Liebe auf den zweiten Blick

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Hier möchte ich alt werden

Birgit Bücker

Vor allem seit ich in St. Gallen bin, wo vor ein paar Wochen mein neues Engagement begann, liebe ich Karlsruhe so richtig und habe Heimweh. Neuerdings finde ich alles schön in Karlsruhe, sogar die Baustellen, und die Bausünden finde ich „liebenswert“ und ziehe sie der „Märchenlandschaft“ von St. Gallen vor. Heute fiel mir auf, dass sogar der Himmel über Karlsruhe besonders ist und manchmal dem Himmel am Meer gleicht, weil er so schnell wechselt.

Das sagt eine Heimwehkranke, die vom Theater Baden-Baden in die Schweiz an das Theater St. Gallen abgeworben wurde, um beim Neuanfang der Schauspielsparte dort unter neuer Leitung mitzumachen. Und das mit 60 Jahren. Das ist ein kleines Wunder, ein Geschenk des Himmels; wo doch zum Beispiel am Freiburger oder Heidelberger Theater 40-jährige schon die Ältesten im Ensemble sind und möglicherweise Großmütter spielen müssen.

Nie hätte ich es für möglich gehalten, so von Karlsruhe zu schwärmen. Die ersten fünf Jahre lang wollte ich nur weg aus dieser Stadt.

Ich kam aus München vom Bayerischen Staatsschauspiel, dem „Resi“.

„Bilde dir bloß nicht ein, dass du bei uns ein Festengagement bekommst. Das bekommt hier keiner, der nicht jahrelang nur an großen Häusern mit großen Regisseuren gearbeitet hat“, sagte ein Regisseur. Aber die Geschichte strafte ihn Lügen, denn bald danach erhielt ich am Residenztheater ein Angebot für einen zweiten Stückvertrag und damit ein Festengagement! Ich, die Schauspielerin, die aus der Provinz gekommen war, zuletzt aus Castrop-Rauxel! Es war die Rolle der jüngsten Nichte in dem Stück „Der gute Mensch von Sezuan“. Ich beging einen der beiden größten Fehler meines Berufslebens. Ich wollte nicht und sagte ab!

Durch Wolfram Mehring kam ich dann ans Badische Staatstheater, wo er drei griechische Tragödien aufführen wollte. Er bestand darauf, dass er dieses Projekt nur mit mir und einer anderen Kollegin, die auch dazu engagiert werden sollte, realisieren wollte. In den „Troerinnen“ spielte ich jeweils mit Maske die zwei Männerrollen, die Kollegin die begehrten Rollen der Kassandra und der Helena.

Das waren meine Karlsruher Anfänge. Zwölf Jahre war ich hier am Staatstheater fest engagiert. Lange blieb ich fremd in dieser Stadt. Die „Fremdheit“ wurde mir z. B. beim Sprachgebrauch deutlich bewusst, als ich in meiner ersten Wohnung in der Augartenstraße im Nebenzimmer zwei Spezialisten für Ofenrohre miteinander verhandeln hörte: „Do nuff, do niwwer, do nai!“ Und die Frage des anderen: „Do niwwa? Do nuff? Do nai?“ Das war wie eine Fremdsprache für mich, eine Westfälin aus Münster; von denen behauptet wird, dass man erst sechs Scheffel Salz mit ihnen essen muss, bevor man mit ihnen warm wird. Ich glaubte damals nicht, dass ich mich hier jemals zu Hause fühlen würde.

Wie oft hatte ich das Gefühl: Nichts wie weg aus Karlsruhe! Dann wurde ich schwanger und peu à peu lernte ich die „Karlsruher Kinderwelt“ kennen: Krabbelgruppen, den tollen Hebammenverband „Geburt und Leben“ und später, als mein Sohn Fritz älter war, das besondere Figurentheater „Marotte“. Für alles hatten wir Zehnerkarten: Für die „ Marotte“, das Tullabad, eine Jahreskarte für den Stadtgarten und andere Einrichtungen. Ja, mein Verhältnis zu Karlsruhe änderte sich, als mein Sohn hier geboren wurde. Er ist ein „Karlsruher Kind“.

Fritz hatte das Glück, die Montessorischule in der Gartenschule zu besuchen und danach das Bismarck-Gymnasium, wo er in der fünften Klasse in einem seiner ersten Aufsätze die Note „eins“ erhielt, obwohl er 89! Rechtschreibfehler gemacht hatte. Seine Deutschlehrerin lobte trotz der vielen Fehler sein erzählerisches Talent und seine Phantasie. Während ich in dieser Zeit große berufliche Belastungen hatte, versuchte ich alles an Energie und Geduld aus mir herauszuholen, um mit Fritz auch noch spielerisch und lustig Diktate zu üben.

Mit Fritz habe ich sogar meine Liebe zu Latein entdeckt, das für mich als Schülerin ein Grausen war. Und das in einer herausfordernden Zeit, als ich Aquise in eigener Person machen und wirklich über meinen Schatten springen musste. Klinkenputztouren, zum Beispiel bei Castingfirmen. Das hieß im Klartext: „Ich bin gut, nehmen Sie mich!“

So habe ich unter anderem in einigen „Tatorten“, im „Polizeiruf 110“ und in der „Soko Köln“ mitgewirkt. Ich hatte das Glück, schon seit zwei Jahren in der Fernsehserie „Die Fallers“ mitzuspielen. Die Rolle der Margarete Markhardt-Siegel, die mit Haaren auf den Zähnen angelegt ist. Eine Frau, die mit der Tür ins Haus fällt und alle nervt, eine Grüne und engagierte Lehrerin. Einer meiner Kollegen nennt mich heute noch meinem Rollennamen nach „MKS“, was allerdings Maul und Klauenseuche bedeuten soll.

Hier fällt mir der zweitgrößte Fehler in meinem Berufsleben ein: Mein festes Engagement am Badischen Staatstheater wurde nach zwölf Jahren nicht verlängert, weil die Intendanz wechselte, und ich lehnte das Angebot ab, im ersten Stück als Gast im Schauspiel mitzuwirken. Ich wollte einen Schnitt machen.

Acht Jahre lang war ich anschließend „freischaffende Künstlerin“. Ich hatte mir geschworen, ohne jedes Hintertürchen, dass ich meinen Sohn und mich von meinem Beruf ernähren würde. Keine leichte Aufgabe. Manchmal verdiente ich in einem Monat dreimal so viel wie im Festengagement, aber es gab auch Monate, in denen ich gar nichts einnahm. Ich wurde zum Glück immer wieder vom Staatstheater und anderen Stellen als Gast für interessante Aufgaben, wie z. B. die Erzählerin im Ballett „Scheherezade“ und als Mitwirkende in fünf Opern, engagiert. Dadurch hatte ich das Glück, die ungeheure musikalische Kraft der Sänger und des Orchesters kennenzulernen. Ein sehr schönes Erlebnis!

Zu meinen Lieblingsprojekten gehörten die musikalisch-literarischen "Führungen" mit den Musikern Uli Kofler und Rainer Möhringer durch die Künstlermesse, der wir, mit dem Publikum durch die Räume wandernd, ernste, schräge, überraschende, verstörende, amüsante „Farbtupfer“ aufsetzten. Und auch meine eigenen Produktionen in der „Insel“ wie: „Neu(e)rosen „ oder „Ich bin eine Frau, holt mich hier raus“ wieder mit Uli Kofler. Beim allerersten Auftritt meines ersten Soloprogramms lachte das Publikum schon, bevor ich den Mund aufmachte, obwohl ich vorher so aufgeregt war, dass ich die roten Flecken an meinen Beinen unter einer schwarzen Strumpfhose verbergen musste.

Nicht vergesen will ich das Stadtinszenierungsprojekt in der Südstadt „Le Città invisibile“ an ungewöhnlichen Orten, wie zum Beispiel dem Automuseum in der Werderstraße. Ich dachte mir in meiner alten Isetta spannende Mafia-Geschichten aus, flocht italienische Schlager ein und immer mehr Menschen blieben stehen und ließen sich mitreißen.

Im alltäglichen Leben Lösungen zu suchen, nicht aufzugeben, neue Ziele zu setzen – dafür habe ich in meiner buddhistischen Praxis und Philosophie eine wunderbare Basis.

Einer meiner Lieblingssätze ist z. B. danach zu streben, Meister seines Herzens zu werden und sich nicht von seinem Herzen „meistern“ zu lassen.

Was für ein Geschenk, dass mir mit 6o Jahren nochmals ein Neuanfang angeboten wurde! Ich habe meine Karlsruher Wohnung zum Teil an Holger aus dem Bioladen am Werderplatz vermietet. Ich werde sie nicht aufgeben, denn ich will zurück in die mir so lieb gewordene Südstadt. Zu meinem inzwischen „geliebten“ Karlsruhe gehören natürlich besonders meine Freunde und das buddhistische Netzwerk mit vielen einzigartigen Menschen, die sich wie ich für den Frieden einsetzen.

Übrigens, auch der Blick aus meinem Küchenfenster in den Hof in der Schützenstraße gehört zu meinem Heimatgefühl. Und der Karlsruher Himmel. Ich fühle mich geborgen in dieser Stadt. Schon jetzt habe ich Heimweh nach meiner Südstadt, wenn ich in der Schweiz bin.

„St. Gallen“, hat mir eine Freundin erklärt, „das ist nur ein dreijähriger Ausflug für dich.“ Das tröstet mich. In Karlsruhe möchte ich nämlich lieber alt werden!

„True love“

Günther und Georg

Im Theaterfoyer strömt mir eine heiter gestimmte Menschenmenge entgegen, festlich gekleidet und in anregendem Gespräch vertieft. Händel-Festspiele 2016. Die Frau an der Garderobe im Kleinen Haus klärt mich auf: „Teseo“, sagt sie und lächelt. „Die sind alle ganz begeistert.“

Ich bin auf dem Weg zu einem französischen Gastspiel und gönne mir noch vor der Vorstellung ein Gläschen Sekt. Plötzlich steht Georg neben mir. Er sieht erschöpft aus.

„Wo ist Ihr Freund?“, frage ich und habe das Gefühl, dass irgendetwas anders ist als sonst.

Georg und Günther sind ein theaterbegeistertes Paar. Keine Premiere im Kleinen oder Großen Haus, ohne die beiden Freunde. Wo der eine ist, findet man auch den anderen.

„Was ist passiert?“

„Mein Freund ist am 11. November verstorben“, sagt Georg. „Ich wollte noch so viel für ihn tun. Er wünschte sich z. B., dass das Schränkchen, in dem er viele kleine Dinge seit seiner Kindheit aufbewahrte, aus dem Keller wieder in die Wohnung zurückkommt. Ich hätte es ihm hochtragen sollen. Und dann seine Autogrammsammlung, auf die er so stolz war, die auch noch im Keller lagert. Hätte ich ihm die kleinen Wünsche nicht noch erfüllen können?“

„Jeder Tod hinterlässt Vorwürfe“, sage ich.

Hat Georg nicht alles getan, was man für einen Freund, mit dem man 31 Jahre lang zusammengelebt hat, tun kann?

Mir fällt die erste Begegnung mit seinem Partner Günther ein, als ich in der Markgrafenschule vor einer Klasse mit Ausländerkindern aus meinem Buch „Anton, der Eisbär“ vorlas. Günther J. wie er geschrieben werden wollte (mit „J“ für seinen Opa Johann), betreute die Kinder und wir alle ließen uns begeistern von dem kleinen Anton aus dem Karlsruher Stadtgarten. Wie gut der Lehrer doch mit seinen Schülern umging.

 

Seit dieser ersten, näheren Begegnung wechselten wir manchmal, wenn wir uns im Theater trafen, ein paar Worte miteinander. Günther sparte nicht mit Kritik, aber manchmal war auch seine Begeisterung für die Aufführung einer Oper, eines Balletts oder Schauspiels mitreißend. Georg, der junge Freund, hielt sich bei solchen Gesprächen meist zurück, auch dann, wenn die beiden umringt waren von ihren Freunden.

„Manchmal musste ich ihm aber auch widersprechen, ganz einfach, um ihn wieder auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen“, schmunzelt Georg.

Oft ergab sich daraus ein munteres Hin und Her, was dann für alle Zuhörer eine riesen Gaudi war.

„Der Günther wollte immer das letzte Wort haben. Der konnte reden ohne Ende, und er war ja auch gescheit und gebildet, hat in Heidelberg und Wien an der Universität studiert, u. a. bei dem Mediavistik-Papst Wapnewski, und konnte stundenlang über das mittelhochdeutsche Nibelungenlied sprechen und daraus auch rezitieren.

Für mich war er ein Sprachgenie mit seinem „Queens Englisch“, wie er das nannte, denn er hat längere Zeit in London gelebt und dort auch am Opernhaus „Covent Garden“ hospitiert. Er sprach gut Französisch und dank seiner Lateinkenntnisse ganz passabel Italienisch. Ja, die Italiener, die standen seinem Herzen ganz nahe. Italien über alles. Sogar die Eier waren dort besser als in Deutschland, nicht nur die Tenöre und die großen Sängerinnen. Wir haben sie fast alle in Natura gehört. Aber die Griechin Maria Callas, die Callas, war seine große Liebe, er bewunderte sie unendlich. Er war darin einem Freund aus Heidelberger Tagen, dem vor einigen Jahren verstorbenen Filmemacher Werner Schroeter, eng verbunden.

Die Italiener mochten ihn, wenn er mit seinem Veroneser Akzent ihr Loblied sang. „Mio passoporto e tedesco, ma mio cuore e italiano!“

„Mein Pass ist deutsch, aber mein Herz ist italienisch!“, pflegte er dann voller Begeisterung zu sagen, wenn wir in der Mailänder Scala oder bei den Festspielen in Verona waren.

Der Günther war ein richtiger ‚Menschenfischer‘. Wenn er jemanden mochte, hat er ihn sich gleich einverleibt und wo Günther auftauchte, eroberte er die Herzen der Menschen. Meistens suchte er um jeden Preis den Kontakt mit den Künstlern und wollte unbedingt einen Blick hinter die Kulissen werfen.

„Das war ziemlich anstrengend für mich, auch schon vor vielen Jahren, als er zeitweise mit dem grauen Star zu kämpfen hatte. Ich musste ihn damals auf jede auch noch so kleine Unebenheit aufmerksam machen und reichte ihm den Arm. Später, nach einer nicht ganz erfolgreich verlaufenen Hüftgelenksoperation, musste er am Stock gehen. Da ging schon nicht mehr alles von alleine. Als der Stock nicht mehr ausreichte, ging Günther, der immer Schmerzen hatte, am Rollator und das ganz langsam. Darauf folgte der Rollstuhl, den er selbst praktisch nicht bewegen konnte, da er die Kraft nicht mehr dazu hatte. Ich schob ihn darin überall hin. Zu den Ärzten, auch in unseren heiß geliebten zoologischen Stadtgarten und natürlich ins Theater. Endlich konnte ich das Tempo wieder einmal bestimmen! Deshalb schaffte ich auch eine Klingel an, um die trödelnden Leute zu verscheuchen, die so einem Rollstuhl ja immer im Wege sind.

Als es schlimmer wurde mit der nachlassenden Gesundheit und ich am Rande meiner Kräfte war, begann der Marathon durch die Karlsruher Heime. Zunächst mehrmals auf der Suche nach einem Kurzzeitpflegeplatz. Und nach einem langen Krankenhausaufenthalt ging es nicht mehr zu Hause. Zunächst im ‚Haus Karlsruher Weg‘ und dann, nur wenige Minuten von unserer Wohnung entfernt, im ‚Friedensheim‘, wurde er liebevoll aufgenommen. Das war auch nicht leicht. Jeden Abend besuchte ich ihn dort. Am Wochenende holte ich ihn zum Kaffeetrinken und Abendessen nach Hause. Und wenn die anderen Heimbewohner für die Nacht fertig gemacht wurden, dann fuhr ich mit Günther ins Theater. Von der Stadt gab es zum Glück freie Taxifahrten. Für die vielen Transporte vom ‚Karlsruher Weg‘ ins Theater waren uns Herr Ayanoglu und seine Mitarbeiter eine sehr zuverlässige und vertrauensvolle Hilfe. Um dem Heimpersonal etwas behilflich sein zu können, lernte ich, Günther vom Rollstuhl ins Bett zu bringen.“

Der etwas zurückhaltende, zwanzig Jahre jüngere Georg, der nicht so gerne im Mittelpunkt stand und dem es peinlich war, wenn sein Freund, als er noch gesund war, im Theater mit erhobenem Haupt und selbstbewusst einen der Plätze in den vorderen Reihen einnahm, lernte für seinen Freund zu kämpfen.

„Der Günther stand gern im Mittelpunkt. Damals, als er im Theater immer nach vorn ging, ließ ich mich auch mitziehen. Eines Tages gab’s dann mal einen Brief vom Verwaltungsdirektor, der uns darüber aufklärte, dass nur die gekauften Plätze eingenommen werden dürfen und diese über die ganze Vorstellung beizubehalten seien. Mir war das furchtbar peinlich. Aber der Günther hat den Brief einfach zerrissen! Ihm war es ganz egal, was andere über ihn dachten, er war total unkonventionell. Heute ist das ja anders im Theater, denn wenn’s mal ganz schlecht verkauft ist, wird man sogar aufgefordert nach vorne zu gehen. Ja, so war der Günther.

Es gibt da eine Anekdote aus seiner Zeit als Lehrer im schwäbischen Aichhalden im Schwarzwald. Als er an einem Sonntagmorgen die Fenster in seiner Wohnung putzte, fragte ihn eine Frau: ‚Ganget se net in d’Kerch?‘ Und der Günther antwortete selbstbewusst und provozierend: ‚Nein, ich gehe ins Theater, da werden ähnliche Bedürfnisse befriedigt!‘

Ich erinnere mich noch, wie er schon ziemlich krank war und im Rollstuhl saß. Christa Ludwig kam nach Karlsruhe zur Opernklasse. Sie war sehr direkt mit ihrer Meinung und nicht einfach im Umgang, eine Diva halt. Dann wollte er anschließend zum Empfang, der eigentlich nur für geladene Gäste gedacht war. Ein Glück, dass Peter Spuhler uns das ermöglichte. Dort unterhielt er sich großartig und plauderte ungeniert mit der Sängerin über die alten Zeiten an der Wiener Staatsoper, an der er ja auch hospitiert hat. Theater, das war unsere Leidenschaft und Günther hielt sich für den Mittelpunkt der Welt. Er hatte einen Wunsch, und ich versuchte ihn zu erfüllen. Und als er unbedingt bei den Salzburger Festspielen dabei sein wollte, aber nicht mehr so gut laufen konnte, da habe ich mir ein Klappfahrrad gekauft. In Salzburg fuhr er dann mit dem Rad und ich rannte nebenher. Das war ein Bild für Götter und meiner Figur tat das gut! Dafür gab’s am Abend für mich eine ‚Mehlspeis‘ extra! Wir fielen auf, wie der sprichwörtliche ‚Rossbollen auf der Autobahn‘, aber was taten wir nicht alles für die Musik. Ich habe mir doch auch schon als 14-Jähriger an Weihnachten die Concerti Grossi von Händel gekauft. Das gefiel mir, aber damals auch Schlager und die Operettenmusik aus der Musiktruhe meiner Eltern. Wir lebten in Offenburg, fuhren mit dem Bus ins Karlsruher Theater und ich schmolz dahin, als Anton de Ridder ‚Komm in die Gondel mein Liebchen ...‘ sang.

Später hat sich mein Geschmack geändert. Die Richarde haben es mir angetan! Zunächst lernte ich den Wagner zu schätzen. Meine große Liebe wurde aber Richard Strauss. Aus seinem Werk und damit verbundenen Zahlen schöpfe ich sogar die Kombinationen für die vielen Passwörter, die man heute braucht. Dann kam natürlich Mozart dazu und mit Günther die Italiener und überhaupt alle anderen.

Ich denke zurück an die Zeit vor sechs Jahren, als sich Günther einen Oberschenkelhals-Bruch zuzog und seine Leidenszeit begann. Ich habe meinen Freund gepflegt in unserer Wohnung mit den über fünfhundert Teddybären und der riesigen Platten- und CD-Sammlung. Wir waren ja beide ,Jäger und Sammler‘, die jedes Programmheft seit Beginn unserer Theaterbesuche aufgehoben habem. Als Günther sich nicht mehr selbstständig zu Hause mit Essen und Trinken versorgen konnte, kam Freund Hans-Peter vom Theater zu Hilfe und unterstützte uns mit fast täglichen Besuchen zur Mittagszeit. Das war für Günther eine schöne Abwechslung und er konnte übers Theater und die Kultur mit Hans-Peter fachsimpeln. Zusammen mit Günthers Schwester Gerlinde waren die beiden eine große Hilfe für mich und später im Heim ein willkommener Besuch für Günther. Ein paarmal kam sogar eine kleine Sängerinnen-Abordnung aus dem Theater, um zu sehen wie’s dem Günther geht.

Als Günther gestorben war, haben wir uns mit einer bewegenden Trauerfeier von ihm verabschiedet. Viele Freunde haben mitgewirkt. Die musikalische Gestaltung übernahmen Daniel Kaiser an der Orgel und die Mezzosopranistin Christina Niessen vom Badischen Staatstheater. Und viele von vor und hinter der Bühne waren dabei.“

Pfarrer Manfred Wiedemer, der mit Georg und Günther befreundet war, beeindruckte alle mit seiner Trauerrede, die mit den Worten „True love“ endete. Er berichtete von der Liebe und Fürsorge, mit der der Freund auch in den letzten Jahren der schweren Krankheit seinen Lebensgefährten begleitete.

„Georg hat die Theaterbesuche im Rollstuhl und den anschließenden Besuch in der Theaterkantine noch bis kurz vor seinem Tod ermöglicht. So konnte Günther ganz im Augenblick und im inneren Frieden leben.“

Georg fehlt Günther.

„Ich halt‘s zu Hause nicht aus, ich bin immer auf der Flucht! Als Günther im Heim war, kamen wir uns auf neue Weise wieder näher und es war mit die schönste, innigste Zeit, die wir miteinander hatten. Die Beziehung vertiefte sich wieder, denn auch bei uns gab es in den einunddreißig Jahren unserer Partnerschaft Höhen und Tiefen, viele ,graue Jahre‘ und auch das ‚verflixte 7. Jahr‘ ...

‚Aber der Richtige, wenn’s einen gibt für mich auf dieser Welt‘, wie die Arabella von Strauss singt, ‚der wird einmal dastehen, da vor mir und wird mich anschauen und ich ihn ...‘

Der erste Mann, in meinem Leben, war’s auf jeden Fall nicht. Schon nach einem halben Jahr ging’s unter Tränen wieder auseinander, denn er war nicht der Richtige.

Kurze Zeit später erschien Günther. Ich habe ihn immer mal wieder in einer Theater-Clique getroffen. Dies und jenes hat man über ihn erzählt. Auf dem Karlsruher Theaterfest 84/85 hat es dann langsam begonnen mit uns. Er war ja nicht so ganz mein Traumprinz mit seinen über 20 Jahren mehr und der ‚Dächle-Frisur‘ (das schüttere Haupthaar wurde kunstvoll mit Hilfe von Unmengen Haarspray zu einem ‚Dächle‘ zementiert). Aber seine Stärke, seine Redegewandtheit und seine Kennerschaft auf allen erdenklichen Gebieten haben es mir angetan. ‚Der ist zu alt für dich‘, ging mir anfangs immer wieder durch den Sinn und ich stellte mir so viele Fragen. Aber heute bin ich so dankbar, dass wir gemeinsam so viel erlebt haben auf dem Weg zu den großen Musikereignissen. Erst nahmen wir den Zug, und später dann das Auto. So fuhren wir quer durch Europa auf der Jagd nach der Kunst. Günther hatte keine Fahrerlaubnis und sagte immer: ‚Ich bin zu intelligent für einen Führerschein‘! Beim Autofahren erklärte er mir immer, wie ich fahren oder richtig einparken solle.

Als ich im Alter von vierundzwanzig Jahren meiner Mutter erzählte, dass ich jetzt mit einem Mann zusammenlebe, war sie nicht überrascht. Sie sagte nur: ‚Das haben Papa und ich uns schon immer gedacht‘.

Meine Eltern haben den Günther gleich quasi als Schwiegersohn akzeptiert und in ihr Herz geschlossen, denn auch sie waren beeindruckt von seinem selbstbewussten Auftreten, seinem Wissen und seinen Sprachkenntnissen. Sie stehen zu mir. Sie sind nicht wie jener Vater, der damals im Fernsehen meinte: ‚Wenn ich so einen Sohn hätte, würde ich ihn totschlagen‘. Wir waren bei jedem Familienfest mit meinen Eltern, meinen beiden jüngeren Brüdern, Schwägerinnen, Neffen und Nichten, Onkel, Tanten Cousinen und Cousins zusammen ... bis hin zu Günthers Trauerfeier. Das gilt natürlich auch für seine Verwandtschaft.

Auch Günther, der ursprünglich mit seiner Familie aus Tschechien kam, hatte ein gutes, enges Verhältnis zu seiner Mutter. Von ihr habe ich ihn praktisch übernommen, denn ein halbes Jahr bevor wir uns kennenlernten, war seine geliebte Mutter Valerie überraschend gestorben.“

Der Bauingenieur Georg und der Lehrer Günther haben sich für immer voneinander verabschiedet.

„Als ich an diesem 11. November spürte, dass es mit Günther zu Ende geht, habe ich ihm ‚La Boheme‘ mit dem jungen Carreras aufgelegt und dann seine Lieblingsarie ‚Casta Diva‘ aus Bellinis ‚Norma‘. Gesungen von der geliebten Maria Callas. Dabei hatte er Tränen in den Augen. Dann machte er ein paar letzte Atemzüge und schloss friedlich die Augen. Die Krankenschwestern hatten ihm am Morgen sein T-Shirt mit dem Bild der Callas angezogen, sein Sterbehemd.“

Der Freund und die Musik waren die letzten Wegbegleiter des Günther J. – „True love!“

 
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