DER ABGRUND JENSEITS DES TODES

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»Ja«, sagte Mona mit zitternder Stimme.

Sie hatte eine furchtbare Nacht hinter sich und kaum Schlaf gefunden. Ständig schreckte sie auf und glaubte, das Klingeln des Telefons oder das Geräusch des Schlüssels im Schloss hätte sie geweckt. Doch jedes Mal, wenn sie ihren Morgenmantel überzog und nach unten ging, um nachzusehen, stellte es sich als falscher Alarm heraus. Um fünf Uhr morgens gab sie auf und stand auf.

Noch bevor sie in die Küche ging, um sich Kaffee und Frühstück zu bereiten, nahm sie den Hörer des Telefons ab und wählte Nadines Nummer. Nach dem sechsten Läuten nahm der Anrufbeantworter das Gespräch entgegen. Sie legte nicht gleich auf, sondern hörte sich Nadines aufgezeichnete Stimme an, die erklärte, dass sie momentan nicht ans Telefon kommen könne, und den Anrufer bat, eine kurze Nachricht zu hinterlassen. Erst als die Ansage vorüber war, legte Mona auf. Wozu hätte sie auch eine Nachricht hinterlassen sollen? Das hätte ihr nur noch mehr verdeutlicht, dass Nadine verschwunden war und niemand wusste, wo sie steckte. Und was hätte sie sagen sollen? Schatz! Ich bin’s, deine Mutter. Melde dich doch bitte umgehend, sobald du wieder zu Hause bist. Unter normalen Umständen hätte sie das sicherlich getan. Doch angesichts dessen, was sie befürchtete, wäre sie sich dabei lächerlich vorgekommen. Also wischte sie sich nur die Tränen aus den Augen und schlurfte mit kraftlosen Schritten in die Küche.

Den ganzen Vormittag war sie ruhelos und konnte keine fünf Minuten am Stück stillsitzen. Ständig ging sie zum Telefon, nahm den Hörer ab und überzeugte sich davon, dass sie das Freizeichen hören konnte und der Apparat funktionierte. Als er schließlich klingelte, hatte sie die Hoffnung schon beinahe aufgegeben. Sie saß am Küchentisch und versuchte, ein Kreuzworträtsel zu lösen, was sie normalerweise gern und oft tat. Doch heute kam sie nicht einmal auf die einfachsten Begriffe. Sie fühlte sich wie belämmert. Als das Telefon läutete, ließ sie vor Schreck den Kugelschreiber fallen. Sie sprang auf die Füße, sodass der Küchenstuhl hinter ihr umkippte. Aber sie kümmerte sich nicht darum, sondern eilte, so schnell ihre Beine sie trugen, in den Flur. Sie hob in der Hoffnung ab, dass es sich um Nadine handelte. Auch die Polizei oder Anne wären ihr recht gewesen, solange sie gute Neuigkeiten brachten. Doch es war nur der Facharzt für Neurologie, mit dem sie gestern gesprochen hatte.

Sie konzentrierte sich wieder verstärkt auf die Gegenwart und das Gespräch mit dem Arzt. Ihre Konzentrationsfähigkeit war aufgrund des Schlafmangels und ihrer Erschöpfung momentan nicht sehr ausgeprägt. Dennoch hatte sie keine Probleme, zu verstehen, was der Neurologe ihr erzählte.

Demnach hatte er soeben die Ergebnisse der MRT-Untersuchung aus der radiologischen Praxis erhalten. Und die Ergebnisse waren in der Tat besorgniserregend.

»Bei Nadine wurde eine Geschwulst im Gehirn festgestellt. Sie sitzt an einer schwer zugänglichen Stelle und ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht operabel. Allerdings besteht die Möglichkeit, eine Kombination aus Bestrahlung und Chemotherapie einzusetzen, um dem Tumor damit zu Leibe zu rücken. Gleichwohl sind auch hierbei die Chancen auf eine Heilung bei realistischer Einschätzung bedauerlicherweise nicht sehr hoch.«

Mona schloss die Augen, die nicht nur wegen der Müdigkeit schmerzten. Sie hatte von Anfang an geahnt, dass ihrer Tochter Schlimmes widerfahren war. Und sobald die Nachbarin von dem Untersuchungstermin erzählt hatte, war ihr klar gewesen, dass dabei etwas Besorgniserregendes herausgekommen sein musste. Besorgniserregend genug, dass Nadine das Ergebnis sowohl vor ihrer Mutter als auch vor ihrer besten Freundin verheimlicht hatte.

Der Arzt am anderen Ende der Leitung ergriff erneut das Wort, als Mona auf das, was er gesagt hatte, nicht reagierte. Er äußerte die Vermutung, Nadine sei möglicherweise wegen der niederschmetternden Diagnose verschwunden. »Nach Erhalt des Untersuchungsergebnisses habe ich umgehend den zuständigen Radiologen angerufen. Von ihm erfuhr ich, dass Nadine zutiefst schockiert auf die Diagnose reagiert und heftig geweint haben soll. Vermutlich stand sie unter einem schweren Schock, als sie die radiologische Praxis verließ.«

Mona erwiderte auch darauf nichts. Sie fühlte sich momentan nicht in der Lage, etwas zu sagen. Nicht nachdem ihre größte Befürchtung durch das, was sie soeben erfahren hatte, immer deutlichere Gestalt annahm. Ihr größter Albtraum schien wahr geworden zu sein. Ihr einziges Kind, der letzte geliebte Mensch, der ihr nach dem Tod ihres Mannes geblieben war, war todkrank. Und niemand auf dieser Welt, nicht einmal sie, konnte ihm helfen.

Der Arzt schien zu spüren, dass ihr nicht länger nach Reden zumute war. »Ich werde den Untersuchungsbericht an Ihren Hausarzt weiterleiten. Und ich hoffe sehr, dass Ihre Tochter schon bald wieder wohlbehalten auftaucht. Sie sollte sich anschließend auf jeden Fall umgehend mit mir in Verbindung setzen, damit wir einen Termin vereinbaren und die Therapie besprechen können.« Danach verabschiedete er sich.

Nachdem er aufgelegt und die Verbindung beendet hatte, blieb Mona noch eine Weile regungslos im Flur stehen, den Hörer weiterhin am Ohr und den monotonen Wählton ignorierend. Sie war tief in ihren Gedanken versunken.

Sie dachte an das letzte Telefonat, das sie mit ihrer Tochter geführt hatte. Nadine hatte ihr erklärt, dass es ihr gutginge und das Schmerzmittel die Schmerzen linderte. Mona hatte sofort gespürt, dass Nadine sie belog. Sie hatte es jedoch dabei belassen. Schließlich hatte sie nicht ahnen können, wie schlimm es wirklich um ihre Tochter stand. Woher auch? Außerdem hatte sie darauf vertraut, dass Nadine ihr demnächst alles erzählen würde. Genau so, wie sie es auch in der Vergangenheit immer getan hatte.

Jetzt, im Nachhinein, machte sie sich heftige Vorwürfe, nicht sofort nachgefragt zu haben, warum Nadine sie belog und wie es wirklich um sie stand. Aber jetzt war es dafür zu spät!

Tränen liefen ihr übers Gesicht, während sie wie eine Statue regungslos im Flur stand. Denn nach allem, was sie nun wusste, gab es nur eine einzige logische Erklärung, warum Nadine so überraschend und spurlos aus ihrer gewohnten Umgebung verschwunden war. Angesichts des inoperablen Tumors in ihrem Gehirn und der geringen Heilungschancen musste Nadine beschlossen haben, ihrem Leben selbst ein Ende zu setzen!

IV

Sobald ihre Tränen versiegt waren, erinnerte sich Mona an die Worte des Polizeibeamten bei ihrem gestrigen Telefonat. Er hatte davon gesprochen, dass die dritte Voraussetzung, die Gefahr für Leib und Leben der vermissten Person, beispielsweise durch eine suizidale Absicht, in Nadines Fall nicht gegeben wäre. Doch die Information des Neurologen veränderte diese Einschätzung grundlegend. Deshalb musste jetzt auch viel intensiver nach Nadine gefahndet werden. Sofern es nicht – Gott bewahre! – zu spät war und sie schon viel zu viel Zeit vertrödelt hatten. Aber daran wollte Mona lieber nicht denken.

Sie legte auf und nahm den Zettel, auf dem sie die Durchwahlnummer des Polizeibeamten notiert hatte, von der Pinnwand. Daran heftete sie normalerweise nur ihren Einkaufszettel, die Postkarten von Bekannten oder Rechnungen, die bezahlt werden mussten.

Polizeiobermeister Tim Fischer meldete sich nach dem zweiten Klingeln, als hätte er auf ihren Anruf gewartet. Allerdings war es vermutlich eher so, dass er gegenwärtig an seinem Schreibtisch saß und der Telefonapparat in Reichweite war.

Sie hatte damit gerechnet, dass er genervt reagieren würde, weil sie ihn schon wieder anrief und belästigte. Doch das Gegenteil war der Fall. Er schien sich zu freuen, von ihr zu hören. Oder zumindest gelang es ihm, bei ihr diesen Eindruck zu erwecken.

»Ist Ihre Tochter wieder aufgetaucht?« Seine sympathische Stimme klang erwartungsvoll.

Das konnte Mona leider nur verneinen. Auch wenn es ihr ebenso wie ihm lieber gewesen wäre, sie hätte bessere Neuigkeiten.

»Wir haben sie ebenfalls nicht gefunden.« Mona konnte aus seiner Stimme deutlich die Enttäuschung heraushören. »Den Funkstreifen ist keine Person aufgefallen, auf die Nadines Beschreibung gepasst hätte. Und meine Anrufe bei den Krankenhäusern und Rettungsleitstellen waren ebenfalls erfolglos. Niemand, auf den die Personenbeschreibung zutrifft, wurde in den letzten 48 Stunden gefunden oder irgendwo eingeliefert.«

Nachdem sie beide für ein paar Sekunden bedrückt geschwiegen hatten, fragte er: »Haben Sie mich aus einem speziellen Grund angerufen? Oder wollten Sie nur nachfragen, ob es Neuigkeiten gibt?«

Da erzählte ihm Mona von der niederschmetternden Diagnose nach der Untersuchung. Sie schloss mit der Befürchtung, Nadine könne vorhaben, sich das Leben zu nehmen, um dem Tumor zuvorzukommen.

»Ich stimme Ihnen zu. Diese Information verändert die Sachlage natürlich grundlegend. Wir müssen jetzt sehr wohl von einer Gefahr für das Leben oder zumindest die körperliche Unversehrtheit Ihrer Tochter ausgehen. Deshalb werde ich den Fall umgehend an die Spezialisten der Vermisstenstelle bei der Kripo weiterleiten. Die Kollegen dort sind für solche Fälle ausgebildet. Sie haben die notwendige Erfahrung und wissen genau, wie man am besten nach vermissten Personen sucht. Ich werde sofort alles Erforderliche in die Wege leiten und die Vermisstenanzeige per Kurier an das Kommissariat 14 schicken. Dabei werde ich auf die besondere Dringlichkeit des Falls hinweisen. Dann kann der zuständige Ermittler sofort alle notwendigen Fahndungsmaßnahmen einleiten.«

Mona befürchtete insgeheim jedoch, dass sämtliche Maßnahmen zu spät kamen. Nadine war schon immer sehr zielstrebig gewesen und hatte wichtige Aufgaben nie auf die lange Bank geschoben, sondern sofort erledigt. Dennoch war sie zutiefst dankbar, dass der Polizist ihre Ängste ernst nahm und die erforderlichen Schritte unternahm, um ihre Tochter zu finden.

 

»In Kürze wird sich ein Ermittler der Vermisstenstelle mit Ihnen in Verbindung setzen«, sagte der Beamte. »Und geben Sie bitte auf keinen Fall die Hoffnung auf, Ihre Tochter lebend und wohlbehalten wiederzusehen.« Dann verabschiedete er sich, um augenblicklich in die Tat umzusetzen, was er ihr zuvor versprochen hatte.

Obwohl sich an der Situation zunächst einmal nichts geändert hatte, fühlte sich Mona nach dem Telefonat trotzdem viel optimistischer. Und obwohl sie eigentlich zum Einkaufen hätte gehen müssen, weil der Kühlschrank fast leer war, blieb sie zu Hause, um den nächsten Anruf nicht zu verpassen. Allerdings wartete sie nicht länger auf einen Anruf ihrer Tochter, sondern stattdessen auf den eines Ermittlers der Vermisstenstelle.

V

Der Polizist hielt Wort. Bereits eine knappe Stunde später landete die Vermisstenanzeige auf Anja Spangenbergs Schreibtisch.

Sie legte den Altfall zur Seite, den sie bearbeitet hatte und las zunächst das Begleitschreiben des Polizeiobermeisters von der Polizeiinspektion 41 in Laim. In diesem gab er das letzte Telefonat mit der Anzeigenerstatterin in Stichpunkten wieder. Außerdem wies er auf die besondere Dringlichkeit des Falles aufgrund der Suizidgefahr hin.

Anja konnte ihm nur zustimmen. Nach der schrecklichen Diagnose und dem unmittelbar darauf erfolgten Verschwinden der Frau musste davon ausgegangen werden, dass die Diagnose ursächlich für ihre Abwesenheit war. Und da Nadine Weinharts Verschwinden nach Angabe der Mutter eindeutig ihrem bisherigen Lebensrhythmus widersprach, war ernsthaft zu befürchten, dass sich die Frau etwas angetan hatte oder noch antun würde. Es war daher höchste Zeit, alle notwendigen Fahndungsmaßnahmen einzuleiten, um die Frau, sofern sie noch lebte, zu finden, bevor sie ihre mögliche Absicht in die Tat umsetzte. Während Anja die Vermisstenanzeige bis zum Ende aufmerksam durchlas, dachte sie schon über die konkreten Maßnahmen nach, die sie ergreifen und in die Wege leiten wollte.

Der Polizeiobermeister hatte bereits die Personendaten der Vermissten mit den polizeilichen Datenbanken abgeglichen. Außerdem hatte er Krankenhäuser und Rettungsleitstellen kontaktiert. Damit konnte sich Anja all das sparen. Fischer hatte zwar auch schon mit Nadines Mutter gesprochen, dennoch wollte Anja die Frau persönlich befragen. Zudem hatte sie vor, mit weiteren Bezugspersonen zu reden, die Fischer noch nicht kontaktiert hatte. Das waren Angehörige, Freunde und Arbeitskollegen. Und schließlich wollte sie so schnell wie möglich die Wohnung der vermissten Frau durchsuchen.

Doch vordringlich war zunächst die unverzügliche Ausschreibung von Nadine Weinhart im Informationssystem der Polizei, kurz auch INPOL genannt. Auf diese Datei beim Bundeskriminalamt haben sämtliche deutschen Polizeidienststellen Zugriff. Sie enthält alle als vermisst gemeldeten Personen, deren Zahl derzeit knapp unter 10.000 liegt. Durch die Eingabe aller fahndungsrelevanten Daten einer vermissten Person in INPOL werden sie quasi über Nacht auch automatisch in die Datei über Vermisste, unbekannte Tote und unbekannte hilflose Personen übernommen. Für den Fall, dass eine unbekannte Tote auftauchte, auf die Nadines Personenbeschreibung und ihre besonderen Merkmale passten, konnte somit eine rasche Identifizierung erfolgen.

Volljährige Vermisste wurden im Gegensatz zu Minderjährigen grundsätzlich nur zur Aufenthaltsermittlung ausgeschrieben. Anschließend wurden sie befragt, ob sie mit der Weitergabe ihres Aufenthaltsorts einverstanden waren. Damit war die Vermisstensache für die Polizei erledigt, und alle Fahndungsmaßnahmen wurden eingestellt. Minderjährige, die ihren Aufenthaltsort nicht selbst bestimmen konnten, wurden hingegen in Verwahrung genommen.

Nach der Ausschreibung in INPOL leitete Anja weitere Fahndungsmaßnahmen in die Wege. Dazu gehörte vor allem die Personen- und Funkfahndung. Sie verzichtete allerdings zunächst auf eine Öffentlichkeitsfahndung in den Medien und der lokalen Presse. Eine solche war ohnehin erst zulässig, wenn alle anderen Fahndungsmittel erfolglos geblieben waren. Da zudem Nadine Weinharts Auto nach Angaben der Mutter vor dem Haus stand, in dem sie wohnte, erübrigte sich eine Sachfahndung nach dem Fahrzeug. Diese hätte möglicherweise eher als eine Personenfahndung zum Erfolg geführt, denn ein Wagen konnte nicht so leicht verschwinden wie ein Mensch.

Als Nächstes initiierte Anja bei den zuständigen Kollegen eine Ortung von Nadines Handy. Die Mobilfunknummer entnahm sie der Vermisstenanzeige. Von nun an würde versucht werden, Nadines Mobiltelefon über Mobilfunkzellen, GPS oder mithilfe einer sogenannten »stillen SMS« zu orten. Allerdings musste das Gerät eingeschaltet sein und sich innerhalb des Funknetzes befinden, um eine Ortung zu ermöglichen.

Als Ermittlerin der Vermisstenstelle arbeitete Anja überwiegend vom Schreibtisch aus und telefonierte dabei viel. Doch gelegentlich war es auch notwendig, Personen persönlich zu befragen, Wohnungen zu durchsuchen und Identifizierungsmaterial zu beschaffen.

Deshalb rief Anja zunächst Nadines Mutter an, um ihren Besuch anzukündigen. Sie hatte ein paar ergänzende Fragen an die Frau und wollte sich einen persönlichen Eindruck von ihr verschaffen. Außerdem ging sie davon aus, dass die Frau einen Ersatzschlüssel für Nadines Wohnung besaß. So wäre sie nicht gezwungen, den Schlüsseldienst zu rufen, um in die Wohnung zu gelangen.

Mona Weinhart wohnte in einem Reihenhaus im Stadtteil Laim. Für Anja bedeutete das über die Zschokke- und die Gotthartstraße eine Fahrt von neun Minuten. Allerdings konnte die Frau, der man ihre Ängste deutlich ansah, denn sie war bleich und sah übernächtigt aus, Anja nicht viel Neues erzählen.

Die nächsten Angehörigen, die in den meisten Fällen die Vermisstenanzeigen aufgegeben hatten, gingen in der Regel sofort vom Schlimmsten aus. Sie vermuteten zumeist, die vermisste Person müsste einem Verbrechen oder einem Unfall zum Opfer gefallen oder sogar tot sein. Aber nur weil jemand eine Person vermisst, heißt das noch lange nicht, dass diese auch tatsächlich verschwunden ist.

Allein in München werden pro Jahr ungefähr 2.700 Menschen als vermisst gemeldet. Fast drei Viertel davon sind Kinder und Jugendliche, 20 Prozent wiederum demente und kranke Personen. Etwa 50 Prozent tauchen schon nach wenigen Stunden oder innerhalb einer Woche wieder auf. Nach einem Monat sind über 80 Prozent der Vermissten-Fälle erledigt. Der Anteil derjenigen, die länger als ein Jahr verschwunden sind, liegt hingegen lediglich bei drei Prozent.

Obwohl Anja ihr diese Zahlen nannte, ging Mona Weinhart weiterhin davon aus, dass ihrer Tochter etwas zugestoßen war. Wegen der Tumor-Diagnose unmittelbar vor Nadines Verschwinden war sie davon überzeugt, dass ihre Tochter vorhatte, ihrem Leben selbst ein Ende zu bereiten. Falls sie das nicht schon getan hatte.

Anja gab ihr insgeheim recht. Aber das sagte sie ihr natürlich nicht. Stattdessen versuchte sie, die Frau zu beruhigen, als diese plötzlich in Tränen ausbrach. Sie bemühte sich, ihre Ängste zu verringern, indem sie von ihren eigenen Erfahrungswerten erzählte. Außerdem nannte sie Fälle, die trotz aller vorherigen Unkenrufe positiv ausgegangen waren. Dabei bemühte sie sich, zuversichtlicher zu klingen, als sie es tatsächlich war.

Um die Frau auf andere Gedanken zu bringen, fragte sie nach Nadines Freunden und Arbeitskollegen. Die Kollegen im Klinikum Großhadern kannte Mona Weinhart nicht. Sie gab Anja jedoch den Namen, die Anschrift und die Telefonnummer von Nadines bester Freundin. Anne Schmelzer war vermutlich die letzte bekannte Person, mit der Nadine vor ihrem Verschwinden gesprochen hatte.

Anja notierte sich alles gewissenhaft in ihr Notizbuch. »Kennen Sie einen Ort, an dem Nadine in der Vergangenheit besonders glücklich war?«, fragte sie dann.

»Warum wollen Sie das wissen?«

Suizidgefährdete kehrten erfahrungsgemäß oft an Orte zurück, an denen sie sich in ihrem Leben wohlgefühlt hatten. Doch auch das sagte sie der Frau nicht. »Nadine ist wegen der Diagnose momentan vermutlich nicht besonders glücklich. Sie könnte daher gezielt einen Ort aufgesucht haben, an dem sie es in der Vergangenheit war«, erklärte sie stattdessen.

Aber Mona fiel kein solcher Ort ein. Nadine sei ihrer Meinung nach prinzipiell und überall ein glücklicher und fröhlicher Mensch gewesen.

Anja fiel auf, dass die Frau bereits in der Vergangenheit von ihrer Tochter sprach. Sie ging jedoch nicht darauf ein. »Können Sie mir ein aktuelles Foto ihrer Tochter geben?«

Mona hatte schon eine Aufnahme bereitgelegt. Sie hatte sie ursprünglich Polizeiobermeister Fischer bringen wollen.

Anja nahm das Foto entgegen und sah es sich an. Es handelte sich um ein Porträtfoto und zeigte Nadines Kopf und Oberkörper. Damit war es sowohl für die Fahndung als auch für eine eventuelle Identifizierung gut geeignet.

In jedem Vermisstenfall war Anja von Anfang an bestrebt, Material zu sammeln, das eine sichere Identifizierung ermöglichte. Das geschah für den Fall, dass die vermisste Person als unbekannte hilflose Person oder unbekannte Leiche wieder auftauchte. Dabei handelte es sich in erster Linie um Lichtbilder, eine detailgenaue Personenbeschreibung und eine Beschreibung der mitgeführten Gegenstände wie Schmuck oder Bekleidung. Außerdem wurde nach Möglichkeit der Zahnbefund, Fingerabdrücke und natürlich DNA-Vergleichsmaterial beschafft.

Sie steckte das Bild in ihr Notizbuch. »Haben Sie einen Schlüssel für Nadines Wohnung?«

Mona holte den Schlüssel. »Ich war gestern Vormittag selbst dort, um nach Nadine zu suchen. Ich … Ich habe befürchtet, Nadine könnte hilflos oder tot in der Wohnung liegen. Zum Glück hat sich das nicht bewahrheitet.«

»In welchem Zustand befand sich die Wohnung?«

»Sie war ordentlich und aufgeräumt.«

»Haben Dinge gefehlt?«

»Nein«, sagte Mona nach kurzem Nachdenken und schüttelte langsam den Kopf. »Alles sah so aus wie immer. Nur eben mit dem Unterschied, dass Nadine nicht da war.«

»Hatten Sie den Eindruck, dass Nadine ihre Wohnung für immer oder nur kurzzeitig verlassen hat?«

Diesmal dachte Mona länger nach, bevor sie die Frage beantwortete, als müsste sie sich erst noch einmal alles vergegenwärtigen, was sie in der Wohnung gesehen hatte. »Für mich sah es so aus, als wollte Nadine nur kurz weg und bald wiederkommen. Ich habe auch keinen Abschiedsbrief gefunden.«

»Haben Sie in die Schränke geschaut, um zu überprüfen, ob Nadine ein paar Sachen gepackt und mitgenommen hat? Vielleicht wollte sie sich nur eine Auszeit nehmen, um einen klaren Kopf zu bekommen. Um in aller Ruhe eine Entscheidung zu treffen, wie sie auf die Diagnose reagieren soll. Schließlich besteht noch immer die Chance, dem Tumor mit einer Kombination aus Chemotherapie und Bestrahlung beizukommen.«

Mona schüttelte den Kopf. »Daran habe ich gar nicht gedacht.«

Anja konnte förmlich dabei zusehen, wie die Frau allmählich neue Hoffnung schöpfte, dass es für ihre Tochter doch noch nicht zu spät war. Als sie sich wenig später voneinander verabschiedeten, war Mona Weinhart nicht mehr so niedergeschlagen und hoffnungslos wie zu dem Zeitpunkt, als Anja an ihrer Tür geklingelt hatte. Doch das war nur ein Teilaspekt ihrer täglichen Arbeit. Das Wichtigste und Schwierigste stand ihr noch bevor. Die eigentliche Suche nach einem Motiv für Nadines Verschwinden und ihrem derzeitigen Aufenthaltsort. Und sollte diese nicht alsbald erste Erfolge zeitigen, würde Mona Weinharts Hoffnung ebenso schnell schrumpfen wie ein löchriger Luftballon.

Bevor sie das Reihenhaus verließ, versprach sie der Mutter, ihr umgehend Bescheid zu geben, sobald es Neuigkeiten gab. Sie reichte ihr eine Visitenkarte mit der Nummer ihrer Dienststelle und bat sie, anzurufen, falls Nadine auftauchte oder sich meldete.

VI

Danach fuhr Anja zu Nadines Wohnung, die sich in einem dreistöckigen Mietshaus südlich des Klinikums Großhadern befand. Sie fand einen Parkplatz vor dem Haus und sah sich um. Nadines Wagen war ein betagter blauer VW Polo, der so aussah, als müsste der TÜV-Prüfer beim nächsten Termin blind sein, um ihm die begehrte Plakette zu erteilen. Er stand nur drei Stellplätze von Anjas weißem MINI Cooper entfernt.

Anja ging hin und versuchte vergeblich, eine der Türen oder die Heckklappe zu öffnen. Sie beugte sich hinunter und warf einen Blick ins Innere. Drinnen sah es schlimmer aus als in ihrem eigenen Fahrzeug, doch das war noch kein Verbrechen. Außerdem waren nirgends Blutflecken oder sonst etwas Verdächtiges zu entdecken. Sie hoffte, dass sie in der Wohnung einen Ersatzschlüssel fand, damit sie die Heckklappe öffnen und einen Blick in den Kofferraum werfen konnte.

 

Als sie sich umdrehte und zum Haus sah, entdeckte sie hinter einem Fenster im ersten Stock eine alte Frau, die sie argwöhnisch beobachtete. Sie vermutete, dass es sich um Nadines unmittelbare Wohnungsnachbarin handelte, eine 93-Jährige namens Genoveva Spitzeder. Mona Weinhart hatte bereits mit ihr gesprochen. Von ihr hatte sie vom Untersuchungstermin ihrer Tochter erfahren. Ohne diese Information stünde Anja jetzt nicht hier. Sie hatte den Stein erst ins Rollen gebracht und dafür gesorgt, dass die Vermisstenanzeige an die Vermisstenstelle weitergeleitet wurde. Anja winkte und lächelte. Sie konnte den Argwohn der Frau damit allerdings nicht ausräumen. Eigentlich wollte sie nach der Wohnungsdurchsuchung nur mit Nachbarn sprechen, mit denen Nadines Mutter noch nicht geredet hatte. Doch jetzt würde sie auch bei Genoveva Spitzeder klingeln. Und sei es nur, um ihr zu erklären, wer sie war.

Sie holte die Schlüssel heraus, die Mona Weinhart ihr gegeben hatte, und ging zur Haustür. An dem Ring befanden sich drei Schlüssel. Die beiden größeren, die mit Schlüsselkennringen unterschiedlicher Farbe markiert waren, gehörten zur Haus- und zur Wohnungstür. Der dritte war für den Briefkasten. Sie öffnete zuerst den Kasten und leerte ihn. Neben den üblichen Werbeprospekten und Postwurfsendungen gab es vier Briefe. Anja wollte sie allerdings erst in der Wohnung lesen. Sie öffnete die Haustür und trat in den Hausflur. Es gab keinen Aufzug, deshalb nahm sie die Treppe in den ersten Stock. Sie ging zur linken Wohnungstür und steckte den rot markierten Schlüssel ins Schloss. Dabei konnte sie förmlich den Blick der alten Frau spüren, die sie durch den Türspion voller Argwohn beobachten musste. Aber sie ließ sich davon nicht beirren. Sie schloss auf, trat rasch ein und machte sofort die Tür hinter sich zu.

Sobald sie in der Wohnung war, zog sie Einweghandschuhe an. Erst dann tastete sie nach dem Schalter und machte Licht. Sie blieb für ein paar Momente regungslos stehen und hielt dabei die Luft an, um aufmerksam zu lauschen. Doch in der Wohnung war es absolut still. Nicht einmal das Ticken einer Uhr konnte sie hören. Sie war sofort davon überzeugt, dass sich außer ihr niemand hier drinnen aufhielt.

Sie steckte den Schlüsselring ein. Dann machte sie einen Rundgang durch die Wohnung, um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen. Es gab nur zwei Zimmer, eine schmale Küche und ein winziges Bad. Anja musste Nadines Mutter insgeheim recht geben. Alles sah extrem ordentlich und aufgeräumt aus. Nirgends gab es das geringste Anzeichen für einen Kampf oder ein Verbrechen. Wäre es anders, hätte Anja umgehend die Kollegen von der Spurensicherung und der Mordkommission informiert. Doch nichts an diesem Ort deutete darauf hin, dass Nadine die Wohnung nicht freiwillig oder fluchtartig verlassen hatte.

Nachdem sie sich einen Überblick verschafft hatte, durchsuchte Anja die Wohnung gewissenhafter. Zunächst öffnete sie alle Schränke und sonstigen Behältnisse, die aufgrund ihrer Größe geeignet waren, um in ihnen einen menschlichen Körper oder Teile davon zu verstecken. Zu ihrer Erleichterung fand sie nichts dergleichen. Allerdings hatte sie das auch nicht unbedingt erwartet. Wenn Nadines Leichnam hier irgendwo verborgen gewesen wäre, hätte sie ihn bereits beim Betreten der Wohnung riechen müssen. Denn eine große Kühltruhe, die luftdicht schloss, gab es nicht.

Immerhin stellte sie bei der Überprüfung des Kleiderschranks im Schlafzimmer fest, dass Nadine augenscheinlich weder einen Koffer gepackt, noch Kleidung zum Wechseln mitgenommen hatte. Es sah also nicht danach aus, als hätte sie vorgehabt, für längere Zeit zu vereisen. Außerdem stand ihr Auto vor dem Haus.

Anja hatte gehofft, ein Schreiben oder zumindest eine Notiz von Nadine zu finden. Etwas, das Nadines Mutter in ihrer Aufregung übersehen hatte und Aufschluss darüber geben könnte, wohin Nadine verschwunden war und was sie vorhatte. In dieser Hinsicht wurde sie allerdings enttäuscht. Sie fand auch kein Tagebuch, das für einen Ermittler der Vermisstenstelle eine der ergiebigsten Informationsquellen war. Dafür entdeckte sie ein Adressbuch, einen Laptop und eine Reihe aktueller Dokumente und Briefe. Sie würde alles mitnehmen und im Büro auswerten.

Auf dem Anrufbeantworter befanden sich mehrere Nachrichten. Die erste, vom Vormittag des vorgestrigen Tages, stammte von einer Kollegin aus dem Klinikum Großhadern. Sie erkundigte sich besorgt nach Nadine, weil diese nicht zur Arbeit gekommen war. Anja notierte sich den Vornamen der Frau und die Nummer, die angezeigt wurde. Anschließend folgten Nachrichten von Nadines Mutter und ihrer besten Freundin Anne. Die beiden hatten mehrmals angerufen. Allerdings hatten sie nach dem ersten Mal nicht erneut aufs Band gesprochen.

Der Kühlschrank war für einen Singlehaushalt gut gefüllt. Die angebrochene Milch und der Käse in Scheiben waren aber nur noch bis übermorgen haltbar.

Im Bad entdeckte Anja auf der Ablage des Waschbeckens die offene Packung eines verschreibungspflichtigen Schmerzmittels. Nadine hatte es vermutlich gegen die von der Geschwulst in ihrem Kopf verursachten Schmerzen genommen. Es sah ganz danach aus, als hätte sie unmittelbar vor ihrem Verschwinden noch eine Tablette genommen. Außerdem fehlte eine der Blisterverpackungen. Anja notierte sich den Namen des Analgetikums und die Anzahl der Tabletten, die noch vorhanden waren.

Sie holte einen Beweismittelbeutel aus der Innentasche ihrer Blousonjacke und nahm Nadines Haarbürste. Mehrere weißblonde Haare hatten sich in den Borsten verfangen. Anja hoffte, dass darunter nicht nur ausgefallene Haare ohne Haarwurzel waren. Denn aus einem einzigen ausgerissenen Haar mitsamt Haarwurzel ließ sich die komplette DNA der Vermissten herauslesen. Sicherheitshalber steckte sie Nadines Zahnbürste in einen anderen Beweismittelbeutel. Anschließend fischte sie mehrere benutzte Ohrenstäbchen aus dem halbvollen Kosmetikeimer unter dem Waschbecken. Damit hatte sie genug Material für einen DNA-Vergleich, falls eine unbekannte Leiche oder eine unbekannte hilflose Person gefunden wurde, auf die Nadines Personenbeschreibung passte. Und sobald sie zurück im Büro war, wollte sie jemanden von der Spurensicherung damit beauftragen, hierherzukommen und Fingerabdrücke zu nehmen. Sie beschriftete die Beweismitteltüten sorgfältig und legte sie dann zu den anderen Dingen, die sie mitnehmen wollte.

Doch sie verließ die Wohnung noch nicht gleich, sondern machte einen weiteren Rundgang. Dieses Mal sah sie sich allerdings mit anderen Augen um. Sie bemühte sich, einen Eindruck von Nadine Weinharts Persönlichkeit zu gewinnen. Schließlich kannte sie die Frau nicht. Dennoch musste sie versuchen, sich so gut wie möglich in sie hineinzuversetzen, um eine Ahnung davon zu bekommen, wohin sie verschwunden war und was sie vorhatte. Gleichzeitig musste sie sich bemühen, die nötige Distanz zu wahren, damit ihr der Fall nicht zu nahe ging. Eine Gratwanderung, die nicht immer hundertprozentig gelang.

Anja überflog die Titel der Bücher und Videofilme im Wohnzimmerregal. Dann sah sie sich die gerahmten Fotos an, die in der Wohnung herumstanden oder an den Wänden hingen. Sie zeigten Nadine allein oder mit Verwandten, Freunden und Kollegen. Dabei machte sie sich Gedanken über das Motiv für das Verschwinden der anderen Frau.