Die Grenz- und Asylpolitik der Europäischen Union

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3.1 Grenzen der Europäischen Union – Auflösung der Binnengrenzen

Rechnet man die See‑ und Landaußengrenzen der Europäischen Union in Kilometern zusammen, so summieren sich etwa 14.000 km. Die üblichen Einreisepunkte sind internationale Flug‑ und Seehäfen sowie offizielle Grenzübertrittspunkte. Darüber hinaus erfolgen irreguläre Einreisen seit Beginn der 2000er Jahre vor allem an den Land‑ und Seegrenzen der Mitgliedstaaten Griechenland, Italien, Malta und Spanien. Während der Asylzuwanderung von 2015 sind hunderttausende Menschen von der Türkei nach Griechenland und anschließend über die sogenannte Balkanroute Richtung Österreich, Deutschland und Schweden gewandert.1

Die Begrifflichkeiten rund um GrenzenGrenzen und Migration sind mitunter unscharf. In Bezug auf Grenzschutz wird oft synonym von Grenzmanagement und Grenzkontrollen gesprochen. Gerade bei den Begriffen Grenzmanagement und Grenzkontrollen sind jedoch deutliche Unterschiede festzumachen (so Zaiotti 2017: 107): Während sich Kontrollen spezifisch auf Aktivitäten zur Überprüfung an der Grenze beziehen (bspw. die Überprüfung einer Identität oder eines Transports), so handelt es sich beim Management umfassender um Aktivitäten an der Grenze, die darauf abzielen ein bestimmtes Ergebnis zu erzielen – bspw. die Zahl irregulärer Ankünfte zu reduzieren). Grenzmanagement ist also deutlicher an Politikgestaltungsprozesse geknüpft als konkrete Kontrollen. Diese sind ein Teil des Grenzmanagements, weshalb die Begriffe beide Bestandteile des Grenzschutzes sind, jedoch nicht synonym verwendet werden sollten.

In diesem Kapitel befassen wir uns mit der Auflösung der Grenzen zwischen den Mitgliedstaaten der Europäischen Union durch die Kooperation im wachsenden Schengenraum (3.1.1). Danach blicken wir auf die strategischen Ziele für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, den die Mitgliedstaaten seit dem Vertrag von Amsterdam (1999) sukzessive aufbauten (3.1.2).

3.1.1 Von Schengen-5 zu Schengen-26
Welche Ziele wurden mit dem Schengenraum verbunden?

Die politischen Vordenker auf deutscher und französischer Seite erhofften sich vom SchengenraumSchengenraum die Schaffung eines europäischen Raumes, in dem man sich ohne Grenzkontrollen frei bewegen kann, was den Austausch zwischen Menschen, aber auch den Handel erleichtert und damit ein grundlegendes Fundament des gemeinsamen Marktes realisiert.

Wann sind welche Mitgliedstaaten dem Schengen-Raum beigetreten?

Als Gründerstaaten gelten Deutschland, Frankreich, Niederlande, Belgien, Luxemburg und Italien. Es folgten in der Reihenfolge der Erweiterungen der Wirtschaftsgemeinschaft Portugal, Spanien, Griechenland, Österreich bis Mitte der 1990er Jahre. Im Jahr 1996 wurde der Schengenraum um Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden erweitert. Danach wuchs im Zuge der großen EU-Erweiterung von 2004 auch der Schengenraum um Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Schweiz, Slowakei, Slowenien, Tschechien, Ungarn, Zypern. Bulgarien und Rumänien folgten 2007, ein Jahr später Liechtenstein und Kroatien im Jahr 2013.


Beitritte zum Schengenraum chronologisch
Jahr Beitritt (in Klammern jeweils das Jahr der tatsächlichen Abschaffung der Kontrollen an den Binnengrenzen
1990 Belgien (1995), Deutschland (1995), Frankreich (1995), Italien (1998), Luxemburg (1995), Niederlande (1995)
1991 Portugal (1995), Spanien (1995)
1992 Griechenland (2000)
1995 Österreich (1998)
1996 Dänemark (2001), Finnland (2001), Island (2001), Norwegen (2001), Schweden (2001)
2004 Estland (2007), Lettland (2007), Litauen (2007), Malta (2007), Polen (2007), Schweiz (2008), Slowakei (2007), Slowenien (2007), Tschechien (2007), Ungarn (2007), Zypern (bislang nur teilweise Anwendung)
2007 Bulgarien, Rumänien (bislang nur teilweise Anwendung)
2008 Liechtenstein (2011)
2013 Kroatien (bislang nur teilweise Anwendung)

Anmerkung: Beitritt zum Abkommen bzw. Ratifikation ist nicht gleichbedeutend mit Wegfall der Grenzkontrollen. Oft braucht es drei bis fünf Jahre, bis die Grenzkontrollen faktisch wirklich abgeschafft sind. Im Sonderfall Zypern steht dies aufgrund des Konflikts mit der Türkei noch aus.

Welche Effekte ergaben sich aus der Schengenpolitik für die Innen- und Justizpolitik der EU?

Aus dem Wegfall der GrenzkontrollenGrenzkontrollen zwischen Schengenstaaten ergab sich die Notwendigkeit, über Kontrollen an den Außengrenzen ins politische Gespräch zu kommen und Vereinbarungen für Aufenthalte im europäischen Raum zu kommen. Das gilt für Kurzaufenthalte (Visumtitel) ebenso wie für Asylschutz und langfristige Aufenthaltstitel.

Wer zählt heute zum Schengen-Raum? Wer partizipiert außerdem an der gemeinsamen Innen- und Justizpolitik?

Die Mehrheit der EU-Staaten sind auch Schengen-Vertragsstaaten. Lediglich Irland nimmt ausdrücklich nicht am SchengenraumSchengenraum teil. Hingegen gibt es einige Nicht-EU-Staaten, die dennoch am Schengenraum partizipieren. Das sind die Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) Island, Liechtenstein, Norwegen, Schweiz. Eine Ausnahmesituation ergibt sich für Andorra, Monaco, San Marino und Vatikanstadt. Diese Staaten pflegen sehr enge Beziehungen zu ihren Nachbarstaaten, unterhalten daher auch keine Grenzkontrollen, sind jedoch keine Schengenstaaten. Das bedeutet, dass sie kein Visum für den Schengenraum erteilen können und keinen Zugriff auf das Schengener Informationssystem haben. Einen Sonderstatus haben die spanischen Exklaven Ceuta und Melilla. Hier ist der kleine Grenzverkehr mit Marokko grenzfrei, während Marokkaner ansonsten regulär ein Visum beantragen müssen. Auch der Fährverkehr nach Gibraltar wird kontrolliert.

Welche Vorteile sind mit dem Schengen-Raum verbunden?

GrenzkontrollenGrenzkontrollen sorgen sehr oft für Verzögerungen beim Grenzübertritt. Zudem verdeutlichen Kontrollen, dass es Grenzen gibt. Fallen diese weg, wird ein gemeinsamer Raum erst erfahrbar. Ein praktischer Nebeneffekt ist auch für den grenzüberschreitenden Handel, dass dieser effizienter und damit kostengünstiger abgewickelt werden kann. Durch den Wegfall der Grenzkontrollen fallen Hürden im Austausch weg, das gilt auf persönlicher wie wirtschaftlicher Ebene.

Wer profitiert besonders von Schengen?

Exporte wie Importe werden günstiger und effizienter, dies kann zu mehr Handelsaustausch und günstigeren Verbraucherpreisen führen. Für Schengenraumstaaten ohne Außengrenze fungieren die übrigen Schengenstaaten wie eine Pufferzone zu den Außengrenzen. Im aktuell gültigen Schengenrecht bedeutet es auch, dass weniger Asylsuchende die landumschlossenen Schengenstaaten erreichen.

Für UnionsbürgerUnionsbürger bedeutet Schengen in erster Linie, dass sie an der Grenze zu Nachbarstaaten nicht mehr kontrolliert werden. Die politische Diskussion um den SchengenraumSchengenraum dreht sich hingegen hauptsächlich um flankierende Maßnahmen, die den Verlust der Kontrollen an den Binnengrenzen und den faktischen gemeinsamen Außengrenzen kompensieren (Thym 2016: 33, Rn 3). Diese flankierenden Maßnahmen betreffen die Bereiche Visa, Polizeikooperation, Kriminalität und Einwanderung.

Wer verfügt über einen Sonderstatus im Schengenraum?

Wer nun der Europäischen Union beitritt, kann sich dem Schengenraum nicht entziehen. Seit dem Vertrag von AmsterdamVertrag von Amsterdam (1999) ist das Schengenrecht in Unionsrecht integriert, was neue Beitrittsländer zur Teilnahme am Schengenraum verpflichtet. Irland hat für sich einen Ausnahmestatus durchgesetzt. 26 Staaten sind Vollanwender-Staaten, d.h. die Schengenbestimmungen werden vollständig angewendet. Bulgarien, Kroatien und Rumänien erteilen bisher noch keine einheitlichen Schengen-Visa und führen teilweise noch Personenkontrollen an Binnengrenzen durch. Die Anwendung der Schengen-Bestimmungen in Zypern hängen noch von der Beilegung des Zypern-Konfliktes ab.

Was ist der rechtliche Status des Schengen-Besitzstandes?

Mit dem Vertrag von Amsterdam ist der bis dahin entwickelte Schengener Besitzstand mit dem Schengener Abkommen, Durchführungsübereinkommen, Dublin Übereinkommen und Visakodex durch ein Protokoll in Gemeinschaftsrecht überführt worden. Irland und Dänemark erwirkten für sich Sonderregelungen. Während sich Irland dem SchengenraumSchengenraum komplett entzieht, hat Dänemark eine Sonderposition ausgehandelt, wonach Dänemark über jeden einzelnen durch den Rat beschlossenen Schengen-Rechtsakt entscheidet, ob es diesen in nationales Recht umsetzt.

 

Aufgrund der komplexen Komposition des Schengenraumes handelt es sich um eine Form der verstärkten ZusammenarbeitVerstärkte Zusammenarbeit, die zwar formal alle Mitgliedstaaten umfasst, gleichzeitig jedoch de jure und damit auch de facto Ausnahmeregelungen zulässt, die für einen uneinheitlichen gemeinsamen Raum sorgen (Thym 2016: 32, Rn 2).

Viele zunächst zwischenstaatlich beschlossene Regeln wurden inzwischen durch europäische Rechtsinstrumente ersetzt, was zeigt, dass das Schengenrecht reguläres Unionsrecht geworden ist (Thym 2016: 32, Rn 2). Zu den wichtigsten Rechtsinstrumenten zählen in Folge des Amsterdamer Vertrags der Schengener Grenzkodex (Verordnung (EG) Nr. 562/2006 v. 15.3.2006, ABl. Nr. L 105/1, inzwischen Verordnung (EU) 2016/299 v. 9.3.2016, ABl. Nr. L 77/1 v. 23.3.2016, letzte Änderung v. 11.6.2019) und der Visakodex (Verordnung (EG) Nr. 810/2009 v. 13.7.2009, ABl. Nr. L 243/1 v. 15.9.2009, letzte Änderung v. 12.4.2016).

Welche Rolle spielt Sicherheit im Schengenraum?

Die ursprünglich von den Gründerstaaten für eine Handvoll Schengenstaaten eingeführten flankierenden MaßnahmenFlankierende Maßnahmen im Bereich Visa, Einwanderung, Asyl und Grenzschutz sind inzwischen zum Rückgrat der Zusamenarbeit im Bereich europäischer Justiz‑ und Innenpolitik geworden (Thym 2016: 33, Rn 3).

In der Literatur wird dieser Prozess als VersicherheitlichungVersicherheitlichung beschrieben und kritisiert, weil die Innenminister die Politikgestaltung in diesem Bereich stark geprägt haben mit ihrem Fokus auf Sicherheit und Kriminalitätsbekämpfung (dazu ursprünglich Guiraudon 2000; rezipiert von Parkes 2010; Kaunert und Léonard 2012). Daniel Thym wendet ein, dass die Justiz‑ und Innenpolitik im Zuge der schrittweisen Überführung des Politikbereichs in einen Entscheidungsmodus, der die qualifizierte Mehrheit und die Beteiligung des Parlaments erfordert, weniger stark von sicherheitspolitischen Überlegungen gekennzeichnet ist (Thym 2016: 33, Rn 3).

Spätestens im Zuge der Terroranschläge von Paris im Januar und November 2015 ist die Sicherheitsthematik wieder stärker in den Vordergrund der Schengenpolitik gerückt. Frankreich führte mit Verweis auf die Terrorgefahr wieder Grenzkontrollen ein. Im Zuge der MigrationskriseMigrationskrise von 2015/2016 führten zudem Deutschland, Österreich, Dänemark, Schweden und Norwegen wieder Grenzkontrollen mit Verweis auf die nationale SicherheitNationale Sicherheit ein.

Gemäß Schengenrecht ist die Wiedereinführung von GrenzkontrollenGrenzkontrollen rechtmäßig, sofern diese „unter außergewöhnlichen Umständen“ durchgeführt und „für die vorhersehbare Dauer der ernsthaften Bedrohung“ (VO (EU) 2016/399, Art. 25 Abs. 1) beschränkt sind. Sollte eine Bedrohungslage länger andauern, so können die Grenzkontrollen jeweils um 30 Tage verlängert werden. Der Gesamtzeitraum, in dem Kontrollen an Binnengrenzen durchgeführt werden, sollte jedoch zwei Jahre nicht überschreiten (Art. 25 Abs. 4 VO (EU) 2016/399). In Deutschland, Frankreich, Schweden und Dänemark dauern punktuelle Grenzkontrollen jedoch bereits seit 2015/2016 an.

3.1.2 Strategische Ziele im Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts

Mit dem Schengener AbkommenSchengener Abkommen ist die Außengrenzsicherung für alle am Schengenraum teilnehmenden Staaten zu einem Thema gemeinsamen Interesses geworden. Notwendigerweise braucht es Übereinkünfte dazu, wie die Grenzsicherung aussehen soll.

Die strategische Planung in diesem Politikbereich obliegt dem Europäischen Rat und damit den Staats- und Regierungschefs, nicht der Europäischen Kommission (Art. 68 AEUV). Diese Strategien wurden in Mehrjahresprogrammen von den Staats‑ und Regierungschefs festgehalten (ausführlich: Dreyer-Plum 2017: 172-184).

Das erste Strategiepapier: Programm von Tampere (1999)

Das erste Programm dieser Art war das Programm von TampereProgramm von Tampere (Europäischer Rat 1999). Dieses Strategieprogramm erarbeiten die Staats‑ und Regierungschefs im Europäischen Rat in Folge des Amsterdamer Vertrags, dem ersten Vertrag der gemeinschaftliche Politikziele für den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts vorsah (Art. 61 EGV-Amsterdam). Das Programm von Tampere enthielt innen‑ und justizpolitische Ziele für den Zeitraum 2000 bis 2004.

Dem Freiheitsgut der UnionsbürgerUnionsbürger wurde hohe Priorität eingeräumt. Das Freiheitsprinzip sollte nach dem Willen der Staats- und Regierungschefs Grundlage für die gesamte Innen‑ und Justizpolitik sein. Freiheit ist nicht selbstverständlich und gilt in der Gemeinschaft als hohes politisches Gut:

„Es stünde im Widerspruch zu den Traditionen Europas, wenn diese Freiheit den Menschen verweigert würde, die wegen ihrer Lebensumstände aus berechtigten Gründen in unser Gebiet einreisen wollen. Dies erfordert wiederum, daß die Union gemeinsame Asyl- und Einwanderungspolitiken entwickelt und dabei der Notwendigkeit einer konsequenten Kontrolle der Außengrenzen zur Beendung der illegalen Einwanderung und zur Bekämpfung derjenigen, die diese organisieren und damit zusammenhängende Delikte im Bereich der internationalen Kriminalität begehen, Rechnung trägt.“ (Programm von Tampere, Einleitung)

Hier wird die enge Verwebung von Einreise und Asyl, Kriminalität und Migration vor dem Hintergrund der Grenzsicherung deutlich. Mit konkretem Bezug zur Grenzpolitik wurden drei Prioritäten formuliert:

Partnerschaft mit Herkunftsländern von Asylsuchenden und Migranten; bessere Bedingungen in Heimatstaaten schaffen, um Einwanderung zu reduzieren (§§ 11-12).

Gemeinsames Europäisches AsylsystemGemeinsames Europäisches Asylsystem schaffen: Anwendung Genfer Flüchtlingskonvention durch Anerkennung Nichtzurückweisungsprinzip, außerdem gemeinsame Standards bei der Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen; gleiche Kriterien bei der Entscheidung über Asylanträge (§§ 13-17).

Migrationsströme effizient steuern: Informationskampagnen in Transit‑ und HerkunftsstaatenHerkunftsstaaten durchführen, Kriminalität in der Migration bekämpfen (Schlepper, die aus der Not der Asylsuchenden Profit schlagen); Rückübernahmeabkommen mit Drittstaaten (§§ 22-27).

Es folgte das Haager ProgrammHaager Programm aus dem Jahr 2004, das für den Zeitraum 2005 bis 2009 ausgearbeitet wurde.

Programm von Den Haag (2004): Sicherheit und Grundrechtschutz

Einige politische Ziele des Programms von Tampere waren bereits erreicht: die Dublin-Verordnung, die Aufnahme‑ und Anerkennungsrichtlinie waren verabschiedet worden, drei wesentliche Elemente des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Damit wurden erste Ziele des Amsterdamer Vertrags und des Programms von Tampere verwirklicht. Auch bei der Harmonisierung der Grenzkontrollen stellte der Europäische Rat Fortschritte fest.

Entworfen wurde das Haager Programm unter dem unmittelbaren Eindruck der Anschläge auf Madrid im März 2004, ebenso wie der Terroranschläge auf die USA im Jahr 2001. Es überrascht daher wenig, dass das Haager Programm stärker noch als das Programm von Tampere von sicherheitspolitischen Überlegungen gekennzeichnet ist. Dennoch war den Staats‑ und Regierungschefs wichtig, dass Freiheit das wichtigste und dominante Prinzip im Raum ohne Binnengrenzen bleibt und entsprechend weiter ausgebaut würde. Das Haager Programm war mit seiner Verabschiedung Ende 2004 auf das Inkrafttreten des Verfassungsvertrags ausgerichtet (der jedoch in Frankreich und in den Niederlanden in nationalen Referenden scheiterte und nicht in Kraft trat). Die Organe und die Gemeinschaft sollten auf die Grundrechtecharta vorbereitet werden, die mit dem Verfassungsvertrag bindend werden sollte.

Der Europäische Rat erwog eine stärkere und wirkungsvolle Verzahnung von Visaantragsverfahren, Einreise‑ und Ausreiseverfahren beim Überschreiten der Außengrenzen (Europäischer Rat 2004).

In Bezug auf GrenzkontrollenGrenzkontrollen forderte der Europäische Rat, dass Informationen und Daten über Wanderungsbewegungen erhoben, weitergegeben und ausgetauscht sowie verwendet würden, um Migrationsbewegungen zu steuern (Europäischer Rat 2004: 17). Dazu sollten auch die bisherigen Informationssysteme weiter ausgebaut werden. Menschen‑ und Freiheitsrechte gerieten mit sicherheitspolitischen Erwägungen in Konflikt:

„Die Sicherheit der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten ist dringlicher denn je, insbesondere in Anbetracht der Terroranschläge […]. Die Bürger Europas erwarten zu Recht von der Europäischen Union, dass sie im Hinblick auf die grenzüberschreitenden Probleme wie illegale Einwanderung, Menschenhandel und -schmuggel, TerrorismusTerrorismus sowie organisierte Kriminalität und deren Verhütung gemeinsam und noch wirksamer vorgeht, dabei jedoch die Achtung der Grundfreiheiten und -rechte sicherstellt.“ (Europäischer Rat 2004: 12)

Die Einreisepolitik und die Beziehung zu Transit‑ und HerkunftsstaatenHerkunftsstaaten rückten ins Zentrum europäischer Überlegungen zur Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Zum verbesserten Umgang mit Asyleinwanderung sah das Haager Programm bis 2010 die Einrichtung einer europäischen Agentur vor. Diese sollte intergouvernemental organisiert sein und die Mitgliedstaten bei Asylfragen, Verfahren und Rückführungen unterstützen (später VO (EU) Nr. 439/2010, weitere Litetratur dazu Geiger/Khan/Kotzur/Kotzur 2017, Art. 78 AEUV, Rn 6 mwN).

Das Programm von Stockholm (2010)

Das Stockholmer ProgrammStockholmer Programm war für den Zeitraum 2010 bis 2014 ausgelegt und setzte die allgemeinen Ziele von Tampere und Den Haag fort. Ziel des gemeinsamen Raums war ein „offenes und sicheres Europa im Dienste und zum Schutz der Bürger“ (Europäischer Rat 2010: Titel).

Die GrenzpolitikGrenzpolitik berührte drei Themenfelder: (1) illegale Einwanderung und Kriminalität, (2) gemeinsame Asylpolitik sowie (3) die Einreise von Drittstaatsangehörigen zu Studien‑ und Arbeitszwecken.

Der illegalen Einwanderung und grenzüberschreitenden Kriminalität sollte durch ein integriertes Grenzmanagement sowie die Zusammenarbeit mit Herkunfts‑ und Transitländern begegnet werden (§ 6.1.6). Die europäische Grenzschutzagentur FrontexFrontex sollte vermehrt Risikoanalysen über Migrationsrouten erstellen und diese Routen überwachen. Zudem sollte Frontex gestärkt werden, indem das Mandat für Frontex präzisiert und ausgeweitet wurde und „einheitliche Grenzüberwachungsstandards“ angewandt würden (§ 5.1, weiterhin: 8-9).

Die gemeinsame Asylpolitik sollte vor allem durch den Ausbau des eingerichteten Unterstützungsbüros für Asylfragen vorangetrieben werden. Ziel war es, einen Schutz‑ und Solidaritätsraum zu schaffen, in dem ein europäisches Asylverfahren angewandt und ein einheitlicher Asylstatus erteilt würde (§§ 3, 5-7). Darüber hinaus ermahnten sich die Staats‑ und Regierungschefs gegenseitig, die bestehenden Rechtsakte des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems einheitlich umzusetzen (§§ 3, 7).