interaktionen und das Trainieren verschiedener Fertigkeiten bietet (Bell 1995a). Somit gelten die key questions als Grundgerüst für sämtliche Aktivitäten innerhalb eines Storyline-Projekts und als Steuerungsmechanismus im Sinne von structured freedom: “Thanks to the story, you ask the questions in a natural way. The story dresses the questions“ (Vos 1992, 15). Key questions können im Unterricht gegebenenfalls noch weiter ausdifferenziert und auch als Impuls (Aussage/Aufforderung) geäußert werden: “Imagine you meet ...“ oder “Let’s see how ...“.

Gute Schlüsselfragen zeichnen sich dadurch aus, dass sie bei den heterogenen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler ansetzen, eine Vielzahl von kreativen und auch innovativen Lösungen zulassen, divergentes Denken fördern sowie zahlreiche sinnstiftende Aufgabenstellungen und neue, herausfordernde Fragen und Aktivitäten nach sich ziehen. Durch die Tatsache, dass nicht fremdes, sondern eigenes (also bekanntes) Wissen und eigene Fragestellungen im Vordergrund stehen, fühlen sich die Lernenden sicher, akzeptiert und ernstgenommen. Selbstvertrauen, emotionales Engagement und Lernbereitschaft werden somit positiv beeinflusst.

Arbeitsbezogene Fragen wie “What do you think should be done next?“ können darüber hinaus auch als Strukturhilfe fungieren und die Lehrkraft von organisatorischen Aufgaben entlasten. Ferner erkennen die Lernenden Sinn und Funktion ihrer Aktivitäten besser, wenn sie diese nicht als von außen auferlegt erfahren: “Interviews are conducted or letters are written because of a need not because the teacher tells the children (...) to do so. These functional tasks engender feelings of ownership and responsibility“ (Frame 1992, 64). Das Geheimnis scheint folglich darin zu liegen, zum richtigen Zeitpunkt zu erkennen, wann Anleitungen und Unterstützung erforderlich sind, denn nur dann kann das collaborative storymaking für beide Seiten zu einem positiven Erlebnis werden, wenn die Lernenden ganz bei der Sache sind.

 

Die fiktive Rahmenhandlung eines Storyline-Projekts bietet viele Möglichkeiten für kontextualisierte Fragen, darüber hinaus stellte Erik Vos (1992) in Kooperation mit Barbara Frame ein umfassendes Repertoire an allgemeinen Frageverfahren zusammen, die flexibel und themenunabhängig eingesetzt werden können (z.B. cliffhanger). Key questions können meist nicht auf Anhieb umfassend beantwortet werden. Deshalb muss auch stets eine key silence eingeplant werden. Ein Storyline-Projekt ist nur dann für beide Seiten gewinnbringend, wenn die Lehrkraft die Entscheidungen der Lernenden ernstnimmt, ihre Arbeiten respektiert und Geduld gegenüber zu vollziehenden Lernprozessen aufzeigt (mutual respect). Wenn Lehrende echte Fragen stellen, geben sie einen Teil der Verantwortung an die Schülerinnen und Schüler ab, indem sie ihnen auftragen, selbstständig Hypothesen zu formulieren und entsprechend plausible Antworten und Lösungswege zu finden. Die Lernenden beginnen somit, ihr Lernen zunehmend lehrerunabhängig zu gestalten, während die Lehrkraft mit Hilfe von topic plan und key questions die Lernenden sicher zu führen und zu begleiten vermag: “The teacher holds the ‘line’ while the pupils tell the ‘story’“ (Harkness 2007, 20). Ob und inwiefern die aufgeführten Aspekte und Ziele auch beim fremdsprachlichen Lernen realisiert werden können, sollen meine Untersuchungen zeigen (vgl. Teil B).