Das Wissen der Welt

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Voller Entsetzen drehte sie sich wieder rum und blickte zu der Kutsche zurück. Raben und ihrer Bedeutung konnte man nicht so einfach entfliehen. Genauso wenig, wie sie dieser Welt entfliehen konnte. Ihrer Gedankenwelt, das hatte Zara gesagt. Dann gab es wohl nur den Weg nach vorn. Viktoria rannte, bis sie die Kutsche erreichte. Was auch immer hier drin war, gleich war es vorbei. Nur einen Augenblick zögerte sie, dann sprang sie mit Anlauf ins Innere.

Erinnerung (Ursprung plus 16 Jahre)

– Viktoria –

Dunkelheit empfing sie. Es war seltsam warm, nicht überhitzt. Sie war nicht im Inneren des Gefährts, denn um sich herum spürte sie keinerlei Gegenstände. Sie schwebte, das musste die seltsame Lösung sein. Ein flatterndes Geräusch riss sie aus ihren Gedanken. Zara war bei ihr. Ihre Erinnerung schwebte in der Form eines kleinen Wesens vor ihr. Erst glomm ein kleiner Funken vor ihren Augen, dann begann Zara zu glühen wie das Herz einer Flamme. Sie kam Viktoria immer näher, doch sie spürte keine Furcht. Was auch immer hier gerade geschah, es war unausweichlich. Sie blickte in das Licht, bis es ihre Stirn berührte und in sie überging.

Der Wind rauschte durch ihre Haare und zerrte an ihren Klamotten. Sie kam ins Strudeln und drehte sich mehrfach um ihre Achse, bis sie ziemlich hart auf einem Boden landete, mit nichts als einem dicken Schaffell zwischen ihr und grob behauenen Brettern. Sie war in einem kleinen Zimmer, das mit alten Möbeln vollgestopft war. Ihr Rücken stieß an die Füße eines knorrigen alten Schaukelstuhls und eine knarzende Stimme redete eine Sprache, die Viktoria nicht verstand. Dann änderte sich ihre Perspektive. Sie blickte auf ihre Hände hinab, klein und pummelig. Sie war in ihrer Kindheit gelandet. Sie vertraute der Person, die hinter ihr saß und immer weiter redete. Viktoria schloss die Augen und lauschte. Ja, sie war hier zu Hause. Ihre Ohren folgten den fremdartigen Lauten, bis sie erste Worte ausmachen konnten. Eine Geschichte von Liebe, Verlust, Verrat und Lebensglück. Sehnsucht erfasste Viktoria. Wie gern sie Teil der Erzählung wäre, würde gegen Monster reiten, sich in einen Held verlieben und nach erfolgreichem Kampf nach Hause zurückkehren. Zuhause. Sie wollte heim! Da legte sich eine alte, faltige Hand auf ihren Kopf. Das Kind drehte sich um und lächelte die zahnlose Alte an. Sehnsucht wurde durch Trauer ersetzt, denn sie erblickte Tränen.

„Es ist Zeit, schlafen zu gehen.“

Die kleine Viktoria zog erst einen Schmollmund, dann gab sie auf und krabbelte zu der Schlafstatt vor dem Feuer hinüber. Eine kleine Kuhle zeigte, wo sie sich des Nachts in die Felle kuschelte. Bald fielen ihr die Augen zu. Die Viktoria, die zu Besuch war, blieb mit offenen Augen liegen. Kurz darauf hievte sich die Alte aus dem Stuhl und ging hinüber zu ihrem Tisch. Aus einer Schublade holte sie ein altes Buch hervor. Sie öffnete es und legte es aufgeschlagen vor sich hin. In aller Seelenruhe hob sie einige kurze Haare ins Licht, warf dem schlafenden Kind einen Blick zu und legte sie in eine kupferne Schale. Anschließend zupfte sie Blätter und Blüten verschiedener Pflanzen ab, die auf dem Tisch lagen, mischte sie unter und beträufelte alles mit einer klaren Flüssigkeit. Aus dem Buch nahm sie einen eintönigen Singsang auf, während sie die Mischung über einer offenen Flamme zum Brodeln brachte. Die ältere Viktoria stand auf und ging zum Feuer hinüber. Mit einer Schöpfkelle hob ihre Großmutter die festen Bestandteile ab und füllte die Essenz in eine angeschlagene Tasse. Mit zittrigen Schritten ging sie hinüber zu Viktoria und weckte sie sanft.

„Hier, trink noch etwas Warmes, bevor du zu fest schläfst.“

Verschlafen und vertrauensvoll nahm die Kleine einige Schlucke aus der Tasse und sank dann matt zurück auf ihre Felle.

„Kleine Viktoria. Ich hoffe, du wirst mir eines Tages verzeihen können.“

„Ist sie so weit?“

Eine helle Jungenstimme ließ die Besucherin Viktoria herumfahren. Rafi! Als etwa zehnjähriger Junge stand ihr großer Bruder vor ihr und blickte abwechselnd zwischen der alten Frau und seiner kleinen Schwester hin und her. Brummig nickte die mit Falten übersäte Eigentümerin der Hütte.

„Sie wird sich an nichts erinnern.“

Grimmig nickte der Junge.

„Gut. Ich kann sie nicht auch noch verlieren. Sie darf sich nicht an unseren Bruder erinnern. Wenn die Leute und wir ihn vergessen, werden vielleicht weder er noch Viktoria jemals in dieser Anstalt landen.“

Nana nickte, dann legte sie ihre faltige Hand auf die Schulter des für sein Alter hochgeschossenen Jungen.

„Du musst auch vergessen oder wenigstens verdrängen. Deine Eltern waren nach der Anstalt nie wieder die Gleichen, das weißt du. Sie haben es versucht.“

Rafi nickte.

„Die Experimente haben sie kaputt gemacht“, erwiderte er und schluckte unter großer Anstrengung seine Tränen hinunter.

Entsetzt kam die Besucherin ins Straucheln. Sie schwankte und fiel zu Boden. Dunkelheit umfing sie, während sie mit der Macht ihrer Erinnerung kämpfte. Rafi. Die alte Frau war ihre Großmutter. Von welchem Bruder sprachen sie? Sie und Rafi hatten Eltern, die kurz davor gestorben waren. Was war das mit der Anstalt, meinten die etwa ihre Anstalt? Die Macht der Erinnerung überflutete Viktoria. Sie hatte ihr keinen Widerstand entgegen zu setzen und wurde mitgerissen. Magie war real. Der magische Funke, den sie zwischen ihren Händen hin und her springen lassen konnte und sie als Zeitenwandlerin identifizierte, war Schuld an allem, was ihrer Familie passiert war. Magie war real und Viktoria war eine Zeitenwandlerin. Die Bilder und Emotionen an ihre Kindheit prasselten auf sie ein. Viktoria krümmte sich zusammen, presste sich die Hände an den Kopf und begann zu schreien.

Sie wusste nicht, wie lange sie zusammengesackt auf dem Boden verbracht hatte. Sie fühlte sich, als wäre sie auf einen Schlag – anders. Es war, als kämen ihre Gedanken sich selbst nicht mehr hinterher. Als würde sie, wie nach einer heftigen Erkältung, das erste Mal wieder richtig durchatmen. Als wäre sie endlich vollständig. Die Energie brauste durch ihre Nervenbahnen. Sie war nicht müde, sie war einfach nicht mehr kaputt, bedurfte keiner Reparatur mehr. Bei sich selbst angekommen. Ihr neues Bewusstsein erbebte mit jeder Erinnerung, die eine nach der anderen zu ihr zurückkam. Sie hatte schon immer mit ihrem Funken gespielt, bis ihr Vater es irgendwann gesehen hatte. Panik beherrschte seine Gesichtszüge für einen Augenblick, bevor er es zu seiner Alltagsmaske entspannte. Wenn andere Leute ihren Funken sähen, würden sie sie in den nächsten Teich werfen oder Schlimmeres mit ihr anstellen. Sie mitnehmen in ein Gebäude, das tief im Wald stand. So hatte er es gesagt. Viktoria, die nur planschen, aber nicht schwimmen konnte, bekam Angst. Sie verstand diese anderen Leute nicht.

Das kleine Mädchen begann, sie zu beobachten und was sie sah, gefiel ihr gar nicht. Nachbarn und Freunde bespitzelten sich gegenseitig. Der Zentralrat ging gegen alle vor, die anders dachten oder eine Bedrohung darstellen konnten erklärte ihr Vater. Jegliche magische Begabung gehörte dazu. Nicht einmal ihrer Mama hatte sie ihren Funken gezeigt, nur Rafi. Er war krank und lag fiebernd im Bett, ihre Mama war sowieso mit dem neuen Baby beschäftigt. Der Kleine war ständig am Schreien und schien permanent krank zu werden. Irgendjemand hatte Rafi also unterhalten müssen. Als niemand hinsah, schlüpfte sie in sein Zimmer und zeigte ihm, was sie tun konnte. Ohne Scheu hatte er ihr dabei zugesehen und gelächelt. Aber er war auch traurig, Viktoria spürte das deutlich. War sie nicht gut genug? Sie konzentrierte sich und kniff die Lippen fest zusammen. Ihr Funken strahlte nun heller, während er zwischen ihren Händen hin und her kreiste. Dann verschwand das Licht, als Rafi seine Hand über die ihren legte und sagte, dass niemand mehr diesen Funken sehen dürfte. Niemand. Jemals.

Eines Tages nahm ihr Vater sie bei der Hand und ging mit ihr zum Marktplatz. Rafi musste es ihm erzählt haben. Schon von weitem stieg ihr der Gestank in die Nase. Erst einige Minuten später begriff sie, was sie da roch: brennende Menschen. Die Bewohner ihres Städtchens verbrannten Menschen. Blanker Horror ergriff sie und sie weigerte sich, auch nur einen Schritt weiter zu gehen. Ihr Vater bückte sich herab, um die schreckensstarre Viktoria auf seine Arme zu nehmen. Sie wollte ihr Gesicht verstecken, doch seine Hände waren eisern. Er drehte sie so herum, dass sie sah. Alles sah. Das Grauen nistete sich in ihrem Herz ein. Hinterher sagte ihr Vater, dass die Menschen das Gleiche mit der ganzen Familie machen würden, wenn jemand ihren Funken sah. Viktoria verstand die Welt nicht mehr.

Eine andere Erinnerung war an der Reihe. Dann die Nächste. Irgendwann fühlte sie sich ausgelaugt, hatte keine Kraft mehr und blickte auf ihre Hände im Schoß herab. Doch es fehlte noch etwas. Das Knirschen der Stiefel im Schnee. Geflüsterte Befehle. Waffen, die in Anschlag gebracht wurden. Die Tür, die mit einem Donnern aufflog und an der gegenüberliegenden Wand abprallte. Rafis Gesicht, das angstverzerrt aus seinen Fellen zu seinen kleinen Geschwistern hinüber blickte. Ihre Mutter, die sich totenbleich von ihrer Bettstätte erhob, ihre Hände in die Höhe hielt und schweigend nach hinten wegtrat. Viktoria robbte an die Kante der Wand, die ihre Schlafstätte vom Wohnzimmer trennte. Sie sah, wie ihr Vater ungläubig auf seine Frau schaute, angstvoll zu ihr hinüber, etwas flüsterte und sich mit langsamen Bewegungen auf den Boden kniete. Die Gestalten in ihren dunklen Uniformen nahmen ihn mit. Es war das letzte Mal, dass Viktoria ihren Vater sehen sollte. Niemand von ihnen ging zur öffentlichen Hinrichtung.

 

Einige Tage später fand man ihre Mutter im Teich. Niemand bekannte sich schuldig und so geriet ihr Fall in Vergessenheit. Viktoria dagegen lebte in Angst. Ihr Vater wusste von ihrem Funken, ihre Mutter hatte ihn verraten. Was, wenn sie auch etwas über sie erzählt hatte? Wenn sie sie holen kommen würden? Doch niemand kam. Nur Nana, die die drei Geschwister bei sich aufnahm. Doch dem Jüngsten ging es nicht gut. Ob er nun seine Mutter vermisste, seinen Vater oder einfach spürte, dass etwas Schreckliches geschehen war, Nana wurde nicht mit ihm fertig. Eine Frau aus der Stadt kam täglich, um ihn zu stillen, wenn ihr eigenes Kind etwas Milch übrig gelassen hatte. Eines Abends beruhigte Viktoria ihren kleinen Bruder, indem sie ihm ihren Funken zeigte und spielerisch vor seinem Gesicht hin und her springen ließ. Rafi unterbrach das Spiel, indem er ihr auf die Finger schlug und sie ins Bett schickte. Wieder eine Nacht, in der Viktoria sich allein gelassen in den Schlaf weinte.

Am nächsten Tag kam die Amme wieder, doch dieses Mal wollte Nana das Stoffbündel mit dem kleine Jungen darin nicht wieder annehmen. Sie wehrte ab und nach einem kurzen Wortwechsel zuckte die Frau mit den Achseln, sah auf das Bündel in ihren Armen hinab und verschwand für immer. Viktoria verstand die Welt nicht mehr, aber genau genommen war das noch nie der Fall gewesen.

Die anderen Kinder begegneten Rafi weiterhin mit Misstrauen, Viktoria dagegen scherte sich nicht um sie. Sie war zu jung, um die Wahrheit zu begreifen, doch eines wusste sie genau: Sie musste sich warm anziehen, die Menschen waren kalt draußen.

In der Hütte atmete Viktoria aus und starrte weiter auf ihre Hände, die Werkzeuge des Todes. Es war Zeit.

„Bringt mich heim“, flüsterte sie mit von Tränen erstickter Stimme. Ein Funken glomm auf, schwach erst und zittrig, aber bald wurde er immer heller und stärker. Das Licht breitete sich über ihre Hände aus und immer weiter, bis sie in einem Kreis aus Licht kniete. Heim, dachte Viktoria, ich will heim. Ihre Kontur begann zu verschwimmen. Fasziniert beobachtete sie, wie sie sich mit dem Licht vermischte. Wie viel sie vergessen hatte. Mit einer hellen Stichflamme zum schwarzen Himmel verschwand das Licht und mit ihm Viktoria aus der Dunkelheit.

Heimat und Neuanfang (Ursprung plus 20 Jahre)

– Viktoria – (Ursprung plus 20 Jahre)

Ein Sonnenstrahl brach durch das stumpf gewordene und zerbrochene Fenster. Irgendwann war die Tür aufgeflogen und hatte sich nicht wieder geschlossen. Überall lagen Blätter, hatten Tiere sich Nester und Feldbetten gebaut und Spinnen ihre Netze gewoben, um die Motten zu fangen. Die Seele ihrer Großmutter war schon lange ausgeflogen, zusammen mit dem Gefühl, ein Zuhause zu haben. Nanas Tod hatte Rafi und sie allein zurückgelassen. Seit dem Tod ihrer Eltern hatten sie in dieser kleinen Hütte gelebt, abseits von allen anderen Ansiedlungen. Schweigend blickte Viktoria auf ihre Hände und rief den Funken hervor, der sofort aufglomm. Wie konnte sie seine Existenz nur vergessen haben, ein so wichtiges Teil ihres Selbst? Sie hatte längst noch nicht alles verstanden, was passiert war, aber es war nun mal so, wie es war: Sie stand in der längst verlassenen Hütte ihrer Familie und war von weiten Wäldern umgeben. Sie ließ ihre Hände sinken.

Der Sessel, in dem Nana immer gesessen hatte, zerfiel allmählich zu Staub. Wahrscheinlich hatten Mäuse sein Futter zu einer wolligen Höhle ausgebaut. Das Laub auf dem Boden war alt und braun. Wie eine dicht verwobene Decke lag es da. An der Oberfläche waren sie seltsam brüchig und Viktoria musste erst ein weiteres Mal hinsehen, bevor sie begriff: Jemand war hier gewesen und darüber gelaufen. Sie erschauerte. Rafi war nicht mehr am Leben, der Rest der Familie auch nicht und sie in der Anstalt. Wer wusste von dieser Hütte und riskierte sein Leben, um hierher zu kommen?!

Aufmerksam sah sie sich um. Sicher, Regale und Tische waren durchsucht worden, aber über allem lag eine dicke Staubschicht, hier hatte garantiert niemand vor kurzem rumgewühlt. Ihr Blick folgte der Spur der zerbrochenen Blätter und blieb an der Wand hängen, an der früher eine Leiter gestanden hatte. Es mochte keine große Hütte gewesen sein, aber den Schlafplatz für Rafi hatte Nana auf einen Brettvorsprung verlegen lassen. Gedankenverloren strich Viktoria über die Spuren in der Wand, wo die Leiter gestanden hatte. Ein Geräusch schabte sich in ihre Gedanken. Instinktiv sprang sie nach hinten und der Stein, der auf sie herab geschleudert wurde, traf die Wand, wo er Teile des Holzbalkens herausriss, bevor er wirkungslos auf dem Boden auskullerte. Viktoria war unter den Vorsprung zurückgewichen. Ihre Gedanken rasten. Kein Regierungsvertreter, die kamen nicht allein und nicht ohne genug technische Ausrüstung, um eine kleine Rebellion zu Kleinholz verarbeiten zu können. Wer aber sonst sollte von der Hütte wissen?! Sie machte nicht den leisesten Mucks.

Ein sanftes Ticken dran durch die Bretter zu ihr. Sie kannte das Ticken. Eine unerbetene Erinnerung rauschte durch ihre Gedanken. Ein Weihnachten ohne Schnee oder Familie, dafür Rafi, der ihr ein Stück trockenes Brot unter die Decke reichte. Sie hatte sich versteckt, wie sie sich auch die Jahre danach in der Anstalt versteckt hatte. Nur nicht auffallen, dann gab es keine Schwierigkeiten. Nachdem das Brot weg war, hatte er noch etwas unter die Decke geschoben. Ein Päckchen, klein, einfach, eckig. Innen fand Viktoria das wohl seltsamste Spiel reicher Kinder, das sie jemals gesehen hatte. Rafi sagte, man nenne es eine Spieluhr. Wenn man sie aufklappte, einen Mechanismus drehte und wieder schloss, spielte sie eine Melodie in seltsam hohen Tönen. Den ganzen Tag hatte sie das Rad immer wieder aufgedreht, den Deckel heruntergeklappt und mit geschlossenen Augen der Musik gelauscht. Ein seltsames Ding. Am Ende war der Mechanismus im Kästchen ausgeleiert und gab nur noch ein leichtes Ticken von sich. Genau wie das Ticken, das Viktoria nun über sich hörte. Ihr Herz presste sich gegen den Stacheldraht, in den sie es über die Jahre hinweg fest eingewickelt hatte. Nur Rafi kannte dieses Geheimnis. Tränen sammelten sich in ihren Augen. Schon lange hatte sie seinen Verlust nicht mehr so stark gefühlt wie in diesem Moment.

Erst ein knarzendes Brett direkt über ihr schreckte sie aus ihren Gedanken aus und entfachte ein anderes Gefühl: Angst. Sie knetete ihre Hände und überlegte fieberhaft. Es lagen genug Dinge herum, die sie sich greifen und damit zuschlagen konnte. Aber sie hatte keine Ahnung, wer da oben auf der Lauer lag und ihr an den Kragen wollte. Ihr Blick blieb an der Tür hängen. Sie konnte es schaffen. Runterzählen, lossprinten und raus, bevor dieser irgendjemand seine Position gravierend verändern konnte. Sie atmete einige Male tief durch, spannte sich an und schoss los. Schmerzhaft prellte sie sich die Hüfte, als sie um den großen Esstisch herumwirbelte und die Kurve zu scharf schnitt. Sie unterdrückte einen Fluch, als sie eine schnelle Bewegung aus den Augenwinkeln wahrnahm. Sie hatte einen Verfolger. An der Türschwelle wäre sie mit einem Fuß fast hängen geblieben, doch zu ihrem Glück stolperte sie nur die die Freiheit. Schnee. Um sie herum war alles Weiß. Für eine Schrecksekunde fühlte sie sich eingeschlossen von weißen Wänden und die Kälte fuhr ihr in die Knochen. Dann war sie schon wieder unterwegs und rannte den Hügel hinunter auf den Wald zu. Die kalte Luft stach in ihrer Lunge und Wind schlug ihr hart ins Gesicht. Im Schutz des Dickichts konnte Viktoria ihre Schritte etwas verlangsamen und sich nach ihrem Verfolger umsehen. Der dunkle Schemen war nicht weiter als der Türstock gekommen und blickte ihr hinterher. Aber er musste sich auch nicht beeilen. Im Schnee hinterließ sie eine exzellente Spur, der jedermann noch in ein paar Tagen folgen konnte. Sie drehte sich wieder um und stapfte langsam weiter.

Ihr neu gewonnenes Erinnerungsvermögen sagte ihr, dass es nicht weit bis zu einer kleinen Höhle war, dort konnte sie zumindest für die Nacht unterkommen. Als sie sich auf den Weg machte, dankte sie Bully zum ersten Mal dafür, ihr Schuhe und wetterfeste Kleidung gegeben zu haben. Als hätte er gewusst, was sie erwarten würde. Sie pustete warmen Atem auf ihre Hände und steckte sie anschließend in ihre Jackentaschen. Ihre Finger trafen auf etwas Weiches. Erstaunt zog sie es heraus. Fäustlinge. Bully hatte sogar daran gedacht. Wie es ihm wohl ergangen war? Der Lieblingsschüler der Vorsteherin, dabei erwischt, wie er eine Insassin in den vermeintlichen Tod geschleudert hatte, nur dass unten keine Leiche auf die Pfleger wartete. Woher hatte er gewusst, dass sie nicht sterben würde? Nicht einmal sie hatte sich daran erinnert, was sie konnte. Ein eiskalter Schauer rann über ihren Rücken. Vielleicht hatte er es wirklich nicht gewusst.

In Gedanken versunken stapften ihre Füße in einem gleichmäßigen Rhythmus durch die verschneite Landschaft. Viktoria hatte keine Augen für ihre Schönheit, für die glitzernden Kristalle, die der Wind durch die Luft wirbelte. Die Ruhe der Winterwelt prallte an ihrem inneren Chaos vollkommen ab. Wenn Bully wusste, was sie war, musste er Informationen über ihre Familie haben. Rafi war kein Zeitenwandler, es hatte also vielleicht nichts mit ihm zu tun. War Bully schon viel länger in der Anstalt angestellt, genauso wie die Vorsteherin? Vielleicht hatte er ihre Eltern und Rafi als Kind gekannt. Sehnsüchtig wünschte Viktoria sich, dass ihr Bruder ihr davon erzählt hätte. Und wie er es mit den Eltern geschafft hatte, diesen Ort zu verlassen, ob nun ihre Anstalt oder nicht. Vielleicht wäre ihr eigenes Leben anders verlaufen.

Nicht einmal ein umgestürzter Baum konnte sie aus ihrer Welt herausreißen. Mit mechanischen Bewegungen kletterte sie über ihn hinweg und bahnte sich weiter ihren Weg durch die weiße Welt. Vor einer Felswand blieb sie stehen und ließ prüfend den Blick darüber gleiten. Ein Blick rückwärts machte eines deutlich: Morgen früh musste sie von hier verschwunden sein. Eine gerade Spur ihrer Fußabdrücke führte zu dieser Wand. Sie ergriff die toten Efeuranken, die wie ein Teppich über dem Fels lag und riss sie beiseite. Verdammt! Viktoria stieß ein dunkles Knurren aus. Ein abgebrochener Zweig hatte ihren Arm auf der Innenseite aufgerissen. Einige Tropfen dunkelroten Bluts fielen auf den Boden, in den weißen Schnee. Wie dunkle Vorboten lagen sie inmitten der glitzernden Unschuld. Sie musste an die Raben denken. Sie ließ die Zweige fahren und kniete sich auf den Boden. Mit einer heftigen Bewegung fuhr sie durch den Schnee und begrub die Blutstropfen. Mit einer Handvoll Schnee wischte sie sich das restliche Blut vom Arm und kühlte den Kratzer. Er war nicht sehr tief, aber breit und lang. Wieder schob sie den Efeu beiseite, vorsichtiger diesmal.

Da war sie, die kleine Höhle. Vorsichtig lugte sie hinein und schnupperte. Modrig und trocken. Keine scharfen Gerüche, die auf einen Bär oder andere Raubtiere hinweisen würden. Trotzdem blieb sie wachsam und misstrauisch, während sie die ersten Schritte hinein ging und dabei den Efeuteppich hinter sich wieder zurückfallen lies. Der Schnee der Außenwelt reflektierte noch etwas Licht ins Innere, aber Viktorias Tritte waren auch so sicher. Nein, hier drinnen war sie allein.

Sie setzte sich auf eine Felsformation, die sie als kleines Kind als Tisch genutzt hatte. Rafi war auch mal mit hier gewesen, nachdem ein heftiger Regenschauer sie überrascht hatte. Kichernd und klatschnass saßen sie zu zweit auf dem Boden und bespritzten sich gegenseitig mit den Tropfen, die ihnen aus den Haaren und den Klamotten rannen. Danach hatte Rafi ihr gezeigt, wie man ein Feuer machte. Und weil der Regen nicht aufhören wollte, hatte er sie bei Laune gehalten, indem er mit einem Stück Kohle Tierfiguren an die Wand gemalt hatte. Sein Zeichentalent hielt sich in Grenzen und bald bewarfen sie sich gegenseitig mit Kohle und kugelten sich vor Lachen auf dem Boden ihrer kleinen Höhle. Von den Figuren an der Wand war nichts geblieben, genauso wenig wie von Rafi. Trauer schnürte ihr Herz zu. Sie lehnte sich an die Wand und streckte die Hand aus. Mit diesem Ort verband sie nichts als eine einzelne Erinnerung an einen einzigen Tag. Die Kälte begann, ihr in die Füße zu kriechen und Viktoria begann damit, auf dem Boden herum zu stampfen. Bewegung bedeutete Wärme, Wärme bedeutete Leben. Mit etwas Pech würde sie später beim Schlafen erfrieren. Trotzdem fühlte sie sich hier eigentümlich geborgen, zumindest für eine Nacht. Sie rollte ihre Kapuze zusammen, stopfte sie sich in den Nacken, schlang die Arme um sich und schloss die Augen.

– Aenghus – (Ursprung plus 20 Jahre)

So weit seine Augen reichten, sah Aenghus nur grüne Hügel. Sie erinnerten ihn an seine Heimat, damals, als er mit einem Holzspielzeug in der Hand bergauf und bergab gerannt war mit dem sehnlichen Wunsch, dass ihm Flügel wüchsen und er schwerelos davonfliegen könne. Was für ein kindischer Traum, das hatte seine Mutter ihm immer wieder gesagt. Dann hatte sie ihn an die Druiden verkauft. Er streckte sich und spürte die Energie der Erde unter seinen Füßen. Bei jedem Schritt trennte und verband er seinen Körper mit der Kraft der Natur. Er genoss jeden einzelnen davon, denn die Erde war sein Element, das ihm in all den Jahrhunderten nichts versagt hatte. Selbst, als er sich von seiner Gemeinschaft losgesagt hatte, war die Verbindung aufrecht geblieben, obwohl es eigentlich nicht so hätte sein sollen. Ein Druide in der Verdammung war abgeschnitten von allem und damit hilflos wie ein kleines Kind. Deswegen hatte er gezögert, bevor er sich von seinen Brüdern abgewendet hatte, doch irgendwann war ihm nichts mehr übrig geblieben. Sie, die Hüter der Erde, die Beschützer der Natur hatten tatenlos zugesehen, wie diese Krankheit namens Menschheit den Planeten verwüstete und fast vollständig in Schutt und Asche legte.

 

Die meisten Menschen waren verschwendete Lebensenergie und ihre Körper würden der Erde mehr zurückgeben, als sie es in ihrem gesamten Leben jemals schaffen könnten. Nach einigen Jahrzehnten beruhigte sich sein Gemüt. Zum einen konnte er nicht alle Menschen vom Angesicht der Erde tilgen. Zum anderen würden sie nützlich sein, wenn er nur einen Rahmen fände, wie er ihre Existenz sinnvoll in den Plan des Lebens integrierte. Seine Gesellschaft war nicht perfekt. Aber sie war nah dran. Als Anführer des Regimes und als Anführer der Rebellen liefen alle Informationsfäden durch seine Hände. Es gab keinen Schritt, den der Widerstand oder Regimeangehörige ohne sein Wissen taten.

Die Sonne kitzelte seine Nase und Aenghus lächelte. Heute war ein guter Tag. Das Mädchen, das er vor 26 Jahren aus der Bibliothek entführt hatte, hatte recht gehabt. Sie war im Kerker zusammengebrochen und hatte ein Detail verraten, das alles entscheiden konnte. Sie hatte die Zeitreisende endlich verraten – und wer hätte es gedacht, er hatte es geschafft, dass er das junge Ding zu einer der Bewohnerinnen in seiner Anstalt für besondere Menschen gemacht hatte. Aenghus spürte die Zufriedenheit, die schon damals nach dieser Entdeckung für ein beständiges Lächeln auf seinem Gesicht sorgte. Eine junge Frau, die bisher scheinbar keine Ahnung von ihren Fähigkeiten hatte. Er hatte einen seiner ältesten Agenten der Rebellion ansetzen müssen, um das Mädchen unter seinen Bedingungen aufwachsen zu lassen. An ihrem einundzwanzigsten Geburtstag hatte sein Agent sie aus ihrer Umgebung zu reißen sollen. Fast war es zu spät, denn das ruhige Leben hatte sie träge werden lassen, ohne Fantasie oder Anspruch, mehr vom Leben zu erwarten. Wenn Annabelle Recht hatte mit ihrer Information, dürfte die Zeitreisende bald bei ihm in der Zukunft landen, bevor sie wieder in die Vergangenheit zurückkehrte, wo sie auf seine zweite Persönlichkeit treffen würde. Ein kompliziertes Spiel, doch Viktoria musste sich ihm aus freien Stücken anschließen – jetzt, wo sie über ihre Fähigkeiten verfügte.

Aenghus wanderte los und erklomm den nächsten Hügel, setzte sich auf die Kuppel und lehnte sich an die Eibe, die die Spitze markierte. Sie war die Letzte eines ganzen Hains, der verschwunden war. Bisweilen nutzte er die Samen der roten Beeren, um ein giftiges Gel herzustellen, das sich ganz wunderbar auf Waffen oder die Haut Gefangener auftragen ließ. Doch heute verschwendete er keinen Gedanken daran. Ein hauchfeiner Schauer lief über die Erde und Aenghus lächelte breit. Sie war hier, in seiner Zeit. Heute musste er noch warten. Vielleicht auch morgen. Doch eines war sicher: Die Zeitenwanderin würde ihn finden, das hatte sie ihm vor 26 Jahren schon erzählt, ohne zu wissen, mit wem sie sprach. Dass sie ihn damals verraten hatte, machte ihm nichts mehr aus. Die Zeit war ein fragiles Konstrukt – sie konnte jederzeit ihren Ablauf ändern. Ansonsten musste er sich eben auf den Weg zu ihr machen.

– Viktoria – (Ursprung plus 20 Jahre)

Sie erwachte davon, dass ein Mensch eine Klinge auf ein Stück Holz aufsetzte und herabsausen lies. Dieser Mensch schnitzte. Erst dachte sie, es wäre ein Teil ihres Traums. Doch der Lärm hörte nicht auf. Er störte nicht, passte in diese Welt. Nur nicht zu dem Angstgefühl, das sofort in Viktorias Bauch rumorte. Sie zog die Knie an und massierte ihre Waden. Ihr Rücken war steif wie ein Brett. Optimale Bedingungen, um ihrem Verfolger gegenüber zu treten. Immerhin hatte er sie nicht im Schlaf ermordet. Leise dehnte sie sich, um wieder etwas Gefühl in ihre Glieder zu bringen. Na gut, besser und fitter würde sie nicht werden. Mit schleppenden Schritten ging sie zum Ausgang und linste durch die Efeuranken.

„Warum kommst du nicht einfach raus“, schlug eine helle Stimme vor.

Viktoria gab keinen Mucks von sich.

„Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, du Schlafmütze“, erntete sie sogleich den Spott. Er klang aufrichtig amüsiert, ohne bedrohlichen Unterton. Sie schob den Efeuvorhang beiseite und trat hinaus in die sonnenüberflutete Lichtung. Glitzernde Kristalle reflektierten die Helligkeit der Sonne und Viktoria kniff die Augen zusammen. Als sie sich daran gewöhnt hatte, stand auch schon ein Mädchen vor ihr. Lange, braune Zöpfe, abgetragene, aber gepflegte Kleidung, vielleicht sogar von der gleichen Marke wie ihre. Und sie musterte Viktoria ausgiebig von oben bis unten.

„Du bist also unsere Heldin“, stellte ihre Verfolgerin mit nüchterner Stimme fest.

„Du bist also diejenige, die mich gestern steinigen wollte“, konterte Viktoria. Zumindest versuchte sie es, ihre Stimme klang hart und rau. Mit Mühe unterdrückte sie einen Hustenanfall.

„Touché. Zu meiner Verteidigung: Ich wusste nicht, wer du bist. Nur, dass du über einen verdammten Lichtball in die Hütte gewandert bist.“

Der Schreck musste ihr in den Augen stehen, denn die Unbekannte bemerkte es und winkte ab.

„Ich bin nicht vom Regime. Was nicht heißt, dass ich nicht an deinen Fähigkeiten interessiert bin.“

„Wer bist du?“, fragte Viktoria.

„Möchtest du nicht lieber wissen, was ich bin? Rebell, Regime, Alleinstehend, Anführerin?“

„Nein“, antwortete sie und erntete einen erstaunten Blick.

„Okay“, sagte die Unbekannte, „dann stellen wir uns doch gegenseitig vor.“

Viktoria nickte.

„Ich heiße Elena und bin deine Cousine.“

Fast hätte sie sich verschluckt und auch so legte sie einen Hustenanfall hin, dass jeder Grippekranke neidisch geworden wäre.

„Bitte?“

„Na du weißt schon, die Schwester deines Vaters hat die Sache mit den Bienchen und Blümchen vergessen und neun Monate später war ich dann auch in dieser Welt.“

Viktoria verliebte sich umgehend in diesen Sarkasmus. Vom Hustenanfall geschwächt stützte sie sich mit beiden Händen auf ihren Knien ab.

„Das bezweifle ich nicht einmal, aber woher weißt du, dass mein Vater der Bruder deiner Mutter war?“

„Weil Aenghus das gesagt hat. Außerdem hat er angekündigt, dass du auftauchen würdest und wenn ich mich so umsehe, bist du tatsächlich die einzige, die hier neu ist.“

„Wer ist Aenghus?“

„Das wirst du noch sehen. Bei dir soweit alles okay?“

Elenas prüfender Blick ließ Viktoria sich aufrecht hinstellen. Sie zuckte betont lässig mit den Schultern. „Solange du mich nicht wieder mit einem Stein erschlagen möchtest.“

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