Welt der Schwerter

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Kapitel 2

So lehren sie es uns, dass wir Frauen nicht nur schwächer sind, sondern auch schlichter im Geiste und in allem geringer. Aber weshalb sollte die Erdmutter einer der unseren dann solche Macht verleihen?

– 14. Akh’Eldash, 5. Eintrag, Verse 17+18

Lynn saß mit angezogenen Beinen in einem der Lehnstühle im Arbeitszimmer der Priorin und zitterte trotz der Wolldecke. Das Zittern kam tief aus ihrem Inneren und wollte einfach nicht aufhören. Wieder und wieder befühlte sie die Erhebung in der Mitte ihre Stirn, dort, wo sie gesalbt worden war. Das Mal hatte eine glatte Oberfläche, glatter als Haut, mehr wie polierter Stein. Sie fühlte die Glätte zwar an den Fingerspitzen, aber an ihrer Stirn war die Stelle völlig taub. Als gehöre dieses Ding nicht zu ihr.

Die Priorin reichte ihr wortlos einen Spiegel. Lynn nahm ihn, zögerte aber, hineinzublicken. Noch konnte es eine einfache Schwellung sein, eine Beule, die sie sich in der Dunkelheit der Höhle zugezogen hatte.

»Schau hinein, Lynneth. Sieh dich an.«

Widerstrebend gehorchte sie. Ein blasses Gesicht schaute ihr entgegen, und auf der Stirn leuchtete rot wie ein Sonnenuntergang der No’Ridahl, der Kuss der Göttin.

Er wirkte durchsichtig, doch dahinter sah Lynn nicht ihre Stirn, sondern in eine weite, offene Leere, in der sich Schlieren bewegten. Bei dem Anblick wurde ihr schwindelig, und sie ließ den Spiegel sinken.

Unzählige Namen hatte man ihm gegeben: Liebesfleck, Himmelsauge, Rotstern, aber auch Sklavenmacher und Knebelstein.

Die Priorin setzte sich neben sie und legte die Hand auf Lynns angezogene Beine. »Du bist die achtundvierzigste Akh’Eldash des neuen Reiches, die Hohepriesterin der Erdmutter.«

Hohepriesterin. Genaugenommen stand sie damit sogar über der Priorin. Doch während die Priorin den Orden führte, waren die Aufgaben der Akh’Eldash ritueller Natur. Sie würde die Liebe der Göttin wirken, was immer das heißen mochte. Ihre wichtigste Aufgabe war es, sich mit dem König des Landes zu vereinigen und ihm Kinder zu gebären.

»Ich bin die Falsche.« Lynn war noch immer wie betäubt. »Die Erdmutter hat sich geirrt.«

Die Priorin lächelte nachsichtig. »Es ist nicht unsere Aufgabe, die Große Mutter zu hinterfragen. Sie hat entschieden, und niemand kann daran mehr etwas ändern.«

»Aber ich kann das nicht!«

»Was denn?« Der Blick der Priorin wurde streng. »Du wirst der Göttin dienen und ihre Liebe wirken, das ist deine Berufung.«

»Was bedeutet das überhaupt?«

»Dass du allen Menschen das Wesen der Erdmutter zeigst. In dir wird jeder die Liebe der Mutter erkennen.«

Wie sollte sie einem solch enormen Anspruch gerecht werden? Wie sollte irgendein Mensch das können – und nun gerade sie, die noch nie im Leben verliebt gewesen war?

Nicht nur, dass man ihr eine unlösbare Aufgabe stellte, sie durfte noch nicht einmal selbst entscheiden, wie sie ihr Leben gestaltete, um sie zu erfüllen. »Aber ich werde einem Mann gehören.«

»Ja, und er wird dir gehören. Er wird dich lieben.«

»Das ist keine Liebe«, sagte Lynn verstockt. »Es ist ein Zauber.«

Die Priorin seufzte. »Jede Liebe auf der Welt geht auf die Erdmutter zurück: die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind, die einer Frau zu ihrem Mann und auch die, die der No’Ridahl weckt. Sie alle sind gleichermaßen ein Zauber.« Sie erhob sich. »Warte hier.«

Lynn legte den Spiegel zur Seite und zog die Decke fester um sich, obwohl sie nicht mehr fror. Das Zittern war abgeklungen, und das lähmende Entsetzen wich langsam einem zornigen Trotz. Sie würde natürlich tun, was der Orden von ihr erwartete. Was blieb ihr anderes übrig? Aber sie musste es weder unterwürfig noch gern tun.

Doch. Genau das wurde von ihr verlangt: Ergebenheit und Sanftmut, Demut und Fügsamkeit. Das erwartete man von jeder Ehefrau und umso mehr von der Akh’Eldash, deren Aufgabe es war, ein Vorbild an Liebe und Hingabe zu sein. Aber so war sie nicht, war sie nie gewesen. Die Priorin hatte es selbst gesagt: Sie würde daran zerbrechen – und nun verlangte die Göttin genau das von ihr. Die Große Mutter, die allen ihren Kindern ins Herz sehen konnte, musste doch wissen, dass Lynn die Allerungeeignetste für diese Aufgabe war. Hatte sie das nicht bewiesen, als sie Thaja geholfen und damit das Ritual gestört hatte?

Die Priorin kehrte mit einer Kassette zurück und Lynn fragte: »Wie geht es Thaja?«

»Sie ist aufgewacht und lässt dich grüßen.« Die Priorin setzte sich wieder, stellte das Kästchen auf ihren Schoß und entnahm ihm einen zarten, weißen Stoff. »Der Lorun-Uhn, der Reifschleier der Akh’Eldash.« In ihren Händen entfaltete sich ein luftiges Gespinst. »Man erkennt es von außen kaum, aber er ist in Augenhöhe weniger dicht gewebt.«

»Also werde ich mein Unglück zumindest kommen sehen.« Lynn biss sich auf die Unterlippe, aber der Satz war ihr schon entschlüpft. Die Priorin antwortete nicht darauf. Sie deckte den Schleier über Lynns Kopf und schob ihr den eingearbeiteten Reif über die Stirn. »Nicht der Schleier verdeckt den No’Ridahl, sondern der Reif, aber beides gehört zum Ornat der Akh’Eldash.«

Der Lorun-Uhn war angenehm zu tragen. Er drückte nicht auf den No’Ridahl und der Stoff behinderte den Blick weit weniger, als Lynn erwartet hatte. Es sah bloß aus, als sei die Welt von weißem Raureif überzogen.

Die Miene der Priorin wurde streng. »Es ist meine Pflicht zu betonen, dass kein Mann dieses Mal zu sehen bekommen darf, außer Prinz Siluren. Ich verstehe, dass es eine große Versuchung ist, zu erproben, ob der Anblick des No’Ridahl tatsächlich jeden Mann in Liebe entbrennen lässt, aber dieser Versuchung nachzugeben, hat schon viel Unglück über das Reich gebracht.«

»Natürlich, Hohe Schwester.« Lynn kannte die Legenden: Neran und Haldia, der Krieg der Brüder und natürlich das Los der unglücklichen Vhellin von Lathem. Sie hatte keinen Bedarf danach, mehrere Männer um ihre Gunst streiten zu lassen. Bis vor wenigen Stunden hatte sie noch geglaubt, sich niemals von einem von ihnen auch nur berühren lassen zu müssen.

»Muss ich diesen Schleier nun mein Leben lang ununterbrochen tragen?« Eine schreckliche Vorstellung. Ob man sich jemals daran gewöhnte?

»Nein, natürlich nicht. Nur bis der Prinz den Uhlan vollzogen hat.«

Lynn spürte ein unangenehmes Kitzeln im Genick. »Was ist der Uhlan?«

»Ein Ritual, mit dem der Prinz den No’Ridahl zerstört.« Die Priorin zögerte, ehe sie fortfuhr: »Es muss noch in der Nacht geschehen, in der du zum ersten Mal sein Lager teilst. Bevor die Sonne aufgeht, wird der Prinz den No’Ridahl mit einer glühenden Nadel durchstoßen und der No’Ridahl wird sich zurückbilden. An diesem Tage verliert er seine Wirkung, aber die Liebe, die er bis dahin erweckt hat, bleibt bestehen. Von diesem Tag an trägst du den Schleier nur noch bei offiziellen Anlässen, als Zeichen deiner Würde als Akh’Eldash.«

»Was bewirkt das Mal noch?«, fragte Lynn. »Werde ... ich den Prinzen auch lieben?«

»Nein.« Die Antwort war knapp und eindeutig. »Das ist auch nicht nötig, denn die Akh’Eldash ist gehorsam und fügt sich dem Willen der Erdmutter und den Befehlen des Ordens.« Die Priorin schaute streng und Lynn senkte den Blick.

»Andererseits«, die Stimme der Priorin wurde weicher, »ist es nicht ungewöhnlich, dass sich das Herz der Akh’Eldash dem Mann zuwendet, der sie mit seiner Liebe und Fürsorge umgibt. Es heißt, Prinz Siluren sei ein sanfter, liebenswürdiger Mann.«

Das bedeutete also, wenn sie Glück hatte, würde er sie nicht gleich in der ersten Nacht in sein Bett zwingen und sie unter seinem schwitzenden Körper begraben. Lynn wäre beinahe in Tränen ausgebrochen, aber sie nahm sich zusammen. »Wann werde ich das Stift verlassen müssen?«

»Wenn deine Eskorte am gleichen Tag aufgebrochen ist wie der Schwirrer, dann wird sie in fünf oder sechs Tagen hier sein.«

Einige Tage Galgenfrist also. »Wird der Prinz selbst kommen, um mich zu holen?«

»Das wäre ungewöhnlich. Meist schickt er den Kanzler oder einen anderen Vertrauten.«

Einen Vertrauten, natürlich. Am besten einen Greis. Nicht jemanden, der das Geschenk enthüllen und in Begehren entbrennen würde. Nicht jemanden, der zusammen mit der Akh’Eldash auch den Thron des Reiches erobern wollte. Also verlängerte sich ihre Galgenfrist um die Tage, die sie für die Reise nach Hohenvarkas benötigte.

»Was wird meine Aufgabe an der Seite des Königs sein?« Außer natürlich für Nachkommenschaft zu sorgen. Die letzte Akh’Eldash hatte diese Aufgabe nur unzureichend erfüllt und war schon nach der ersten Geburt im Kindbett gestorben. Da der König nicht noch einmal hatte heiraten wollen, hatte es seit zwanzig Jahren keine Hohepriesterin mehr gegeben. Ihre offiziellen Pflichten waren Lynn daher nur schemenhaft bekannt.

»Nun, zum Ersten machst du deinen Gatten zum König.«

Das war Lynn neu. »Ich dachte, das ist sein Geburtsrecht.«

»Nein. Erst durch die Ehe mit der Akh’Eldash wird der Prinzregent zum König. Ohne deinen Segen ist seine Position anfechtbar.«

»Und wenn ich einen anderen erwähle?«

»Das wäre sehr dumm.« Die Priorin hatte wieder ihren strengen Blick. »Kein Mann in seiner Position wird leichtfertig auf den Thron verzichten nur um der Grille eines Mädchens willen. Du kennst die Geschichte unseres Landes und seiner Spaltung.«

Schwester Galabins Lektionen waren nur schwer zu vergessen, denn ihre Strafe für Schwätzen oder Kichern bestand darin, dass die Delinquentin die verbliebene Zeit der Unterweisung stehend zu verbringen hatte, mit ausgestreckten Armen und einem Buch auf dem Kopf. Außerdem hatte Lynn aufgrund ihrer langen Zeit im Stift diese Lektion bestimmt dreimal gehört: Vor gut dreihundert Jahren hatte ein Bruderkrieg das Land Eldama in die Reiche Galathräa und Oneräa geteilt. Aber Lynn hatte immer angenommen, dieser Krieg sei dem üblichen Machthunger der Männer und der Streitlust zweier Brüder geschuldet gewesen.

 

»Eine Akh’Eldash hat dies verursacht? Davon hat Schwester Galabin nie gesprochen.«

»Weil sie euch die Landesgeschichte lehrt, nicht Liebesgeschichten. Aber ja, die fünfunddreißigste Akh’Eldash, Erina von Brelach, erwählte statt des Thronfolgers Oneron dessen jüngeren Bruder Galather. Nach ihm heißt unser Land Galathräa, und das Land jenseits des Rimbeth nach seinem Bruder Oneräa.«

Lynn ließ sich das durch den Kopf gehen. »Aber wenn Oneron der Ältere war, bedeutet das dann nicht, die Könige von Oneräa sind die wahre königliche Linie von Galathräa?«

»Nein.« Der Tonfall der Priorin ließ keinen Widerspruch zu. »Die Akh’Eldash macht den Mann zum König. So ist das Gesetz und der Wille der Erdmutter selbst. Diese Tradition reicht weiter zurück als sogar das Volk der Eldamiten.«

»Weiter zurück als das Reich Eldama?«

Jetzt lächelte die Priorin. »Akh’Eldash heißt nichts weiter als ›Königin der Eldash‹.«

Die Eldash. Das ominöse Volk, von dem nur noch Legenden sprachen. Bereits sie hatten ihre Königinnen durch die Göttin selbst erwählen lassen. Vielleicht sollte sie doch noch einmal Schwester Galabin danach fragen.

»Zurück zu deinen Pflichten«, sagte die Priorin. »Du wirst die Frau des Königs sein, und dir gebührt der rechte, der hölzerne Teil des Doppelthrones. Deine Treue aber gilt der Göttin. Du wirst dem Orden regelmäßig Bericht erstatten und unsere Weisungen treu ausführen.« Sie entnahm der Kassette ein Buch. »Ich weiß, du hast viele Fragen, und du darfst sie mir alle stellen, doch viele von ihnen wird dir das Buch der Eldash beantworten. Deine erste Aufgabe ist, das Buch abzuschreiben.«

Lynn nahm den gut drei Finger dicken Band und ließ die Seiten durch ihre Finger gleiten, bis sie irgendwo anhielt. Das Buch war nicht gedruckt, sondern mit einer zierlichen, fließenden Schrift gefüllt.

»Es sind die Gedanken all der Frauen, die vor dir von der Erdmutter erwählt wurden. Du schreibst es ab und erhältst damit dein eigenes Exemplar des Eldash-Mithral, und du wirst ihm etwas anfügen.«

Lynn blickte auf. »Was denn?«

»Es kann ein Wort sein, ein Satz oder viele Seiten. Es kann gleich heute geschehen, am Ende deines Lebens oder mehrfach zu verschiedenen Zeiten. Die Göttin wird es dir aufs Herz legen.«

»Dieses Buch hat die letzte Akh’Eldash abgeschrieben?« Lynn betrachtete den Band ehrfürchtig.

»Es wurde uns nach ihrem Tode aus dem Palast übersandt.«

Lynn blätterte die hinterste Seite auf, zu dem letzten Eintrag der letzten Akh’Eldash, der Mutter ihres zukünftigen Gatten. Das Blatt war von der gleichen zierlichen Schrift bedeckt wie der Rest der Seiten, aber hier war sie weniger fließend. Vermutlich hatte die Akh’Eldash unter Schmerzen gelitten, als sie die wenigen Zeilen zu Papier brachte. Die Worte sprachen nicht gerade von einem glücklichen Leben im Dienste der Göttin.

»Wenn die Liebe einer Mutter Kraft über das Grab hinaus besitzt, wird mein Sohn ein Mann des Friedens werden. Die Göttin schenke ihm Weisheit und Kraft, um diese Welt zu verändern.«

***

Siluren nutzte die Schwirrer selten, auf die sein Vater schwor. Die kaum zwei Fäuste großen Tiere konnten nur winzigste Nachrichten überbringen. Die Schreiben von Silurens Korrespondenzpartnern hingegen waren lang und ausführlich, und so ahnte Siluren Entwicklungen oft voraus, noch ehe die entsprechenden Botschaften das Nest auf Hohenvarkas erreichten.

Längst hatte er es aufgegeben, seinen Vater über seine Annahmen und Schlussfolgerungen in Kenntnis zu setzen. Viel zu oft hatte er dafür nur Spott und Hohn geerntet. Doch die Nachrichten, die ihn heute erreicht hatten, waren so besorgniserregend, dass er seinen Stolz – und seine Furcht – überwinden musste. Silurens Zuträger berichteten von ganzen Bergen schnell geschmiedeter Schwerter. Offenbar hatten jenseits der Grenze die Essen den gesamten Winter über geglüht. Außerdem war von Aushebungen in ganz Oneräa die Rede. Das konnte nur bedeuten, dass Krolan der Fahle, König von Oneräa, einen Feldzug plante.

Wieder einmal. Seit mehr als drei Jahrhunderten, seit der Spaltung des Reiches, hatte nahezu jeder König auf beiden Seiten des Rimbeth versucht, die Herrschaft über das gesamte Reich wiederzuerlangen. Die Könige von Oneräa beriefen sich auf die Blutlinie, die von Galathräa auf die Wahl der Akh’Eldash, aber eigentlich ging es doch bloß um Machthunger und althergebrachte Rituale von Ehre und Männlichkeit – und beide Völker litten darunter.

Aus dem Kabinett seines Vaters drangen aufgebrachte Stimmen. Als Siluren eintrat, zog Kanzler Panald dem Schreiber gerade ein Blatt vom Tisch und überflog es. Ruothgar hingegen nahm Siluren in den Blick. »Was willst du hier?« Seine heisere Stimme und die gerötete Nase zeugten noch von der abklingenden Krankheit, sein Blick aber war fest und geradezu feindselig. Siluren musste sich zwingen zu sprechen. »Marschiert Krolan auf unsere Ostgrenze zu?«

»Hast dir wohl wieder mal etwas zusammengereimt.«

In Siluren stieg die altbekannte Wut auf, aber dies war nicht der Zeitpunkt für kleinliches Gezänk. »Ich denke, wir sollten Unterhändler senden. Herausfinden, was er will.«

»Er will Galathräa, was sonst?«

»Das wissen wir nicht mit Sicherheit. Und miteinander zu reden kann …«

»Reden will nur der Unterlegene. Krolan wird reden, wenn mein Schwert an seiner Kehle liegt.«

Es sei denn, es kam umgekehrt. Auch wenn das schwer vorstellbar war. Ruothgar war selbst mit ergrauendem Haar noch immer ein Kämpfer und König. Aber Krolan war um einiges jünger, und nach allem, was man hörte, war er absolut skrupellos.

Siluren blickte zu der Karte auf dem Tisch. Sie zeigte die nördliche Grenzregion um Elsthorn. »Also gibt es wieder Krieg?«

»Wir können ihn nicht verhindern, also werden wir ihn gewinnen. Ich habe unseren Fürsten die Aushebungen bereits im Winter angekündigt, als du noch selig deine Gänsekiele gespitzt hast.« Ruothgar wandte sich an Kanzler Panald. »Nun?« Der Kanzler war mit dem soeben verfassten Befehl einverstanden und Ruothgar winkte, dass er weitergegeben werden sollte. Ein junger Soldat übernahm das Blatt und ging.

Siluren holte tief Luft und bemühte sich um einen ruhigen Ton. »Krolan hat eine enorme Anzahl von Männern in den Dienst gezwungen. Ich hörte von achtzigtausend Mann.«

Ruothgar grunzte. »Piss dir bloß nicht in die Hosen. So viele wehrfähige Männer gibt es in ganz Oneräa nicht.«

Doch, die gab es, wenn man keine Rücksicht darauf nahm, dass Bauern und Handwerker ihre anderen Aufgaben nicht mehr erfüllen konnten. »Wenn wir all unsere Bauern von den Feldern in die Schlacht schicken, gibt es bald nichts mehr zu essen.«

»Und wenn wir das nicht tun, gehört Galathräa bald einem Schurken und Geisterdiener.«

»Warum hören wir uns nicht zuerst Krolans Ford-«

»Es reicht!« Ruothgars Faust landete auf dem Tisch. »Krolan schickt keine Unterhändler, sondern Soldaten! Ein König darf den Kampf nicht fürchten, wenn seine Untertanen in Sicherheit leben sollen.«

»Wie sicher leben sie wohl, wenn sie mit Schwert und Spieß auf dem Schlachtfeld stehen?«

»Opfer müssen eben gebracht werden, und noch wird dieses Land nicht von einem Schlappschwanz geführt!«

Siluren war so angespannt, dass sein Nacken schmerzte. Mehr zu sich selbst sagte er: »Es ist nicht dein Schwanz, der mir Sorgen macht.« Doch so leise die Worte auch waren, sie entgingen Ruothgar nicht.

»Raus!«

Das war wohl inzwischen der übliche Abschluss eines Gespräches zwischen ihnen. Siluren ging wortlos, doch seine zornigen Schritte knallten auf dem Marmorboden wie die Schüsse einer Hakenbüchse.

Kampf und Krieg – gab es keine anderen Lösungen? Und selbst wenn, schätzte Ruothgar die Gefahr auch richtig ein? Zugegeben, achtzigtausend Mann waren ein Kontingent, wie die Welt es nur selten gesehen hatte und vermutlich völlig unnötig. Würde eine solche Armee eine Stadt wie etwa Elsthorn belagern, würden sich die Männer bloß gegenseitig auf den Füßen stehen. Mit passendem Kriegsgerät wären schon vierzigtausend mehr als ausreichend, um eine Stadt mittlerer Größe ohne lange Belagerung zu stürmen.

Das nahm er zumindest an. Cor hatte Carondim damals mit nur zehntausend Mann eingenommen. Siluren hatte derweil hier, auf Hohenvarkas, lediglich die Berichte gelesen. Was wusste er schon von der Wirklichkeit des Krieges und wie man ihn führte? Vermutlich war es wirklich unsinnig, ein so großes Heer aufzustellen, wenn eine kleinere Armee ausreichte. Wozu sollte man mehr Männer als nötig in die Disziplin zwingen, befehligen, und vor allen Dingen verpflegen?

Aber konnte man von einem Mann wie Krolan dem Fahlen vernünftige Entscheidungen erwarten? Es hieß, er habe seinen älteren Bruder getötet, um König zu werden. Außerdem sagte man ihm nach, er verehre die Geister und strebe nach leiblicher Unsterblichkeit, aber das war womöglich bloß abergläubisches Geschwätz des Volkes, das einem Feind jede nur erdenkliche Missetat andichtete. Nein, ein Wahnsinniger konnte die Macht nicht erringen und halten.

Aber was, wenn es Krolan nicht nur um kleine Landgewinne ging? Nicht darum, Carondim oder Elsthorn zurückzuerobern, oder Teile der Ostmark? Wenn er es tatsächlich auf den Doppelthron abgesehen hatte? Auf ganz Galathräa? Wenn er die beiden Reiche tatsächlich wiedervereinen wollte – wäre das nicht eine große Armee wert?

Siluren blieb stehen. Er war im Thronsaal angekommen und sah hinüber zum Doppelthron, der in der Abenddämmerung groß und dunkel vor den Fenstern der Stirnwand aufragte. Selbst in der Dämmerung der aufsteigenden Nacht war er beeindruckend. Massiv und wuchtig umgab er das Herrscherpaar, betonte ihre Bedeutung. Die linke Seite, die des Königs, war aus Eisen geschmiedet und teilweise vergoldet. Ihr Zierrat zeigte Insignien der Macht – Krone und Zepter –, aber auch des Kampfes – Schwert und Schild, Armbrust, Bogen und Köcher. Diese Seite war riesig und überladen, weil seit Generationen jeder König etwas anfügen ließ. Erst vor fünf Jahren hatte Ruothgar seitlich das Abbild einer Hakenbüchse anbringen lassen, einer der modernsten Waffen überhaupt. Inzwischen war diese Seite des Thrones so schwer, dass rückwärtige Stützen notwendig geworden waren, damit die massige Lehne ihn nicht nach hinten umriss.

Trotz dieser beständigen Anfügungen reichte das Werk aber noch immer nicht an die Größe der anderen Seite heran. Der Sitz der Akh’Eldash war seit den ersten Tagen der Eldamiten nicht verändert worden. Er bestand ganz aus dem edlen, dunklen Holz des Lebensbaumes, aber außer pflegender Öle und beständigem Polieren hatten menschliche Hände nichts zu seiner Form beigetragen. Vielmehr sah es so aus, als wäre der Baum ganz natürlich zu einem riesigen Stuhl gewachsen, als hätten sich Zweige von selbst zu einer Lehne verwoben, als hätten sie sich von alleine zu einem mächtigen Baldachin geformt. Keine Spuren von Schnitten oder Sägen waren an dem Holz zu finden – außer dort, wo man die Wurzeln abgesägt hatte. Selbst die kleinsten Zweige waren fest und biegsam, als wäre noch Leben in ihnen, als habe der Baum nur seine Blätter für einen Winter abgeworfen und wäre bereit, im Frühjahr erneut auszutreiben. Die Legende besagte, der Thron habe bis zur dritten Akh’Eldash tatsächlich noch Blätter getragen. Nun, womöglich hatte man ihn erst damals von seinen Wurzeln getrennt und aus der Riefenau nach Varkaspol gebracht.

Zwischen den beiden Seiten des Thrones erhob sich eine Armlehne, in der Holz und Metall miteinander verwoben waren. Vermutlich hätte Ruothgar dieses trennende Mittelstück nur allzu gern entfernen lassen, um den gesamten Thron allein einnehmen zu können, doch das hatte nicht einmal er gewagt. Immerhin hatte er durchsetzen können, dass nach dem Tod von Silurens Mutter keine neue Akh’Eldash gesalbt worden war. Seit über zwanzig Jahren symbolisierte nur ein elegant drapierter weißer Schleier die Anwesenheit der Schwesternschaft und die Macht der Erdmutter. Wie oft hatte Siluren sich gewünscht, dass neben Ruothgar eine Frau sitzen möge, eine Stimme der Sanftmut und des Friedens.

Bald schon würde das der Fall sein. Oder nein, keine Frau. Ein Mädchen. Wie hatte Ruothgar sich das eigentlich vorgestellt? Wenn die Akh’Eldash erst einmal im Schloss war, würde er der Hohepriesterin den ihr zustehenden Platz nicht verweigern können. Selbstverständlich würde das nicht bedeuten, dass er seinen eigenen Platz für Siluren räumte. Er würde selbst weiterherrschen wollen. Vermutlich würde er das Mädchen einschüchtern, sie »auf Linie bringen«. Er würde sie zu seinem eigenen Geschöpf formen, zu einer verängstigten Gehilfin seiner Ziele. Und Siluren, durch den Zauber der Göttin an die Akh’Eldash gebunden, würde wiederum ihr willfähriger Diener sein.

 

Mit leiser Übelkeit wandte Siluren sich ab. Gleichgültig, ob er selbst oder Coridan die Akh’Eldash ehelichten, Ruothgar konnte nur gewinnen.

***

Die nächsten Tage verbrachte Lynn damit, das Eldash-Mithral gewissenhaft abzuschreiben. Es war eine Reise in die Vergangenheit, die ersten Seiten lasen sich so seltsam, dass Lynn sie nicht einmal verstand. Sie enthielten nur sinnlos aneinandergereihte Worte. Womöglich hatte das wiederholte Kopieren Fehler erzeugt und die Bedeutung verschleiert.

Vielleicht gab es ja ältere Exemplare des Eldash-Mithral, mit deren Hilfe sich das eine oder andere berichtigen ließ. Mit diesem Gedanken machte Lynn sich auf zur Priorin, um sie danach zu fragen. Sie fand sie im Kreise einiger jüngerer Kanonissen, das Buch der Ursprünge auf den Knien, aus dem sie gerade las.

»Die Geister aber sprachen: Es ist nicht recht, dass ein leiblich Ding Verstehen haben soll, gleich unserem Verstehen. Und sie kamen hernieder und ließen die Geschöpfe der Erdmutter erstarren, und einer nach dem anderen verloren die Riesen ihre Weisheit und ihr Verständnis für die Dinge der Welt. So kehrte der Stein zurück zu dem, was er gewesen war, und war nichts anderes mehr als Stein.«

Lynn blieb hinter der Türe stehen und lauschte. Sie hatte die Worte schon so oft gehört, dass sie sie mitsprechen konnte, aber sie liebte diese seltsam altertümlich anmutende Sprache aus ferner Vergangenheit.

»Zuletzt«, fuhr die Priorin fort, »blieben nur drei Getreue, welche die Erdmutter zu sich rief, und sie sprach zu ihnen: Ihr drei sollt meine Ammen sein, denn ich will Geschöpfe gebären aus den Tiefen meines Leibes, und sie sollen sein Leib von meinem Leib und Geist von meinen Geist.

Und sie gebar die Pflanzen, die Tiere, und zuletzt auch das erste Menschenpaar. So bevölkerte sie die Welt zu der Zeit, als die drei letzten Getreuen zu Stein erstarrten.

Erneut zürnten die Geister, doch die Zahl der Geschöpfe war zu groß, ihre Art zu vielfältig, als dass die Geister sie alle hätten vernichten können, und so säten sie in jeden Erstling nur einen winzigen Keim, dass er wachse und sich ausbreite und zersetze, was immer er fände. Und dieser Keim ist der Tod. Darum werden alle Kinder der Erdmutter alt und sterben, bis auf den heutigen Tag.

Doch zu mächtig war der Zauber der Erdmutter, zu groß ihre Weisheit. Denn auch das Leben, das die Mutter in ihre Geschöpfe gelegt hatte, floss weiter an deren Kinder und Kindeskinder, und so besteht auch das Leben in der Welt fort, bis auf den heutigen Tag.«

Sie schloss das Buch und blickte in die Runde. Sibyllin hob die Hand. »Muss ich auch sterben?«

»Irgendwann schon«, sagte die Priorin. »Dann kehrt dein Leib zurück zu ihrem Leib und dein Geist zu ihrem Geist. Aber davor darfst du leben. Das ist das große Geschenk der Erdmutter an uns alle.« Sie hob den Blick. »Lynneth, meinst du wirklich, ich würde dich dort nicht bemerken?«

Verlegen trat Lynn vor. »Verzeiht, Hohe Schwester. Ich wollte nicht stören.« Sie brachte ihr Anliegen vor, ob es nicht einige ältere Exemplare des Eldash-Mithral gäbe, um das eine oder andere berichtigen zu können, und die Priorin begegnete diesem Ansinnen mit Wohlwollen. Sie entließ die Kleinen und forderte Lynn auf, sie zu begleiten.

Zum ersten Mal betrat Lynn den Bereich hinter dem Schleier, der nur den Heiligen Schwestern und Anwärterinnen vorbehalten war. Er war tatsächlich durch nichts als einen dünnen Schleier vom Rest der Tempelanlage abgetrennt, aber keine der Kanonissen und niemand aus der Dienerschaft hätte es jemals gewagt, diese Grenze zu überschreiten. Sogar jetzt, an der Seite der Priorin, fühlte Lynn sich seltsam schuldig, als sie über die niedrige, marmorne Schwelle trat und der Vorhang hinter ihr wieder zurückglitt. Sie durchschritten einen weiß getünchten Tunnel, dann öffnete sich vor ihnen ein lichtdurchfluteter Raum.

Weißer Marmor bedeckte die Wände, Säulen aus dem gleichen Material strebten über mehrere Galerien empor zu einer durchbrochenen Kuppel, durch deren gläserne Scheiben Tageslicht fiel.

Lynn rief sich den Tempel in Erinnerung, wie man ihn bei der Ankunft sah: eine an und in den Felsen gebaute Ansammlung von Gebäuden, Mauern, Erkern und Zinnen, entstanden über Jahrhunderte, ästhetisch zusammengehalten nur durch den einheitlich weißen Verputz. Aber nirgendwo war ihr je eine Kuppel aufgefallen.

»Von außen sieht man die Kuppel nicht«, stellte sie fest.

»Das ist richtig. Sie ist umgeben von Felsen.«

Ehrfurchtsvoll schritt Lynn weiter in den Raum hinein. In den weißen Marmor des Bodens war ein geometrisches Muster aus dunklem Granit eingelassen, und in der Mitte wölbte sich ein polierter Monolith aus dem Boden. Seine ovale Form und die schlierenartigen Einschlüsse erinnerten an den No’Ridahl. Nur dass der Stein blau war und nicht rot.

Ringsum an den Wänden reihten sich mannshohe Nischen aneinander, in fünf Reihen übereinander bis unter die Kuppel, so hoch war der Raum. In einigen davon waren Türen eingelassen, in den meisten aber standen Regale und darin Bücher über Bücher. Dies war eine Bibliothek.

»Was du suchst, findest du hier.« Die Priorin wies auf die zweite Nische neben dem Eingang. »Das Eldash-Mithral, beginnend von dem der vierten Akh’Eldash des neuen Reiches.«

Respektvoll betrat Lynn den Raum zwischen den Regalen. Die Bücher auf der linken Seite wirkten so alt und brüchig, dass sie es nicht wagte, eines aus dem Regal zu nehmen. Womöglich würden sie in ihren Händen zu Staub zerfallen.

Plötzlich wurde ihr bewusst, was die Priorin gesagt hatte. Genau so hatte sie es schon einmal formuliert. Sie wandte sich abrupt um. »Des neuen Reiches?«

Die Priorin nickte. »Des Reiches der Eldamiten.«

Lynn wies zur Seite. »Was ist dann in der ersten Nische?«

Eigentlich hatte sie erwartet, dass die Priorin sie zurechtweisen oder ihrer Neugier zumindest eine Grenze setzen würde, doch das tat sie nicht. »Dort liegen die wenigen Schriften des alten Reiches, die uns überliefert wurden – alle, bis auf die Rolle von Fengajahr.«

Des alten Reiches. Des Reiches der Eldash. Von diesen Menschen wusste Lynn nicht mehr, als dass sie die ersten Bewohner der Riefenau gewesen waren, des Landstriches zwischen dem Mutterschoß und dem Südersee.

»Warum hat uns Schwester Galabin nie mehr von den Eldash erzählt?«

»Weil diese Zeit ins Reich der Legenden gehört. Schwester Galabin legt viel Wert darauf, euch nur Dinge zu lehren, die durch Schriften zu belegen sind.«

Aber offenbar gab es doch Schriften! Lynn wechselte die Nische. Hier gab es keine Bücher, nur Schriftrollen. Sie zeigte darauf. »Darf ich?«

Die Priorin nickte.

Behutsam nahm Lynn eine der kleineren Rollen. Sie war erstaunlich schwer. Lynn wog sie in der Hand und warf der Priorin einen fragenden Blick zu.

»Das ist Pergament. Dünn gegerbtes Leder.«

Lynn versuchte, die Rolle auseinanderzubiegen, doch schnell spürte sie den Widerstand des uralten Leders und fürchtete, es würde brechen. Sie hielt inne, spähte in den Spalt. Was sie sah, war faszinierend und enttäuschend zugleich.

Das Blatt war nicht beschrieben. Nicht im herkömmlichen Sinne jedenfalls. Farbige Bildchen waren in langen Reihen angeordnet, kaum eines davon wiederholte sich, soweit Lynn es erkennen konnte.