Die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union

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2.1.2 Die Grenz‑ und Asylpolitik in den Verträgen der europäischen Gemeinschaften

Die Grenz- und Asylpolitik ist erst 1999 mit Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam zu einem gemeinsamen europäischen Politikfeld geworden. Diese funktionale wie politische Vertiefung europäischer Integration lässt sich jedoch unmittelbar mit dem Gründungsvertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft aus dem Jahr 1957 in Verbindung bringen. Im Zentrum der Gründungsverträge (und damit am Beginn der europäischen Intgration) stand die Errichtung eines gemeinsamen Marktes:

„Aufgabe der Gemeinschaft ist es, durch die Errichtung eines Gemeinsamen Marktes und die schrittweise Annäherung der Wirtschaftspolitik der Mitgliedstaaten eine harmonische Entwicklung des Wirtschaftslebens innerhalb der Gemeinschaft, eine beständige und ausgewogene Wirtschaftsausweitung, eine größere Stabilität, eine beschleunigte Hebung der Lebenshaltung und engere Beziehungen zwischen den Staaten zu fördern, die in dieser Gemeinschaft zusammengeschlossen sind.“ (Art. 2 EWG-Vertrag)

Um diesen gemeinsamen Markt zu errichten, sollten zunächst Zolltarife innerhalb der Gemeinschaft abgeschafft werden, um den freien Warenaustausch innerhalb der neu gegründeten Wirtschaftsgemeinschaft zu ermöglichen (Art. 3 lit. a EWG-Vertrag). Der freie Warenverkehr ist eine der vier GrundfreiheitenGrundfreiheiten, die in den Römischen Verträgen als Ziele der Gemeinschaft festgelegt wurden und bis heute den Charakter der Europäischen Union prägen (Titel I, insbesondere Art. 9 EWG-Vertrag).

Ein Großteil der Rechtsetzung und Rechtsprechung auf europäischer Ebene lässt sich auf diese vier Hauptziele zurückführen: Freier Warenverkehr, freier Personenverkehr, Dienstleistungsfreiheit und freier Kapitalverkehr (Titel I und III, EWG-Vertrag, insbesondere Art. 9, 48, 52, 59 EWG-Vertrag).

Der freie Personenverkehr war zunächst streng auf den Markt begrenzt und bedeutete die Freiheit, in einem der Mitgliedstaaten eine Arbeit aufzunehmen und unabhängig von Staatsangehörigkeit beschäftigt und entlohnt zu werden (Art. 48 Abs. 2 EWG-Vertrag). Ebenso wie sich Bürger frei in einem der Mitgliedstaaten niederlassen können, gilt dies auch für Unternehmen bspw. durch die Gründung von Tochtergesellschaften (Art. 52f. EWG-Vertrag).

Die Dienstleistungsfreiheit sollte es jedem Unternehmer ermöglichen, seine Dienstleistungen im gesamten Raum der Wirtschaftsgemeinschaft anzubieten (Art. 59 EWG-Vertrag). Bisherige Beschränkungen – gerade auch verwaltungsrechtlicher Natur (Anerkennung usw.) – sollten schrittweise abgebaut werden.

Schließlich galt es die Beschränkungen des Kapitalverkehrs soweit aufzuheben, wie es „für das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes notwendig ist“ (Art. 67 EWG-Vertrag). Der Vertrag sah vor, dass solche Maßnahmen auf Vorschlag der Kommission vom Rat zunächst einstimmig und nach Ablauf einer Übergangsphase von acht Jahren mit qualifizierter Mehrheit angenommen würden (Art. 69 EWG-Vertrag).

Offensichtlich gerieten die Freiheiten des Marktes in Konflikt mit den physichen Grenzen der Mitgliedstaaten. Durch Grenzkontrollen kam es zu Verzögerungen beim Transport von Waren, doch auch der Personenverkehr wurde dadurch beeinträchtigt. Insofern stand die Grenzpolitik den Grundfreiheiten des Gemeinsamen Marktes und damit dem Hauptziel und Motiv der Gründungsverträge entgegen. Wollte man die Freiheiten verwirklichen, so brauchte es eine Öffnung der traditionell national kontrollierten Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten.

Die funktionale Notwendigkeit der Öffnung von Grenzen zwischen den beteiligten Staaten lag damit auf der Hand. Die informelle Kooperation in den Bereichen Justiz, Inneres, Asyl und Grenzen begann bereits in den 1970er Jahren (Hailbronner und Thym 2016a: 2, Rn 2). Doch zu einer verbindlichen Initiative dieser Art kam es erst 1984 mit einem deutsch-französischen Regierungsabkommen und dem 1985 unterzeichneten Schengener AbkommenSchengener Abkommen zwischen Deutschland, Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Luxemburg. Darin ist die Abschaffung von Personenkontrollen an den Binnengrenzen des Gemeinsamen Marktes festgelegt. Bevor dieses politische Ziel verwirklicht werden konnte, brauchte es gemeinsame Standards bei der Einreise in den Wirtschaftsraum und bei der Frage, wann unter welchen Bedingungen durch welchen Staat Asyl gewährt wird. Denn die Abschaffung von Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedstaaten bedeutete, dass die Außengrenze eines Mitgliedstaates zur Außengrenze des gesamten Wirtschaftsraums wurde. Wer in den europäischen Wirtschaftsraum einreiste, konnte sich bei der Aufhebung von Binnengrenzkontrollen prinzipiell frei zwischen den Mitgliedstaaten bewegen.

Die Einheitliche Europäische AkteEinheitliche Europäische Akte (1987) hielt vertraglich fest, dass die Personenfreizügigkeit durch die Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen der Gemeinschaft bis Ende 1992 auf eine neue Stufe gehoben werden sollte. Mit der Einheitlichen Europäischen Akte war der EWG-Vertrag um folgenden Artikel 8a ergänzt worden:

„Die Gemeinschaft trifft die erforderlichen Maßnahmen, um bis zum 31. Dezember 1992 gemäß dem vorliegenden Artikel […] den Binnenmarkt schrittweise zu verwirklichen. Der Binnenmarkt umfaßt [!] einen Raum ohne Binnengrenzen, in dem der freie Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital gemäß den Bestimmungen dieses Vertrags gewährleistet ist.“

Diese Öffnung der Binnengrenzen sollte mit gemeinsamen Regeln bei den Außengrenzkontrollen und der Schaffung einer gemeinsamen Einwanderungs‑ und Asylpolitik einhergehen, wofür die Gemeinschaft aber zunächst kein vertragliches Mandat erhielt. Hier bestand also eine rechtliche Lücke zwischen dem Vertragsziel der Einheitlichen Europäischen Akte, die die Abschaffung der Binnengrenzkontrollen innerhalb von sechs Jahren vorsah, ohne jedoch der Kommission ein Mandat zur Schaffung flankierender rechtlicher Maßnahmen zum Außengrenzschutz, zur Einreise und zur Gestaltung der Asylpolitik zu erteilen (Morijn 2017: 186).

Tatsächlich handelten die Mitgliedstaaten zunächst außerhalb des rechtlichen und institutionellen Rahmens der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft begleitende Maßnahmen der Einreise‑ und Asylpolitik aus. Es wurden mehrere ad-hoc-Arbeitsgruppen gegründet, die sich mit den von der Grenzpolitik berührten Feldern befassten, darunter zu den Bereichen Einwanderung (Außengrenzkontrollen, Visa, Asyl), justizielle Kooperation, TREVI (Polizei, Sicherheit, Terrorismus) und CELAD zur Bekämpfung der Drogenkriminalität (Morijn 2017: 186).

So entstand 1990 im Zuge des Schengener Abkommens das Dubliner ÜbereinkommenDubliner Übereinkommen ebenfalls als völkerrechtliches Instrument, das aber erst 1997 in Kraft trat. Es enthielt einen Kriterienkatalog, nach dem geprüft werden sollte, welcher Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. So sollte verhindert werden, dass Asylanträge in mehreren Mitgliedstaaten gleichzeitig oder nacheinander verfolgt werden. Die Frist zur Aufhebung der Personenkontrollen an den Binnengrenzen verstrich indes im Dezember 1992. Es dauerte noch mehrere Jahre bis die Binnengrenzkontrollen zunächst an den Grenzen zwischen Deutschland, Frankreich und den Benelux-Staaten 1995 tatsächlichen aufgehoben wurden.

Im Vertrag von MaastrichtVertrag von Maastricht (1992 unterzeichnet/1993 in Kraft getreten) wurde die Asylpolitik erstmals als Bereich „gemeinsamen Interesses“ definiert (Art. K.1 Abs. 1 EGV-Maastricht), doch zunächst kein Mandat für asylpolitische Rechtsinstrumente erteilt. Der Vertrag von Maastricht hatte damit zwar den Rahmen für europäische Entscheidungsfindung in der Justiz‑ und Innenpolitik geschaffen, die in der neu gegründeten Europäischen Union noch streng nach intergouvernementalen Prinzipien funktionierte (Hailbronner und Thym 2016a: 2, Rn 2). Der Vertrag ermöglichte zunächst nicht mehr als die Verabschiedung unverbindlicher gemeinsamer Positionen, die im Sinne völkerrechtlicher Vorschriften von den jeweiligen nationalen Parlamenten ratifiziert werden mussten (Art. K.2 Abs. 2 EGV-Maastricht). Diese Vorgaben stellten sich als ineffizient heraus, sodass in diesem Bereich kaum politische Ergebnisse generiert wurden (Hailbronner und Thym 2016a: 2, Rn 2).

Erst der Vertrag von AmsterdamVertrag von Amsterdam (1997 unterzeichnet, 1999 in Kraft getreten) benannte konkrete Aufträge zur Rechtsetzung im Bereich Asyl (Art. 73 lit. i und lit. k EGV-Amsterdam). Die europäischen Institutionen – zu diesem Zeitpunkt Europäische Kommission und Rat der EU unter Anhörung des Europäischen Parlaments – sollten Maßnahmen beschließen, um nach objektiven und fairen Kriterien festzulegen, wer für die Prüfung eines Asylantrages zuständig sei. Dies entspricht inhaltlich dem, was bisher durch das Dubliner Übereinkommen geregelt wurde. Tatsächlich wurde auf Grundlage des Mandats im Vertrag von Amsterdam eine Verordnung erlassen, die als Dublin-II-Verordnung (VO (EG) Nr. 343/2003 v. 18.2.2003, Abl. Nr. L 50/1 v. 25.2.2003) bekannt ist und als Nachfolgeinstrument des Dubliner Übereinkommens die Bestimmungen dieses Instruments in weiten Teilen übernimmt.

Der Vertrag von Amsterdam ist gleichzeitig der Vertrag, mit dem der bestehende Schengener Besitzstand, darunter (1) das Schengener Abkommen vom 14. Juni 1985, (2) das Schengener Durchführungsübereinkommen vom 19. Juni 1990, (3) die Beitrittsprotokolle und ‑übereinkommen mit Italien, Griechenland, Österreich, Dänemark, Finnland und Schweden, (4) die Beschlüsse und Erklärungen, die vom Exekutivausschuss auf Grundlage des Durchführungsübereinkommens erlassen wurden; in das Gemeinschaftsrecht aufgenommen wurde.1 Inzwischen gilt der Schengener Besitzstand als das Rückgrat der EU-Einwanderungs‑ und Asylpolitik (Hailbronner und Thym 2016a: 2, Rn 1).

 

Für die Grenz‑ und Asylpolitik bleibt vorrangig wichtig, dass durch den Vertrag von Amsterdam der supranationale Politikmodus für die Bereiche Einwanderung, Asyl und Grenzkontrollen eingeführt wurde. Zwar blieb der Vergemeinschaftungsprozess unter Wahrung von Ausnahmeregeln zunächst unvollständig, was in Folgeverträgen jedoch korrigiert wurde (Hailbronner und Thym 2016a: 2, Rn 3).

Der Vertrag von Nizza (2001 unterzeichnet, 2003 in Kraft getreten) erweiterte das ordentliche Gesetzgebungsverfahren auf weitere Politikbereiche, sodass nach einer Übergangsphase von fünf Jahren erste Mehrheitsbeschlüsse in diesem sensiblen Politikfeld möglich wurden (Art. 67 Abs. 5 EGV-Nizza, Vertrag von Nizza v. 26.2.2001, ABl. Nr. C 321E/37 v. 29.12.2006 und Protokoll Nr 35 (zu Art 67), ABl. Nr. C321E/317 v. 29.12.2006). Daraufhin führte der Rat eine Brückenklausel ein, die mehr Politikfelder dem qualifizierten Mehrheitsabstimmungen unterwarf und das Europäische Parlament im Mitentscheidungsverfahren stärker in den Rechtsetzungsprozess einbezog.2

Der neu geschaffene europäische Raum brachte zudem neue sicherheitspolitische Herausforderungen mit sich: Beim Wegfall der Binnengrenzen braucht es mehr Kooperation in Polizei‑ und Justizangelegenheiten. Eine solche engere Kooperation wurde in der Einheitlichen Europäischen Akte vorgesehen (1986 unterzeichnet, 1987 in Kraft getreten), im Vertrag von Maastricht wurden erste Bereiche der Justiz- und Innenpolitik in die europäische Zusammenarbeit aufgenommen (1993) doch teilweise erst im Vertrag von Lissabon (2007 unterzeichnet, 2009 in Kraft getreten) in die Gemeinschaftspolitik verlegt.

Ein weiteres Folgeabkommen in diesem Sinne beschlossen die damals elf Mitgliedstaaten der Europäischen Union, Island und Norwegen wiederum als zwischenstaatliches Abkommen im Jahr 2005 über die grenzüberschreitende polizeiliche, strafrechtliche und justizielle Zusammenarbeit (Prümer Vertrag).3 Darunter fällt zuvorderst Informationsaustausch sowie die Zusammenarbeit zur Verhinderung von Straftaten im Bereich Terrorismus, Kriminalität und Migration im Schengenraum.

Im Gemeinschaftsrecht erlebte die Justiz‑ und Innenpolitik einen großen Entwicklungsschritt mit dem Entwurf für den Verfassungsvertrag, der später ohne große Änderungen in den Vertrag von Lissabon integriert wurde.4

Vervollständigt wurde der Ansatz schließlich mit dem Vertrag von Lissabon, der Gesetzgebung zu Einreise, Einwanderung und Asyl in den supranationalen Entscheidungsmodus überführte und die Schaffung eines integrierten Grenzkontrollsystems forderte, wodurch weitgehende gemeinschaftliche Kooperationen zum Grenzschutz im Rahmen europäischer Rechtsetzung ermöglicht wurden (Art. 77-80 AEUV).

2.2 Warum Schengen bedeutsam für die Grenz- und Asylpolitik der EU ist

Im vorherigen Kapitel ist bereits deutlich geworden, dass die Kooperation der ursprünglichen Schengenstaaten Deutschland, Frankreich, Belgien, Niederlande und Luxemburg den Beginn und die Notwendigkeit für die europäische Grenz‑ und Asylpolitik geschaffen hat.

Es ist bemerkenswert, dass die Verwirklichung eines zentralen Vertragsziels der Römischen Verträge – nämlich die Grundfreiheit der Personenfreizügigkeit zu realisieren und durch die Abschaffung von Binnengrenzkontrollen den Handel und Austausch zu erleichtern – zunächst im völkerrechtlichen Rahmen statt im Rechtsrahmen der Wirtschaftsgemeinschaft geschehen ist.

Im Folgenden wird genauer beleuchtet, wie das Schengener Abkommen entstanden ist, welche Implikationen es für die heutige Grenz‑ und Asylpolitik hat und weshalb Schengen aus integrationstheoretischer Perspektive als spill-over-Beispiel europäischer Integration gelten kann.

Besonders interessiert die Entstehung der sogenannten Dublin-Kriterien, die im Rahmen der Schengener Kooperation ausgearbeitet wurden und bis heute sowohl Anker als auch größter Streitpunkt der europäischen Asylpolitik sind.

2.2.1 Schengen: Kooperationsbeginn, Regeln und teilnehmende Staaten

Den Grundstein für den heutigen Schengenraum legten der deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl und der französische Präsident François Mitterrand mit einem bilateralen Regierungsübereinkommen, das die Erleichterung bei den Kontrollen an den deutsch-französischen Grenzen vorsah. Diesem Projekt schlossen sich Belgien, Niederlande und Luxemburg an, die zu diesem Zeitpunkt untereinander bereits seit 25 Jahren auf Grenzkontrollen verzichteten.

Die ersten fünf Staaten des Schengenraums waren Gründerstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft. Auch wenn es sich um zwei bevölkerungsreiche und drei kleine Staaten handelte, ähnelten sich die fünf Staaten in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht stark: Es handelte sich um gewachsene liberale Demokratien mit solider Wirtschaftskraft und stabilen Sozialsystemen. Divergenzen waren eher marginal und betrafen die Wirtschaftsbereiche, die zentral für den Wohlstand der Staaten waren. Auch die Größe des gemeinsamen Raums spielte eine Rolle: Zu Beginn der Schengenkooperation verfügte – mit der Ausnahme Luxemburgs – jeder Schengenstaat über eine Außengrenze, deren Übertreten die Einreise in den gesamten Schengenraum bedeutete.

Am 14. Juni 1985 wurde in Schengen, einem kleinen Ort in Luxemburg, der unmittelbar an Frankreich und Deutschland grenzt, ein Abkommen mit dem Ziel unterzeichnet, dass Binnengrenzen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ohne Personenkontrollen überquert werden können. Seither wird der dadurch geschaffene grenzfreie Raum als Schengenraum bezeichnet. Die Reisefreiheit sollte es fortan BürgerInnen, Geschäftsreisenden, Touristen, Migranten und Asylsuchenden ermöglichen, sich frei im Schengenraum zu bewegen.

Das Schengener AbkommenSchengener Abkommen war ein völkerrechtlicher Vertrag, der außerhalb der bestehenden europäischen Rechtsgemeinschaft geschaffen wurde. Das zeigt sich bis heute daran, dass es einerseits Mitgliedstaaten der Europäischen Union gibt, die nicht zum Schengenraum zählen (z.B. Irland), andererseits Schengenmitglieder, die nicht Mitglieder der Europäischen Union sind (Island, Norwegen, Schweiz) und drittens Schengen-Anwärterstaaten (Rumänien, Bulgarien, Kroatien, Zypern), die noch nicht voll in Schengen integriert sind.

Rechtlich wurde der Schengener Besitzstand mit dem Vertrag von Amsterdam und dem Beschluss des Rates vom 20. Mai 1999 in das Recht der Europäischen Union überführt (1999/435/EG). Für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union ist das Schengenrecht inzwischen Unionsrecht, während es für die darüber hinaus anwendenen Schengenstaaten internationales Recht bleibt.

Zur Verwirklichung der Abschaffung von Binnengrenzkontrollen brauchte es detaillierte technische Absprachen wie Fragen und Konflikte geregelt werden, die sich aus dem neuen gemeinsamen Schengenraum ergeben. Fünf Jahre nach der Unterzeichnung des Abkommens wurde schließlich das Schengener Durchführungsabkommen unterzeichnet (SDÜ bzw. Schengen III), das Maßnahmen zur Sicherheit, zum Außengrenzschutz, zur polizeilichen Zusammenarbeit in grenzüberschreitenden Fällen enthielt. Zudem wurde ein Fahndungssystem eingerichtet (Schengener Informationssystem, auch SIS abgekürzt) und grundsätzliche gemeinsame Regeln bei der Einreise von Touristen, Geschäftsreisende und Asylsuchenden festgelegt.

Im Schengener Durchführungsabkommen wurde auch die Zuständigkeitsfrage in Asylfragen geregelt. Das Dubliner Übereinkommen, das auch als Dublin-System bekannt ist, enthielt eine Liste von Kriterien zur Feststellung der Zuständigkeit eines Mitgliedstaates. In diesem Übereinkommen betonten die Schengenstaaten, dass es „faire“ und „objektive“ Kriterien seien, die die Zuständigkeit genau eines Mitgliedstaates präzise festlegen. Bis dato wurden Asylverfahren dort durchgeführt, wo Asylanträge eingereicht wurden. Von nun an sollte dem tatsächlichen Verfahren eine Prüfung vorausgehen, in dem nach klaren Kriterien festgestellt wurde, welcher Mitgliedstaat des Schengenraums für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig war.

Übergreifend galt, dass derjenige Mitgliedstaat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig wurde, zu dem der Antragsteller die engste rechtliche Verbindung aufwies. Eine solche bestand eindeutig, wenn ein Mitgliedstaat für den Antragsteller ein Visum ausgestellt hatte. Eine indirekte rechtliche Verbindung bestand, wenn Verwandte des Antragstellers bereits in einem Mitgliedstaat ein Asylverfahren durchliefen oder bereits als Flüchtlinge anerkannt waren. Im Sinne des Familienschutzes übernahm dieser Mitgliedstaat dann alle Anträge der Familienmitglieder. In den meisten Fällen wurde allerdings derjenige Staat zuständig, in dem der Asylbewerber erstmalig in den Raum der Wirtschaftsgemeinschaft eingereist war, das sogenannte Ersteinreiseprinzip. Die Staaten einigten sich damit faktisch auf das Ersteinreiseprinzip als Hauptkriterium zur Bestimmung der juristischen Zuständigkeit für ein Antragsverfahren.

Nun ist zu berücksichtigen, dass sich die politische Geographie des Schengenraumes in den 1990er Jahren ebenso wie Migrationsbewegungen nach Europa noch ganz anders darstellten als heute. Damals war die schnelle, präzise und eindeutige Bestimmung desjenigen Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines Asylantrags zuständig war, ein Randthema des Binnenmarktprojektes (Lavenex 2001: 860). Diese Situation hat sich inzwischen umgekehrt: die Zuständigkeitsfrage Asyl ist spätestens seit 2015 im politischen Zentrum der Gemeinschaft angekommen.

Was sind die Gründe dafür? Zum einen ist der Schengenraum in der Zwischenzeit von fünf auf 26 Vollanwenderstaaten angewachsen. Die Außengrenzen haben sich damit aus einem homogenen Zentrum in einen heterogenen Peripheriebereich verlagert. Die vormals allesamt über Land zu erreichenden Schengenstaaten sind nun umschlossen von Nachbarstaaten, dies trifft insbesondere auf Deutschland zu, bereits in den 1990er Jahren ein wichtiges Zielland für Asylsuchende.

Zum anderen kann Asyl nur in einem Staat beantragt werden. Diese territoriale Dimension wird durch das Ersteinreiseprinzip verstärkt. Da es keine rechtlichen Zugangsmöglichkeiten für Asylsuchende gibt, ist eine irreguläre Enreise oft der einzig mögliche Zugang. Die Einreise ohne die dafür notwendigen Papiere und eine nachträgliche Rechtfertigung dieser nicht-dokumentierten Einreise durch Stellung eines Asylantrags ist völkerrechtlich von der Genfer Flüchtlingskonvention gedeckt.1

Aufgrund strenger Luftfahrtkontrollen im Gegensatz zu weniger stark kontrollierten (und kontrollierbaren) Land‑ und Seeaußengrenzen der Gemeinschaft, ergibt sich ein Schwerpunkt der irregulären Einreise in den ländlichen und maritimen Außenbereichen der Gemeinschaft. Das verpflichtet die Mitgliedstaaten mit Außengrenze zu strengen Kontrollen, weil sie mit der Sicherung ihrer Außengrenzen Verantwortung für das Funktionieren der Freizügigkeit und für die Sicherheit im Schengenraum tragen. Das Prinzip befördert also Strategien, die Asylzuwanderung zu verhindern oder zumindest zu minimieren, was in Konflikt steht mit den humanitären Prinzipien des Flüchtlinsgrechts (dazu mehr in Kapitel 4.1).

Das Ersteinreiseprinzip trat in den Gründerstaaten des Schengenraumes in Kraft, die eine Gemeinschaft mit engen Abhängigkeitsbeziehungen und ähnlichen staatlichen Traditionen bildeten. Die Zuschreibung der Asylgerichtsbarkeit nach dem Ersteinreiseprinzip führte weder zu größeren Verschiebungen in der Verantwortlichkeit oder zu sonstigen Störungen (Marx 2016a: 151).

Flüchtlinge, die den Schengenraum in den 1990er Jahren erreichten, stammten hauptsächlich aus Jugoslawien und migrierten zu einem großen Teil nach Deutschland. Dies hatte hauptsächlich zwei Gründe: Zum einen hatten sich bereits einige Flüchtlinge in Deutschland niedergelassen, weshalb es erste Gemeinschaften gab, die als etablierte ethnische Gemeinschaften gelten konnten. Zum anderen verfügte Deutschland aus historischer Verantwortung über ein großzügiges Asylsystem, das im Grundgesetz verankert war.2 Es lässt sich daher argumentieren, dass die Dublin-Regeln gut funktionierten, als sie nicht wirklich angewendet werden mussten, weil Deutschland in den meisten Fällen das Ersteinreiseland war und dort entsprechend die Asylanträge bearbeitet wurden (Menéndez 2016: 394).

Doch die Dinge änderten sich schnell: Zunächst verfolgte Deutschland ab 1993 eine restriktivere Asylpolitik. Durch eine Änderung des Grundgesetzes wurde das bisher großzügig als Grundrecht verstandene Asylrecht auf politisches Asyl begrenzt. Zudem wurden Transitstaaten effektiv zur Verantwortung gezogen: Flüchtlinge sollten nach Meinung des deutschen Gesetzgebers Anträge dort stellen, wo sie zum ersten Mal ein sicheres Land erreichten – und nicht bis Deutschland wandern (Hix und Hoyland 2011: 290). Seitdem rückten Peripheriestaaten mit Außengrenze stärker ins Visier der Asylzuwanderung und wurden durch die Dubliner Kriterien und den damit einhergehenden Dublin-Überstellungen stärker gefordert (Lavenex 2001: 861).

 

Der Schengenraum ist progressiv gewachsen und zählt nun 26 Anwenderstaaten: Belgien, Dänemark, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Island, Italien, Lettland, Liechtenstein, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden, Schweiz, Tschechien, Ungarn.3 Diese Liste der Schengenstaaten verdeutlicht, dass es sich inzwischen um eine politisch wie sozio-ökonomisch deutlich heterogenere Gemeinschaft handelt im Vergleich zur Gemeinschaft der Gründerstaaten. Auch die Erfahrung mit Flüchtlingen divergiert stark: Gerade die osteuropäischen Mitgliedstaaten haben bislang wenig Erfahrung mit Flüchtlingen (Schmidt 2015).

Die Erweiterung der Europäischen Union und des Schengenraums haben auch dazu geführt, dass Deutschland als Zielland nicht mehr direkt zu erreichen ist; dadurch ist es auch schwieriger geworden, Deutschland für Asylverfahren zuständig zu erklären (Menéndez 2016).

Auch die Asylzuwanderung hat sich verändert: Während die 1990er Jahre noch von der Zuwanderung aus Jugoslawien geprägt waren, so nahm in den 2000er Jahren die Einreise aus Nordafrika und dem Nahen Osten Richtung Südeuropa zu. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte diese Zuwanderung im Jahr 2001 mit der Ankunft von 400.000 Flüchtlingen vor allem aus Afghanistan und Irak vorrangig in Italien, Malta und Griechenland (Hix und Hoyland 2011: 290-291).

Die hauptsächlichen Zielstaaten haben sich bis 2010 kaum verändert: Gemessen an ihrem Bruttoinlandsprodukt verzeichneten Deutschland, Malta, Schweden, Belgien und Österreich die größte Anzahl an Asylanträgen (Hix und Hoyland 2011: 290-291). Die Gründe für diese spezifische Proportionalität sind einerseits geographisch bedingt (Malta), andererseits das Ergebnis historischer Verbindungen zu kolonialem Erbe (Belgien) oder bedingt durch die vergleichsweise guten Aufnahmebedingungen in nationalen Asylsystemen ebenso wie das Vorhandensein einer Diaspora (Deutschland, Schweden) (Hix und Hoyland 2011: 290-291).

Im Jahr 2014 erhielten Deutschland, Schweden, Italien, Frankreich und Ungarn die meisten Anträge gemessen an ihrem Bruttoinlandsprodukt (Europäische Kommission 2015a). Im Vergleich zur Bevölkerungszahl haben hingegen Schweden, Ungarn und Österreich im Jahr 2014 die meisten Flüchtlinge aufgenommen (Eurostat 2015).

Der Blick auf diese Zahlen und die wiederkehrende politische Diskussion um die Zuständigkeitsfrage verdeutlichen mehrere Aspekte: (1) Schengen steht in erster Linie für den Raum ohne Binnengrenzen, für die Grenzfreiheit in der Europäischen Union. (2) Die Asylpolitik ist mit der Schengenpolitik untrennbar verbunden, das zeigt besonders die Wiedereinführung von Grenzkontrollen ab 2015. (3) Es gibt einen Vorlauf für die Asylschutzkrise von 2015. Über Jahre hinweg nimmt die Asylzuwanderung zu, sind nordeuropäische Staaten wie Deutschland und Schweden Hauptzielstaaten.

Trotz aller Schwierigkeiten, die sich aus dem Komplex Grenze und Asyl ergeben, gilt das Schengener Integrationsprojekt als eine der größten Errungenschaften der europäischen Integration. Diese Einschätzung soll daher nun integrationstheoretisch eingeordnet werden.