Eingeäschert

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5
HANNAH

Hannah war ziemlich beunruhigt. Sie stand in Mels Zimmer und kam sich vor wie ein Eindringling. Draußen war es inzwischen dunkel, und im gelben Licht der Straßenbeleuchtung wirkte der Raum schäbig. Sie fuhr mit einem Finger über ein Bücherregal, zog eine Schublade des Schreibtischs auf und fand außer Briefpapier nur wenig.

Sie hatte Mels Social-Media-Accounts gecheckt, einmal am früheren Abend, dann noch mal vor zwanzig Minuten. Keine Aktivitäten. Sie hatte alle ihre Freunde angerufen, und niemand hatte Mel heute gesehen. Soweit Hannah herausfinden konnte, war sie die Letzte gewesen, die mit Mel geredet hatte. Sie hatte einen vollen Tag an der Uni, Strömungslehre im Labor morgens, zwei Vorlesungen und ein Seminar am Nachmittag, und bei keinem war Mel aufgetaucht. Und sie hatte ausdrücklich gesagt, sie werde für Hannah mitschreiben.

Hannah hatte zuerst Xander angerufen, der sagte, er habe sie seit Mittag am Vortag nicht mehr gesehen. Er war Astrophysiker, ein noch komplexeres Fachgebiet als das Zeug, das Hannah und Mel studierten. Sie versuchte, sich darüber klar zu werden, was sie über ihn wusste. Er war mit Hannah, Mel und ein paar anderen im Quantum Club, und seine Eltern hatten irgendwas mit dem Militär zu tun und lebten im Ausland.

Sie rief einige weitere Namen in Mels Kontaktliste auf dem Handy an, aber keiner hatte von ihr gehört. Das galt auch für ihren Bruder Vic, der in der Stadt in der Fruitmarket Gallery arbeitete. Er stand seiner Schwester sehr nahe und sagte, er habe tags zuvor mit ihr gesprochen, allerdings nur Small Talk wegen ihres Treffens mit ihren Eltern zum Mittagessen. Er war betroffen, als er hörte, dass Mel nicht aufgetaucht war.

Hannah postete im Forum für Physikstudenten im dritten Jahr, fragte in die Runde, ob jemand sie gesehen hatte, und versuchte dabei, den Ball flach zu halten. Sie ging Mels WhatsApp-Nachrichten und SMS durch, fand aber nichts, um auch nur eine Augenbraue hochzuziehen.

Sie ging in Gedanken noch mal ihr Frühstück an diesem Tag durch. Sie war nicht wirklich da gewesen, weil sie an fast nichts anderes als Jims Einäscherung denken konnte. Hatte Mel anders gewirkt als normalerweise, war sie ein bisschen nervös oder ängstlich gewesen? Vielleicht vernebelte Hannahs aktuelle Gemütsverfassung ein wenig ihre Erinnerung.

Sie sah auf Mels Handy auf die Uhr, fast zwei morgens.

Indy war jetzt hinter ihr in dem Zimmer. »Was denkst du?«

Hannah schüttelte den Kopf, nahm ihr eigenes Handy heraus und wählte 101, die allgemeine Nummer der Polizei. Sie sah Indy an, während sie darauf wartete, dass jemand ranging.

»Hallo«, sagte sie. »Ich möchte eine Vermisstenanzeige aufgeben.«

6
JENNY

Jenny spürte den Rand der Matratze unter ihrer Hand und war einen Moment lang verwirrt, dann erinnerte sie sich und öffnete die Augen. Sie war froh, dass der Raum seit ihrer Kindheit renoviert worden war, was ihr ein wenig Distanz ermöglichte. Es wäre einfach zu viel gewesen, als Frau mittleren Alters hierher zurückzukommen und im gleichen Bett zu liegen, in dem sie als Teenager an Kurt Cobain gedacht und sich berührt hatte.

Aber ein oder zwei Erinnerungen gab es dennoch. Die knarrende Holzdiele neben dem Bett war nie repariert worden, und das Geräusch, das sie machte, als sie aufstand, war überwältigend nostalgisch, schleuderte sie zurück durch die Jahrzehnte in die Zeit, als sie noch ein Kind war. An der Wand neben der Tür konnte sie noch die Delle im Putz sehen, wo sie mehrere Male hingeschlagen hatte, als sie wütend darüber war, dass Susan Wilson mit Andy Shepherd ausging, obwohl Susan genau wusste, dass Jenny auf ihn stand. Und in der unteren Ecke des Fensters waren immer noch ihre Initialen ins Glas gekratzt, so deutlich, als wären sie ihr auf die Brust tätowiert.

Wieder hier zu sein, meine Güte. Mum brauchte sie, aber Jenny redete sich nicht ein, dass es nur vorübergehend war. Mit fünfundvierzig Jahren hatte Jenny keine Wohnung, kein Vermögen, keinen Job, keine Ehe. Sie konnte genauso gut hier sein, denn welchen besseren Ort als ein Bestattungsinstitut konnte es geben, um sein Leben zu beschließen?

Sie sah auf den geöffneten Koffer auf dem Boden, aus dem ihre Klamotten chaotisch herausquollen. Der Rest ihrer Habe befand sich in einer Handvoll Kartons im Lagerraum unten. Archie hatte ihr geholfen, am Abend zuvor bei Nacht und Nebel aus der Portobello-Wohnung zu verschwinden. Ihren ganzen Kram zusammenzupacken war deprimierend schnell gegangen, und ihre miesen Möbel ließ sie als Teilzahlung für ihre Mietrückstände da.

Sie konnte nicht begreifen, wie es so weit hatte kommen können. Vor zwanzig Jahren, als sie diese Wohnung an der Bellfield Street gemietet hatten, war sie verheiratet, schwanger und verliebt gewesen. Sie und Craig waren pleite, beide freiberufliche Schreiberlinge, sie machte Kulturreportagen, sein Ding war die Politik. Ohne festes Einkommen hatten sie keine Chance, wohnungsmäßig weiterzukommen, aber sie hatten angenommen, dass alles besser werden würde. Stattdessen ging es mit dem Journalismus bergab, Craig verließ sie und verdiente erst mit der PR-Agentur, die er mit Fiona gründete, richtig Geld.

Dorothy und Jim hatten angeboten, Jenny und Hannah bei sich aufzunehmen. Vor allem Jim war sehr aufgebracht, dass Craig ging, war wütend bei der Vorstellung, dass irgendein Mann seine Familie hintergehen konnte. Er mehr noch als Dorothy versuchte, Jenny und Hannah zurück in den Schoß der Familie zu holen, lange Spielesitzungen und viel Eiscreme mit seiner Enkelin, spätabendliche Unterhaltungen am Telefon mit Jenny, in denen er sie anflehte, nach Hause zurückzukommen. Aber etwas daran wurmte sie. Der Gedanke, dass sie ihre Tochter nicht ernähren konnte. Was im Rückblick dummer Stolz war. Außerdem wollte sie nicht, dass Hannah wie sie in der Nähe von Leichen aufwuchs. Also verdoppelte sie ihre freiberuflichen Anstrengungen, legte sich ins Zeug, um die Miete zahlen zu können, vielleicht auf Kosten ihrer Beziehung zu Hannah. Vielleicht war es die falsche Entscheidung gewesen, eine der Millionen falscher Entscheidungen in ihrem Leben, die sie am Ende wieder ins Haus der Skelfs zurückgeführt hatten.

Sie stellte sich die Tausende von Leichen vor, die dieses Haus passiert hatten, stellte sich vor, wie sie sich alle aus Gräbern überall in der Stadt erhoben, wie ganze Horden von Zombies nach Greenhill Gardens marschierten, um ihre Verbindungen zu den Lebenden zurückzuverlangen. Vielleicht machte sie das ja auch, versuchte, ihren Vater zurückzubekommen, wieder eine Beziehung zu Mum aufzubauen.

Sie nahm einen Morgenrock aus ihrem offenen Koffer, zog ihn an und tapste in die Küche. Schrödinger hockte auf einem ramponierten Ledersessel vor einem der Fenster, das Gesicht der Sonne zugekehrt, die durch die Bäume schimmerte. Er begrüßte sie nicht. Jenny schnappte sich einen Becher, füllte Kaffee und Wasser in Dorothys große Kanne auf dem Herd. Zu Hause brachte sie bestenfalls einen Pulverkaffee zustande, daher würde diese kolumbianische Röstung ihr wahrscheinlich den Kopf wegballern.

Sie ging zum Fenster.

»Hey, Katze.«

Nichts. Sie kraulte ihn im Nacken. »Hör zu, wir beide müssen miteinander klarkommen, denn ich werde jetzt eine Weile hierbleiben.«

Schrödinger streckte sich nach der anderen Seite des Sessels, drückte seine Krallen ins Leder.

»Leck mich«, sagte Jenny.

»Über wen fluchst du?« Dorothy kam durch die Tür und sah überraschend jugendlich frisch aus.

»Deinen Kater«, antwortete sie. »Er hasst mich.«

»Er spricht darauf an, wenn er beschimpft wird, genau wie Menschen.«

Jenny lächelte und kehrte zum Herd zurück, begann, Kaffee zu machen. »Willst du einen?«

Dorothy schüttelte den Kopf. »Ich gehe aus, treffe mich mit einem Freund.«

»Wen?«

Dorothy blieb stehen. Sie trug eine weit geschnittene Baumwollhose und eine bordeauxrote, am Hals offene Seidenbluse. Beides stand ihr, sie hatte schon immer ein Händchen dafür, sich geschmackvoll zu kleiden. Jenny war eifersüchtig auf ihre elegante Mutter, die durchs Leben segelte. Ihre ruhige Ausstrahlung vermittelte den Eindruck, dass nichts sie aus der Fassung bringen konnte. Jenny konnte nicht verstehen, warum sie wegen ihres Dads nicht mitgenommener war.

Dorothy legte die Hände auf die Hüften. »Thomas Olsson.«

Jenny hatte den Namen schon gehört, war Dorothys schwedischem Cop-Freund aber nie begegnet. Die Skelfs hatten seine Frau beerdigt, und Indy sagte, er habe was von einem Silberfuchs.

»Du willst dich einen Tag nach der Einäscherung deines Mannes mit einem attraktiven Witwer treffen?«

Dorothy hob eine Augenbraue angesichts von Jennys Ton. »Ich kann tun und lassen, was ich will.«

»Wie du’s ja auch schon siebenundachtzig gemacht hast.«

Dorothy erstarrte. Siebenundachtzig war die Kurzform für das, was in der Familie irgendwann als »Dorothys Episode« angesehen wurde. Eine Solo-Reise, um ihre Mum in Pismo Beach zu besuchen, vorgeblich für zwei Wochen, aus denen fast zwei Monate wurden. Jim und eine triebgesteuerte Jenny blieben in Schottland und fragten sich, was zum Teufel da los war. Wie sich herausstellte, traf Dorothy sich mit einer alten Flamme aus der Schulzeit, frisch geschieden, und die zwei versuchten, sich ein letztes Mal an ihre schwindende Jugend zu klammern. Am Ende musste Jim nach Kalifornien fliegen und Dorothy überreden, zurückzukommen. Jenny hatte nie wirklich verstanden, wie sie es hinbekommen hatten, jedenfalls schafften es ihre Mum und ihr Dad, die Sache hinter sich zu lassen. Jim verzieh Dorothy, und sie wurde offensichtlich von Schuldgefühlen geplagt, aber Jenny kam nie wirklich darüber hinweg. Der Gedanke an die Möglichkeit von Verrat und Betrug hatte sich in ihrem Kopf eingenistet, und Jahre später, als Hannah fast so alt war wie sie damals, machte Craig dann genau das Gleiche, nur eben viel schlimmer. Das riss die alte Wunde auf und machte es ihr sehr schwer, während ihrer eigenen Trennung und der nachfolgenden Scheidung Trost und Unterstützung von ihrer Mum anzunehmen. Und jetzt das, Jims verbrannte Überreste unten auf einem Tisch, und Dorothy zog sich hübsch an und war unterwegs zu einem Date mit einem geeigneten Witwer.

 

»Untersteh dich«, sagte Dorothy. »Du hast kein Recht, das zu erwähnen.«

»Wenn du meinst.«

»Dein Dad war die Liebe meines Lebens. Was damals passiert ist, war ein Fehler, den ich immer bedauert habe. Und das jetzt aufs Tapet zu bringen, mein Gott …«

Jenny hob beschwichtigend die Hände. »Okay.«

»Ich brauche keine Erlaubnis zum Leben.«

»Schön.«

Der Kaffee blubberte in der Kanne auf dem Herd, während Schrödinger zu Dorothy schlenderte und seinen Schwanz um ihre Beine streichen ließ. Sie streichelte ihn und deutete auf die Tür.

»Ich brauche dich eine Weile vorne an der Rezeption«, sagte sie. »Indy hat heute frei.«

Jenny spürte eine tiefe Besorgnis in sich aufsteigen, während sie den Kaffee einschenkte. »Ich weiß gar nicht, was ich machen muss.«

»Geh einfach ans Telefon, wenn es klingelt, und schreib auf, worum es geht. Du hast mir oft genug dabei zugeschaut.«

»Aber nicht in letzter Zeit.«

»Du machst das schon.« Dorothy nahm ihre Strickjacke von der Rückenlehne eines Stuhls und zog sie an. Jenny roch an ihr den Rauch vom Vortag und stellte sich den Geist ihres Dads in der Wolle vor.

»Tut mir leid«, sagte sie. »Mit dir alles in Ordnung?«

»Nein«, antwortete Dorothy durchaus nicht unfreundlich. »Bei keinem von uns ist alles in Ordnung, und ich gehe auch nicht davon aus, dass sich das in absehbarer Zeit ändert. Aber wir müssen weitermachen, oder?«

»Müssen wir?«

Dorothy nahm Jennys Hand. »Was können wir sonst tun?«


Das Telefon klingelte.

Jenny war im Einbalsamierungsraum und starrte auf das Häufchen Staub, das ihr Dad war, als sie das Telefon in der Rezeption klingeln hörte. Sie war nicht sicher, wie lange sie dort so gestanden hatte, es konnten Sekunden, aber auch Wochen gewesen sein.

Sie ging in die Rezeption. Was für ein Kontrast zum Einbalsamierungsraum: Hier gab es dicke Teppiche, Einbauten aus geschnitzter Eiche und Blumensträuße, die in einer Ecke auf den nächsten Gottesdienst warteten. Üppige Stuckverzierungen am Rand der Decke, ein eleganter Schreibtisch mit Laptop und Telefon. Von der Rezeption aus konnte sie den gesamten Kundenbereich des Geschäfts im Erdgeschoss überblicken – die kleine Kapelle links, den Vorbereitungsraum rechts und die drei Verabschiedungsräume auf der Rückseite.

Sie setzte sich auf den Schreibtischstuhl und starrte das Telefon an, schließlich nahm sie den Hörer ab.

»Skelf, guten Tag.« Sie erinnerte sich, nicht Bestattungsunternehmen oder Detektei zu sagen, denn es konnte für beide sein.

Ein Schniefen am anderen Ende der Leitung.

»Es ist in Ordnung, lassen Sie sich Zeit.« Jenny stellte sich ihre Mum vor, die über die Jahre genau dasselbe Abertausende Mal gesagt hatte.

»Es geht um meinen William.«

Jenny hörte in ihrem Kopf die Stimme ihrer Mum. Sei einfach da, du musst gar nichts sagen. Die Leute wollen sich mit jemandem verbunden fühlen oder mit irgendetwas.

Mehr Schniefen. »Ich muss mich um seine Beerdigung kümmern.«

»Tut mir leid, das zu hören.«

Dann brach die Frau in Tränen aus, und Jenny fühlte sich hilflos. Wären sie im gleichen Raum gewesen, hätte sie ein Taschentuch anbieten oder ihre Hand tätscheln können. Oder hätte eine dicke Umarmung angeboten, wie sie selbst eine brauchte, vielleicht hätten sie gemeinsam geweint, sie hätte den Single Malt hervorgeholt, und sie hätten gemeinsam ihre Sorgen ertränkt. Wie abgefuckt war das denn, sich einen Tag nach der Beerdigung des eigenen Dads den schlimmsten Augenblick im Leben eines anderen anzuhören?

»Wie heißen Sie?«, fragte Jenny.

Es dauerte eine ganze Weile, bis sie antwortete. »Mary. William und Mary Baxter.«

Als wären sie noch ein Paar, als wäre ihr nicht gerade erst die Seele herausgerissen worden. Jenny hörte Mary atmen und wie sie versuchte, die Kontrolle wiederzuerlangen.

»Es ist okay«, sagte sie. Es war nicht okay, es war dumm, das zu sagen, nichts würde je wieder okay sein. »Erzählen Sie mir von William.«

Was Mary dann machte. Sie erzählte von ihrem verstorbenen Mann, wie sie sich in den 1950er-Jahren bei einem Tanz an der Lothian Road kennengelernt hatten, er war bei der Navy gewesen, hatte schnittig ausgesehen in seiner Uniform, hatte die Wasserstoffbombentests über der pazifischen Weihnachtsinsel gesehen, aber trotzdem ein langes Leben gehabt, arbeitete bei Ferranti und baute Cockpit-Instrumententafeln für Kampfflugzeuge, zog vier Kinder groß, von denen eines bereits tot war. Dabei unterbrach sie sich kurz. Jenny konnte es nicht ertragen, für diese Arbeit war sie nicht geschaffen, hatte nicht, was Dorothy und Jim hatten oder Indy. Sie musste immer wieder an ihren eigenen Dad denken, der in einem Häufchen auf einer Metallschale in einem Hinterzimmer lag.

Mary redete immer noch, von ihren Enkelkindern, von Williams Schrittmacher und seiner künstlichen Hüfte, wie sehr er die Gartenarbeit liebte und Spaziergänge in den Meadows, wie er auf dem Weg zu den Geschäften immer noch ihre Hand hielt, immer romantisch war. Das alles notierte Jenny, auch wenn es zum größten Teil nicht relevant war. Mary erwähnte eine Lungenentzündung, pulmonale irgendwas, dann ging ihr selbst die Puste aus, brachte es nicht fertig, über das Ende zu sprechen.

»Und wo ist William jetzt?«

Ein langes Schweigen, während Mary sich sammelte. »Er ist im St. Columba’s. Er ist nachts verstorben. Sie haben gesagt, ganz friedlich, er hätte nichts mehr gespürt.«

Woher wussten die das? Vielleicht war er eine Stunde von Schmerzen gefoltert worden, konnte nicht atmen, hatte panisch versucht, am Leben zu bleiben, hatte in maßloser Angst vor dem schwarzen Loch, das ihn zu verschlucken drohte, seine Laken umklammert.

Jenny war für so etwas wirklich nicht gemacht.

»Okay«, sagte sie. »Wir können uns für Sie um ihn kümmern, keine Sorge. Würden Sie vorbeikommen wollen und mit einem unserer Fachleute sprechen, wie alles ablaufen soll?«

Keine Antwort.

»Sie finden uns in Greenhill Gardens, kennen Sie das?«

»Ja.«

»Wann wäre es Ihnen recht?«

Jenny stellte sich vor, wie sie allein zu Hause saß und nichts zu tun hatte.

»Heute Nachmittag?«, fragte Mary.

»Gerne, sagen wir doch vierzehn Uhr.«

»Vielen Dank, Sie haben mir sehr geholfen.«

Jenny fragte sich, ob das sarkastisch gemeint war. »Keine Ursache.«

Mary legte auf, und Jenny saß da, starrte den Hörer in ihrer Hand an und spürte den Schweiß auf ihrer Handfläche. Sie schluckte schwer und begann, mit dem Hörer gegen ihre Stirn zu klopfen, behutsam zuerst, dann fester und fester, bis sie den Schmerz spüren konnte.

7
DOROTHY

Dorothy liebte den Middle Meadow Walk, das Kommen und Gehen der Studenten, die vorbeirasenden Radfahrer, selbst die schrägsten Straßenmusiker. Ein Typ die Straße hinauf spielte einen funkigen Shuffle auf einem ramponierten alten Schlagzeug, und sie lächelte, als sie an ihr eigenes, glänzendes Schlagzeug im Studio auf der zweiten Etage ihres Hauses dachte. Das Festival war vorbei, und sie war erleichtert, als die Stadt endlich kein Hindernisparcours mehr von Kids war, die einem Flyer in die Hand zu drücken versuchten, aber sie vermisste auch diese spezielle Energie. Das alles wurde schnell ersetzt durch Studenten, die sich begeistert in ein neues Abenteuer in der großen Stadt stürzten. Der Walk war ein langer, breiter Boulevard, der sich von Marchmont bis ins Herz der Old Town erstreckte. Studenten lebten im erstgenannten Stadtteil und studierten in Letzterem, daher kam einem die Straße wie eine Arterie vor, und Dorothy stellte sich vor, ein Blutkörperchen zu sein, auf dem Weg zu einem anderen Körperteil Edinburghs, wobei sie ihre Nährstoffe dorthin brachte, wo sie gebraucht wurden.

Als sie das Söderberg erreichte, sah sie Thomas draußen sitzen. Er trug eine dunkelgrüne Jacke, weißes T-Shirt, Jeans, schwarz umrandete Brille. Es war ein strahlend heller Tag mit einem Hauch des nahenden Winters in der Luft. Er las ein Buch, und als sie ihn erreichte, sah sie, dass es von einer Japanerin war.

Sie berührte seine Schulter. »Ist es gut?«

Er drehte sich zu ihr und setzte die Brille ab, lächelte und klappte das Buch zu. »Sehr.« Er stand auf und umarmte sie. »Schön, dich zu sehen.«

»Gleichfalls.«

»Wie geht’s dir?« Eine große Frage.

Sie dachte darüber nach, statt einfach zu antworten, es gehe ihr gut. »Ich denke, es wird wieder.«

»Davon bin ich überzeugt«, sagte Thomas und zog ihr einen Stuhl heran.

Sie befanden sich an einem kleinen Tisch vor dem Café. Das Gebäude war groß und hatte eine Glasfassade, war Teil des modernen Stadtentwicklungsprojekts mit dem Namen Quartermile, das sich zwischen die Turmspitzen des alten Krankenhauses und die Universitätsgebäude schmiegte. Auf der Rückseite befand sich eine großräumige, offene schwedische Bäckerei, einer der Gründe, warum Dorothy es hier mochte. Helles, klassisches skandinavisches Mobiliar weckten in ihr die Sehnsucht nach einem Ort der klaren Linien und des Minimalismus, an dem sie nie gewesen war.

Sie bestellten Gebäck und Kaffee, Thomas wechselte ein paar schwedische Worte mit dem Kellner, der ihre Bestellung aufnahm.

»Er studiert Philosophie«, sagte Thomas, als der junge Mann fort war.

»Na, dann viel Glück!«

Dorothy genoss es, wie ihre Stimmen eine Geschichte transportierten. Ihre dezenten Spuren von Kalifornien, sein skandinavischer Akzent, sie beide, mittleren und höheren Alters, im matten schottischen Sonnenschein sitzend, zwei Einwanderer aus Liebe, jetzt allein. Wenn man lange Zeit woanders lebt, hat man eigentlich kein Zuhause mehr. Sie liebte Edinburgh, liebte den selbstironischen schottischen Humor, aber ihr Herz sehnte sich nach der Ehrlichkeit und dem Ehrgeiz der Pazifikküste. Sie fragte sich, was Thomas vermisste, wenn er an Göteborg dachte.

»So«, sagte Thomas und griff in seine Jackentasche. »Deine geheimnisvollen Überweisungen.«

Kein Drumherumgerede, etwas, das Thomas und Jim gemeinsam hatten. Aber sie musste aufhören, so zu denken. Er faltete ein Blatt auseinander und strich es auf dem Tisch glatt. Er setzte seine Lesebrille auf und blinzelte.

»Sie reichen etwa zehn Jahre zurück«, sagte er.

»Immer derselbe Betrag?«

Thomas nickte.

Meine Güte, das waren über fünfzig Riesen.

Thomas verlagerte sein Gewicht. »Sagt dir der Name Rebecca Lawrence etwas?«

Dorothy dachte einen Moment nach. Es hatte so viele Menschen in ihrem Leben gegeben, so viele Namen. »Nein, ich glaube nicht.«

»Sie ist fünfundvierzig Jahre alt, lebt mit ihrer zehnjährigen Tochter Natalie in Craigentinny.«

Genauso alt wie Jenny, was Dorothy nachdenklich machte. Und sie hatte eine Tochter. »Nein, das sagt mir nichts.«

Thomas ließ einen Finger über das Blatt gleiten, als der Kellner mit ihrer Bestellung kam. Er wartete, bis der Junge wieder fort war.

»Sie arbeitet als Rezeptionistin in einer Arztpraxis. Schon seit Jahren.«

Dorothy schüttelte den Kopf.

»Eine interessante Sache«, sagte Thomas und schaute auf. »Sie ist Witwe. Gewissermaßen.«

Der Duft ihres Kaffees und der Zucker des Gebäcks machten Dorothy für einen kurzen Moment schwindlig. Drei junge Frauen gingen vorbei, unterhielten sich laut über ihren gemeinsam verbrachten Abend, lachten, berührten sich zwanglos und voller Selbstvertrauen.

»Was meinst du mit ›gewissermaßen‹?«, fragte Dorothy.

 

»Ihr Mann ist verschwunden«, sagte Thomas. »Vor zehn Jahren. Sie hat eine offizielle Vermisstenanzeige aufgegeben.«

»Und?«

Thomas zuckte mit den Achseln und trank einen Schluck von seinem Espresso. »Er ist nie wieder aufgetaucht. Vor drei Jahren hat sie bei Gericht den Antrag gestellt, ihn offiziell für tot erklären zu lassen. Das bedeutet, er gilt von Rechts wegen als verstorben. Das kann man beantragen, wenn jemand seit sieben Jahren verschwunden ist. Es bedeutet, sie hat eine Sterbeurkunde erhalten, womit sie Anspruch auf seine Rente und so weiter erhält.«

Etwas nagte in Dorothys Hinterkopf. Ein in Tweed gekleidetes Paar mittleren Alters schlängelte sich an ihrem Tisch vorbei, wurde überholt von einer Gruppe drängelnder Jugendlicher in Sportkleidung.

»Dann ist er also etwa zu dem Zeitpunkt verschwunden, als diese Zahlungen anfingen?«, fragte Dorothy.

»Ein paar Monate vorher.«

»Das ist Zufall.«

»Ja.«

Dorothy berührte ihre Schläfe.

Thomas seufzte und spreizte die Hände. »Ich bin überzeugt, dafür gibt es eine vernünftige Erklärung.«

»Hier spricht jetzt aber nicht der Polizeibeamte. Das stinkt doch, und du weißt es.«

»Jim würde nie …« Er hatte den Anstand, seinen Satz nicht zu beenden.

»Wie heißt der verschwundene Ehemann?«

Thomas sah Dorothy an. »Simon Lawrence.«

Oh. Scheiße, sie kannte ihn.

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