Depression und Burn-out überwinden

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Was geschieht im Gehirn?

Kurz gesagt: Unter andauerndem seelischem Stress und chronischer Überforderung kommen in unserer emotionalen Gehirnregion, dem „limbischen System“, mehrere Botenstoffe so sehr zum Versiegen, dass Stimmung, Motivation und Antrieb einen Tiefpunkt erreichen. Menschen leiden dann auf einmal unter seelischen Symptomen wie Niedergedrücktheit, Panik, Ängsten, Unruhe, Antriebsarmut, gebremster Wut, Traurigkeit, Lustlosigkeit und extremen Stimmungsschwankungen. Die Betroffenen ziehen sich plötzlich von Freunden und Bekannten zurück, da sie sich so „anders“ erleben und die „Normalität“ der anderen schwer ertragen. An Depression erkrankte Menschen fühlen sich häufig wie „im Nebel“ und wirken, als wären sie innerlich „weggetreten“. Eine der schlimmsten Empfindungen ist jedoch wahrscheinlich das Gefühl der „Gefühllosigkeit“. An die Stelle von Gefühlen treten Phänomene wie Gedankenkreisen, Katastrophenfantasien, Denkblockaden, Zerstreutheit und erhöhte Vergesslichkeit.

Wir wissen, dass bei emotional als belastend, stressig oder gefährlich erlebten Situationen von den Kernen der Amygdala im limbischen System Signale ausgehen, die Alarm auslösen, indem sie den Cortisolspiegel, aber auch den Adrenalin- und den Noradrenalinspiegel im Körper erhöhen. Die Folge ist ein Anstieg von Puls, Blutdruck, Atemfrequenz, Blutzucker, Temperatur und Muskelanspannung. Dies erzeugt den bekannten Zustand von innerer Unruhe bis zu Angst und Panik. Gezielte Blutgefäßveränderungen in einzelnen Organen oder Körperteilen können je nach der persönlichen Konstitution des Einzelnen zu Körpersymptomen führen, die man sich manchmal schwer erklären kann. Auf lange Sicht kann es zu einem Versagen der Funktion der Nebennierenrinde mit chronischer Erschöpfung des gesamten Systems kommen. Dies geht oft mit einer Schwächung des Immunsystems einher und das kann zu verschiedenen Krankheiten führen.

Diesen Alarmzustand können wir nicht willentlich steuern. Es handelt sich nämlich dabei um sogenannte Reflexe, die auch bei Tieren ausgelöst werden, wenn Gefahr droht. Ihr Sinn ist, dass wir entweder kämpfen oder fliehen oder uns völlig tot stellen können. Der Unterschied zum Tier ist nur: Tiere reagieren sich ab, bis die Stresshormone verbraucht sind. Dadurch können sie schnell wieder zum Ruhezustand zurückkehren, wenn die Gefahr vorbei ist. Sie fangen dann wieder ganz normal an zu fressen, als wäre nichts geschehen. Wir Menschen aber bleiben meist auf allen unseren Stresshormonen „sitzen“. Das äußert sich dann in all den Symptomen, unter denen Depressive und Menschen im Burn-out leiden.


Vereinfachtes Modell des Alarmsystems im Gehirn und seiner Auswirkungen auf Körper und Seele

Wird ein Mensch auf diese Weise lange Zeit seelisch und körperlich überfordert, zum Beispiel durch das chronische Gefühl: „Ich halt‘ das nicht mehr aus!“, so wird das innere Alarmsystem nicht mehr ausgeschaltet und es fehlt die Erholung auf körperlicher und seelischer Ebene. Denn entgegen dem landläufigen Eindruck befinden sich Depressive, selbst diejenigen, die nach außen ganz lethargisch wirken, in einem hochgradigen Alarmzustand, der nicht bewusst abgestellt werden kann. Hält dieser Zustand länger an, so verändert sich die Ansprechbarkeit der Rezeptoren im limbischen System für wichtige Botenstoffe wie zum Beispiel das Serotonin, unseren „Gute-Laune-Transmitter“, der für unsere seelische Stabilität zuständig ist. Was dahintersteckt, ist folgender Mechanismus:

Nach dem Neurophysiologen und Stressforscher Joachim Bauer lösen Anerkennung und Wertschätzung – ja, sogar die bloße Aussicht auf Wertschätzung – im limbischen System über die Erhöhung des Dopaminspiegels ausgesprochene Lustgefühle aus, die eine gute Motiviertheit zur Folge haben. Körpereigene Opioide dämpfen seelischen oder körperlichen Schmerz und Serotonin steigert das Wohlgefühl. Die Frustrationstoleranz ist dadurch sehr hoch. Zusätzlich sorgt Oxytocin für freundschaftliche Zugewandtheit gegenüber anderen Menschen, sodass wir uns ihnen gegenüber öffnen können. Bleibt diese positive Stimulation des limbischen Systems aus, so kommt es zu einem dramatischen Absturz des Selbstwertgefühls. (Vgl. Literaturverzeichnis, Bauer 2004)

Eine depressive Stimmung breitet sich also immer dann aus, wenn die Neurotransmitterproduktion im emotionalen Gehirn durch Frustrationserlebnisse über längere Zeit aus den Fugen gerät. Die Betreffenden fühlen sich dann zunehmend niedergeschlagen und ängstlich. Verlassenheitsgefühle und Selbstablehnung bis zu Selbsthass können so überhandnehmen. Die Stresstoleranz nimmt ab. Unter diesen Bedingungen kann eine psychisch belastende Situationen wie zum Beispiel die Kränkung durch einen Kollegen das Fass zum Überlaufen bringen und eine plötzliche Krise herbeiführen. Meist kündigt sich diese schon einige Zeit vorher an, sie wird jedoch oft lange verdrängt.

Besonders Menschen, die sich als Kinder extrem an ihre Eltern anpassen mussten, sind später depressionsgefährdet. Sie neigen dazu, als Erwachsene ständig die Erwartungen anderer zu erfüllen, statt für sich selbst einzutreten. Die so entstandenen Muster können lange auf einer latenten Ebene bleiben und beispielsweise durch Größenfantasien, ein Helfersyndrom oder die ausschließliche Definition über Leistung ausgeglichen werden. Wenn von außen dann Überforderungen hinzukommen und ein nicht mehr erträgliches Maß erreichen, werden die Depression oder der Burn-out-Zustand offensichtlich.

Depressive Phasen kommen aber natürlich auch bei Menschen mit einer glücklichen Kindheit vor. Manchmal haben solche Menschen allerdings trotzdem bestimmte Lernprozesse nicht machen können, die für eine gute Widerstandskraft im Leben nötig sind. Die Depression kann dann eine Chance sein, diese neu zu erwerben.

Gleichgültig, welche Ursachen zu Ihrer Erkrankung geführt haben: Bei chronischem seelischem Stress gerät unsere gesamte Persönlichkeit auf allen Ebenen des Seins in einen Daueralarmzustand mit all seinen seelischen Symptomen wie Erschöpfung, Niedergeschlagenheit, Angst und Antriebslosigkeit. Die Depression ist das Ergebnis eines Mangels an Neurotransmittern im limbischen System und oft auch einer Erschöpfung der Nebennierenrinde.

Auf der körperlichen Ebene kann „Daueralarm“ zu ganz verschiedenen Körpersymptomen führen. Je nach individueller Veranlagung können Herzrasen, Rhythmusstörungen, hoher Blutdruck, Unruhe, Schlafstörungen, Erschöpfung trotz ausreichenden Schlafs, Schwitzen, Dünnhäutigkeit, Appetitmangel, Verdauungsprobleme und diverse Schmerzen oder andere schwer erklärbare Symptome die Folge sein. Da die Betroffenen diese Symptome bisher nicht gekannt haben, befürchten sie, dass ihr Körper nun vollends versagen könnte. Sie haben Angst, auf Dauer hohen Blutdruck, einen Herzinfarkt, Lähmungen oder sonstige schwere Krankheiten zu bekommen. Diese Befürchtungen sind jedoch lediglich Ausdruck dafür, dass der Körper und die Seele in irgendeiner Form „SOS“ funken, um den Menschen auf seine innere Not aufmerksam zu machen. Insbesondere im Kapitel über Körpersymptome werden Sie dazu Näheres erfahren.

Wenn wir die Sprache all dieser körperlichen und seelischen Symptome verstehen, können wir gezielt Einfluss auf unser Befinden und damit auf die Neurotransmitterausstattung unseres limbischen Systems nehmen. In diesem Buch finden Sie wirksame Selbsthilfestrategien, die dazu beitragen, dass die Alarmreaktionen im limbischen System sich zunehmend beruhigen und das Neurotransmittersystem und die Nebennierenrinde sich wieder erholen. Durch die hier vorgestellte ganzheitliche Herangehensweise entstehen im Gehirn ganz neue Netzwerke, die ein größeres Repertoire an Handlungsspielräumen eröffnen. Damit lässt sich das eigene Leben besser steuern und die Gefahr einer erneuten Erkrankung kann gebannt werden.

Wie Dr. Joachim Bauer betont, kommt es durch diese sehr bewussten Lernprozesse auf der Ebene von Körper, Geist und Seele zu einer vollständigen Regeneration im Bereich der Botenstoffe des Gehirns und zu einer dauerhaften Heilung. Die Persönlichkeit kann sich ganz neu und auf Dauer stabilisieren. (Bauer 2004)

Warum gerade jetzt? Krankheit als Heilungsversuch

Viele Menschen, die erstmals an einer Depression erkranken, sind erschrocken darüber, dass ausgerechnet ihnen so etwas passiert. Viele fragen sich auch, warum sie denn „gerade jetzt“ so reagieren, wo doch die Belastung schon seit Jahren besteht. Leider lässt sich die Seele nicht kontrollieren und jeder „wählt“ genau den richtigen Zeitpunkt, wann er oder sie krank wird: Vielleicht ist erst jetzt Ihre Partnerschaft so stabil, dass man sie mit Krankheit belasten kann. Vielleicht haben Sie durchgehalten, bis Ihre Kinder größer geworden sind oder Sie einen festen Arbeitsplatz gefunden haben. Vielleicht ist aber auch ein jahrelanges Kartenhaus „rechtzeitig“ zusammengestürzt, bevor Sie zu viel Schaden nehmen könnten.

Auf der anderen Seite gibt es Menschen, die seit Jahren immer wieder Rückfälle erleiden und verzweifelt darüber sind, dass bisher keine dauerhafte Heilung eingetreten ist. In jedem Fall bestehen gute Gründe dafür, dass Sie jetzt krank oder noch nicht gesund geworden sind. Die Auslöser und die zugrunde liegenden Stressfaktoren können Sie im Laufe der Behandlung immer besser verstehen.

Die Depression ist zwar eine Krankheit, aber im Grunde ist sie auch ein wichtiger Heilungsversuch der Seele. Menschen, die ihre Depression überwunden haben, betonen immer wieder, dass sie ohne den Leidensdruck der Krankheit niemals diesen neuen und sehr viel tieferen Zugang zu sich selbst gefunden hätten. Vielleicht zum ersten Mal im Leben erlauben sich die Betroffenen, Unterstützung in Anspruch zu nehmen und zu schauen, …

 

•welche Faktoren in ihrem bisherigen Leben zu einer Überforderung geführt haben,

•was an ihren derzeitigen Rahmenbedingungen nicht guttut,

•welche persönlichen Bewältigungsmuster nicht mehr sinnvoll sind (und warum),

•welche „Schwachstellen“ es möglicherweise in der eigenen Persönlichkeit gibt und wie sie neue Kraftquellen und Werkzeuge gewinnen, um mit dem eigenen Leben besser zurechtzukommen.

Zugegeben, unsere heutigen Lebensbedingungen mit all ihrer Hektik bereiten uns eine Menge Stress. Auch sind die Erwartungen von außen, aber auch die eigenen Ansprüche an Wohlstand und Glück oft viel zu hoch. So mancher kann dadurch aus dem Gleichgewicht geraten. Jeder Mensch hat jedoch – abgesehen von den gesellschaftlichen Bedingungen, die uns alle betreffen – ganz individuelle Voraussetzungen für seine Erkrankung. Nicht das absolute Maß an innerer und äußerer Belastung ist entscheidend dafür, ob Sie krank werden oder nicht. Vielmehr spielen Ihre ganz persönliche Vorgeschichte, Ihre körperliche und seelische Konstitution, aber auch Ihr ganz persönliches Schicksal eine wesentliche Rolle.

Im Laufe unserer Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen kann so manches schiefgehen. Da haben Sie vielleicht ein Leben lang Ihre fehlende Selbstsicherheit mit besonderer Leistungsbetonung und betont lockerem Auftreten übertünchen müssen. Sie haben sich vielleicht schon viel zu lange „zusammengerissen“, damit nur ja keiner merkt, wie es wirklich in Ihnen aussieht. Ausgerechnet Sie haben vielleicht einen Arbeitsplatz, an dem Ungerechtigkeiten oder Überforderungen an der Tagesordnung sind, was Sie schon seit Jahren in innere Not gebracht hat. Vielleicht sind Sie auch durch Schicksalsschläge völlig überfordert. Vergleiche mit anderen Menschen, die vielleicht den gleichen Belastungen ausgesetzt sind wie Sie, die aber gesund bleiben, nützen hier gar nichts.

In der Krise ist die Abwehr meist zusammengebrochen. Zusammenreißen geht nicht mehr. Tapfer sein auch nicht. Körper, Geist und Seele verweigern jegliche Leistung. Für jemanden, der es gewohnt war, sich ständig zu überfordern, ist das zunächst eine sehr bedrohliche Erkenntnis. Die Fassade bröckelt, die Fundamente wackeln. Im Grunde ist die Depression jedoch eine notwendige und „gesunde“ Verweigerung des ganzen Menschen, die dazu dient, sich neu im Leben auszurichten. Endlich ist Zeit, um Ihre gesamte Energie zur Regeneration all ihrer Kräfte zu nutzen.

Die typischen Symptome einer Depression, sowohl körperliche als auch seelische, wollen uns immer etwas sagen. So kann die Tatsache, dass Sie sich körperlich und seelisch völlig erschöpft fühlen und Ihr Herz viel zu schnell schlägt, daran erinnern, dass Sie mehr Stille, Schutz und Erholung brauchen. Die Tatsache, dass Ihr Gedächtnis und der gesamte Denkapparat, ja, oft sogar das Hörvermögen in Mitleidenschaft geraten sind, will signalisieren, dass Ihr Kopf dringend Entlastung braucht. Es fühlt sich oft an, wie wenn das System abgeschaltet hat, ein seelischer „Totstellreflex“, der wie im Tierreich dem Überleben dient. Auf diese Weise verschafft Ihre Seele sich mehr Gehör. Zu lange war sie unter Druck oder bekam zu wenig Aufmerksamkeit.

Manche Depressive trifft die Erkrankung zu einem Zeitpunkt, an dem die größten seelischen Belastungen eigentlich längst vorbei sind. So liegt vielleicht die überfordernde Pflege eines Angehörigen hinter ihnen und eigentlich könnte eine Phase des Aufatmens folgen. Vielleicht haben sie nach einer längeren Mobbingphase am Arbeitsplatz endlich wieder gute Arbeitsbedingungen. Offensichtlich hat die anstrengende Zeit ihre Seele jedoch so sehr überfordert, dass das System jetzt jeglichen Dienst verweigert. Jedoch kann auch die Tatsache, nun nicht mehr gebraucht zu werden oder unter Druck zu sein, eine tiefe Sinnkrise auslösen.

Bei Depressiven, die seit Jahren immer wieder Rückfälle haben und unter heftigen Symptomen leiden, fehlen nach meiner Erfahrung oft noch ganz bestimmte Bausteine für einen nachhaltigen Heilungsprozess, die es herauszufinden gilt. Vielleicht hat die bisherige Behandlung die tiefer liegenden Ursachen noch nicht berührt. Vielleicht fehlen noch Bewältigungsstrategien für den Umgang mit bestimmten Stressfaktoren. Vielleicht steckt dahinter ein Problem, das bisher noch nicht angesprochen werden konnte oder durfte. Vielleicht hat die Krankheit auch eine wichtige Bedeutung für Sie, die man nicht einfach ignorieren darf. Schließlich kann es sein, dass für eine dauerhafte Heilung noch nicht der richtige Zeitpunkt gekommen ist oder Sie noch nicht den Menschen gefunden haben, der Sie wirklich versteht.

Gerade in der Behandlung von traumabedingten Depressionen fehlt es vielfach noch an Wissen und Erfahrung, da die Auswirkungen von Traumen erst in den letzten zehn Jahren genauer verstanden werden. Vielen Betroffenen hat es geradezu „die Sprache verschlagen“, sodass es ihnen schwerfällt, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Manche werden auch als „therapieresistent“ angesehen, weil sie angeblich nicht „mitmachen“. Betroffene haben oft einen leidvollen Weg hinter sich, bei dem sie von Therapeuten die Zuschreibung bekommen haben, dass sie angeblich nicht therapiefähig seien. Das ist bitter! Mit dem tiefen Wunsch, gesund zu werden, und der hartnäckigen Suche nach einer kompetenten Begleitung können Betroffene jedoch Schritt für Schritt Fortschritte auf ihrem Gesundungsweg machen.

Genau dieser Prozess, nämlich herauszufinden, was Ihre Seele braucht, um wieder stabil zu werden, ist die Herausforderung dieser Krankheit. Wie im Folgenden beschrieben wird, können Sie selbst dazu eine Menge beitragen.

Worauf es bei der Heilung ankommt

Depression ist eine Antwort der Seele auf innere und äußere Not. Heilung erfolgt meist nicht direkt, sondern indirekt durch Herstellen guter Bedingungen – ein Gedanke, der in der naturheilkundlichen Medizin schon seit Jahrhunderten bekannt ist. In der wissenschaftlichen Medizin und nach der WHO-Definition wird mit „Gesundheit“ ein Zustand des vollkommenen körperlichen, emotionalen, mentalen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Fehlen von Krankheit, Funktionsstörungen oder Gebrechen bezeichnet. Nach dieser Definition gibt es heute streng genommen kaum gesunde Menschen. Im naturheilkundlichen Denken wird hingegen unter Gesundheit die Fähigkeit verstanden, flexibel auf das reagieren zu können, was uns immer wieder aus unserer eigenen Mitte bringt. Hier wird vielmehr die grundsätzliche Regulationsfähigkeit unseres Körpers und unserer Seele in den Mittelpunkt gestellt. Statt eines Zustands von Symptomfreiheit geht es um die Fähigkeit, uns mithilfe unserer Selbstheilungskräfte zu regenerieren und wieder zu regulieren.

Für einen Menschen in der Krise bedeutet das, zu verstehen, wie es dazu gekommen ist und welche Faktoren die „Schieflage“ aufrechterhalten. Statt des Anspruchs unserer heutigen Gesellschaft auf völlige Unversehrtheit und Fitness geht es mehr um die Wertschätzung und Akzeptanz der eigenen Möglichkeiten, auch wenn diese unter Umständen begrenzt sind, sowie um unsere Verantwortung, das Beste aus dem eigenen Leben zu machen. Verständlicherweise bedeutet Gesundheit deshalb für den einen schon die Fähigkeit, wieder arbeiten zu können; für einen andern Menschen geht es um Stabilität und Glücksempfinden im privaten Bereich.

Dass es manchen Menschen schwerer fällt als anderen, wieder stabil zu werden, hat unter anderem mit der Neurotransmitterausstattung des Gehirns zu tun, die meist schon im Kindesalter ausgeprägt wird.

So hat eine Untersuchung ergeben, dass es konstitutionell gesehen zwei Gruppen von Kindern gibt. Die eine hat einen normalen Serotoninspiegel, der sie gegen Stresseinwirkungen sehr gut abfedert. Die andere Gruppe von Kindern weist einen erniedrigten Serotoninspiegel auf, wodurch die Kinder deutlich stressanfälliger sind. Interessant ist, dass eine fürsorgliche Haltung der Eltern in den ersten Lebensjahren diesen Mangel völlig ausgleicht und diese Kinder im Erwachsenenalter sogar besonders flexibel und stressresistent macht, mehr noch als die Kinder mit erhöhtem Serotoninspiegel. Belastende oder gar traumatische Kindheitserlebnisse wirken sich bei der einen Gruppe also besonders fatal aus, während die andere Gruppe davon weniger stark irritiert wird.

Man kann sich vorstellen, dass manche Menschen einen ausgeprägteren Neurotransmittermangel haben als andere und deshalb von Medikamenten eher profitieren. Das heißt nicht, dass die einen Medikamente benötigen, die anderen nicht. Vielmehr kann eine vorübergehende oder langzeitige Behandlung bei manchen Menschen wichtiger sein als bei anderen. Es kann sogar sein, dass insbesondere in der Anfangsphase der Krise ein ganzes Arsenal von Medikamenten notwendig ist, um eine Destabilisierung zu verhindern. Das Gehirn ist jedoch äußerst regenerationsfähig und reagiert positiv auf jede stimmige therapeutische Unterstützung.

Medikamente in Form von Psychopharmaka sind eine Möglichkeit, den Betroffenen unerträgliches Leiden zu nehmen und die therapeutische Verarbeitung möglich zu machen. Die alleinige medikamentöse Therapie bringt allerdings keine wirkliche Heilung und erhöht die Gefahr einer erneuten Erkrankung.

Der Grund ist, dass die Ursachen nicht erkannt und bearbeitet werden und sich deshalb an den zugrunde liegenden ungesunden Mustern nichts verändert. Allerdings möchte ich erwähnen, dass gewisse Mangelzustände stofflicher Art und manche Grunderkrankungen ähnliche Symptome verursachen wie Depression oder Burnout. Ich denke hier an die Wochenbettdepression, die Schilddrüsenunterfunktion oder schwere Allgemeinerkrankungen. In diesen Fällen bedarf es gezielter ganzheitlicher Behandlung und unterstützender Medikamente, damit auch die Seele wieder ins Gleichgewicht kommen kann. In den Kapiteln über Körpersymptome und Nahrung für die Seele wird darauf näher eingegangen.

In der heutigen Medizin gibt es gute therapeutische Behandlungsansätze, die sich ständig weiterentwickeln. Dabei kommt es weniger auf die verwendeten Methoden als auf die heilende Beziehung zwischen dem Hilfesuchenden und dem Behandler an, mit dem gemeinsam nach Wegen aus der Krise gesucht wird.

Es ist mir ein Anliegen, mit diesem Buch von der Festschreibung von Krankheitszuständen wegzukommen und Heilung nicht als einen idealen Endzustand, sondern als einen Prozess betrachten, der in vielen kleinen Schritten gelingen kann. Auf diese Weise erschließen sich neue Denkhorizonte und die Kreativität, die es braucht, um auch mit schwierigen Krankheitsverläufen umgehen zu können. Ich möchte deshalb die bei jedem Menschen vorhandenen Selbstheilungskräfte in den Vordergrund stellen, die dann wirksam werden, wenn sich günstige Bedingungen dafür ergeben: das Gefühl, wirklich verstanden zu werden, die Möglichkeit sich selbst zu verstehen, bessere Lebensumstände wie zum Beispiel ein geschütztes Umfeld, stärkende Substanzen, vor allem aber wirksame Strategien, die einem Menschen das Gefühl geben: „Ich bin nicht ohnmächtig, sondern handlungsfähig.“

Wenn man bedenkt, dass sich erst seit etwa zehn Jahren Behandlungskonzepte für schwer traumatisierte Menschen entwickeln, kann man ermessen, wie viele an Depression Leidende noch keine Hilfe finden konnten. Auch gibt es keine Patentrezepte für Menschen, die an einer zunehmend süchtigen Gesellschaft mit all ihrer Wohlstandsverwahrlosung und der damit verbundenen Sinnentleerung leiden. Jedoch haben mir meine guten Erfahrungen in der Arbeit mit Depressiven, die schon sehr lange krank oder wiederholt erkrankt waren, bestätigt: Heilung im Sinne einer geglückten Lebensbewältigung ist grundsätzlich immer möglich. Mit welchen Hilfsmitteln, ob mit oder ohne medikamentöse Unterstützung, sei dahingestellt. Sie, die Sie auf der Suche nach Antworten sind, werden hier viele Anregungen finden, wie Sie einen Schritt weiterkommen auf dem Weg zu Ihrer ganz persönlichen Gesundheit, nämlich der Fähigkeit, Ihr Leben wieder selbst zu steuern. Heilung setzt also die folgenden Schritte voraus:

•die Symptome verstehen

•das System beruhigen

•gute Rahmenbedingungen schaffen

•neue Perspektiven entwickeln

An der Tür des Aufenthaltsraumes einer psychosomatischen Klinik fand ich folgenden Spruch, dem nichts hinzuzufügen ist:

„Krankheit ist ein Symptom verirrten Lebens. Sie drosselt das Tempo falscher Bewegung. Denn verlangsamtes Leben findet zu sich selbst zurück. Der Körper verweigert sich weiterer Oberflächlichkeit und zwingt das Leben in die Tiefe.“