DER WIDERSACHER

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Kapitel 5

Plattner setzte sich erneut hinter das Steuer des BMW. Und da Englmair auf dem Beifahrersitz Platz nahm, blieb für Anja nur die Rückbank übrig.

Sobald sie losgefahren waren, rief Englmair den Hausmeister des Gebäudes an, das sie soeben verlassen hatten. Er teilte ihm mit, dass sie in der Tiefgarage fertig seien und er das Tor schließen und die Zeitschaltuhr der Beleuchtung wieder einschalten könne. Die restliche Fahrt hüllten sich die drei Kriminalbeamten in Schweigen; jeder hing seinen eigenen mehr oder weniger düsteren Gedanken nach.

Zwanzig Minuten später erreichten sie ihr Ziel im sogenannten »Franzosenviertel«. Es lag im Stadtteil Haidhausen und seine Straßen und Plätze waren nach französischen Städten benannt. Plattner parkte den Wagen in einer Seitenstraße in der Nähe des Bordeauxplatzes verbotswidrig vor einer Ausfahrt, und sie stiegen aus.

Anja folgte den beiden Männern. Schon nach wenigen Metern blieb Englmair stehen und deutete auf die Überreste eines teilweise bereits verwischten Kreideumrisses mitten auf dem Bürgersteig. Außerdem waren auch hier getrocknete Blutspuren zu sehen. In unmittelbarer Nähe, direkt vor der Hauswand, hatten Anwohner Blumen abgelegt und brennende Kerzen aufgestellt, um des Toten zu gedenken.

»Hier starb das zweite Opfer«, sagte Englmair.

Das überraschte Anja nicht. Aufgrund des Verhaltens der beiden Kollegen hatte sie bereits befürchtet, dass es noch einen Todesfall geben musste.

»Wurde er wie das erste Mordopfer ebenfalls mit einem einzelnen Dolchstoß ins Herz getötet?«, fragte Anja, die nach einem Zusammenhang zwischen den beiden Todesfällen suchte, denn andernfalls wäre sie jetzt nicht hier.

»Nein«, antwortete Plattner. »Er stürzte aus dem Fenster seiner Wohnung im vierten Stock.« Er deutete mit dem Zeigefinger himmelwärts.

Anja folgte der Bewegung unwillkürlich mit den Augen und sah nach oben. Das Fenster, aus dem der Mann gefallen sein musste, war geschlossen. »Was ist passiert?«, fragte sie und richtete ihren Blick wieder auf Englmair.

Doch erneut war es Plattner, der die Aufgabe übernahm, sie über die Hintergründe des Falls zu informieren. »Der Tote heißt oder besser gesagt hieß …« Er zuckte mit den Achseln, als wäre er sich unsicher, welche Zeitform nun korrekt war und ob ein Leichnam weiterhin seinen Namen behielt. »… Ralf Kohler. Ein riesiger Kerl, mindestens zwei Meter groß, noch dazu Bodybuilder mit einem Körper wie ein Schrank. Von Beruf war er Personenschützer, was bei seiner Statur sogar naheliegend war.«

»So ein Kerl fällt doch nicht einfach so mir nichts, dir nichts aus dem Fenster«, sagte Anja kopfschüttelnd. »Außer natürlich, er wollte das Fenster putzen und ist dabei abgerutscht.«

Plattner lachte, wurde aber rasch wieder ernst.

»Das ist eher unwahrscheinlich«, meinte Englmair. »Wer putzt schon spätabends seine Fenster. Außerdem hatte Kohler eine Putzfrau, die zweimal in der Woche kam.«

»Also ist er entweder selbst gesprungen, weil er seines Lebens überdrüssig war«, sinnierte Anja. »Oder jemand hat nachgeholfen.«

»Eindeutig Letzteres«, sagte Plattner.

»Weswegen seid ihr euch da so sicher?«

»Das Fenster, aus dem Kohler gefallen ist, wurde hinterher wieder geschlossen«, sagte Englmair. »Das kann er unmöglich selbst getan haben, wie du zugeben musst. Und in der Wohnung gibt es eindeutige Spuren einer tätlichen Auseinandersetzung. So ging beispielsweise der Glastisch im Wohnzimmer zu Bruch. Außerdem wurden Blutspuren des Opfers auf dem Parkettboden, an der Wand unter dem Fenster und auf dem Fensterbrett gefunden.«

»Kohler muss bei dem Kampf verletzt worden sein, trug vermutlich auch einige Prellungen und Blutergüsse davon«, erklärte Plattner. »Allerdings lässt sich im Nachhinein nicht mehr feststellen, welche Verletzungen auf den Kampf zurückgehen und welche von dem anschließenden Aufprall auf das Pflaster nach dem Sturz aus dem vierten Stock stammen.«

»Der Gerichtsmediziner geht übrigens davon aus, dass Kohler noch am Leben, aber vermutlich ohne Bewusstsein war, als er starb«, sagte Englmair.

Anja schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ein Zweimetermann, noch dazu Bodybuilder und ausgebildeter Personenschützer, verliert einen Zweikampf, wird bewusstlos geschlagen und anschließend aus dem Fenster seiner Wohnung geworfen?«

Plattner und Englmair nickten gleichzeitig. Englmair mit ernsthafter Miene, um ihr zu zeigen, dass er nicht scherzte, Plattner hingegen mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht.

»Puh«, machte Anja. »Da möchte ich mir lieber gar nicht vorstellen, wie sein Gegner aussah. Außer natürlich, es handelte sich dabei um mehrere Männer.«

Englmair schüttelte jedoch entschieden den Kopf. »Wir gehen von einem Einzeltäter aus. Außerdem glaube ich gar nicht, dass der Mörder unbedingt größer und stärker als Kohler war. Wahrscheinlich war er nur ein besserer Kämpfer. Von Kohlers Kollegen haben wir erfahren, dass er allein aufgrund seiner Größe und Statur schon äußerst eindrucksvoll wirkte und sich deshalb niemand mit ihm anlegte. Er hat allerdings nie eine richtige Kampfkunstausbildung genossen.«

»Wann ist es passiert?«

»Gestern am späten Abend zwischen zehn und halb elf«, sagte Englmair.

»Kohler wollte mit Kollegen ausgehen«, übernahm Plattner. Anja hatte das Gefühl, dass die beiden bereits ein eingespieltes Team waren. »Sie wollten sich um halb elf vor einem Club treffen. Als Kohler nicht kam, versuchten sie zunächst, ihn anzurufen. Da er nicht ans Telefon ging, fuhren sie mit einem Taxi hierher und fanden seine Leiche.«

»Hat jemand im Haus etwas gehört?«, fragte Anja. »Immerhin muss der Kampf eine Menge Lärm verursacht haben.«

»Ein paar Nachbarn haben tatsächlich Lärm gehört«, meinte Plattner. »Sie dachten aber, Kohler würde zu laut Musik hören, was er manchmal tat. Allerdings hat sich scheinbar niemand getraut, die Polizei zu rufen oder sich zu beschweren. Außerdem kehrte ohnehin bald wieder Ruhe ein.«

»Und wie ist der Täter in Kohlers Wohnung gelangt?«

Englmair zuckte mit den Schultern. »Es gibt keine Einbruchspuren. Also hat Kohler ihn vermutlich selbst in die Wohnung gelassen.«

»Und da kam es dann zur tödlichen Auseinandersetzung«, meinte Anja. »Die Frage ist müßig, trotzdem muss ich sie stellen: Hat der Täter in der Wohnung oder am Opfer irgendwelche Spuren hinterlassen? Fingerabdrücke, Haare, Fasern?«

Plattner schüttelte den Kopf. »Die Putzfrau war erst gestern da und hat saubergemacht. Und die Frau ist wirklich sehr gründlich. Die Kriminaltechniker fanden an der Wohnungstür und in der kompletten Wohnung nur Fingerabdrücke von Kohler und seiner Putzfrau. Es sieht auch nicht danach aus, als hätte der Täter anschließend Spuren weggewischt oder beseitigt.«

»Also trug er Handschuhe und hatte vermutlich von Anfang an vor, Kohler zu töten.«

Englmair nickte. »Davon gehen wir momentan aus.«

»Okay«, sagte Anja schließlich und atmete einmal tief durch. »Ihr habt mich doch bestimmt nicht hierhergebracht, damit ich die Feststellungen, die ihr aufgrund der Spurenlage ohnehin bereits selbst getroffen habt, nur bestätige und abnicke, habe ich recht?«

Erneut nickten die beiden Kollegen.

»Dann lasst mich mal kurz zusammenfassen: Die Psychiaterin wurde in der Tiefgarage mit einem einzelnen gezielten Stich ins Herz getötet. Und da es schon drei weitere derartige Fälle in Norddeutschland gab, handelt es sich bei dem Täter vermutlich um einen Serienkiller. Der Personenschützer hier …« Anja deutete auf die Reste des Kreideumrisses und die Blutflecken. »… wurde hingegen ordentlich vermöbelt, bewusstlos geschlagen und anschließend aus dem Fenster geworfen. Wo ist also der Zusammenhang zwischen diesen beiden Mordfällen? Denn dass es einen solchen geben muss, beweist mir bereits die Tatsache, dass ich jetzt hier stehe und mir alles über diesen Mord anhören musste.« Sie sah zuerst Englmair und dann Plattner auffordernd an, bevor sie fragte: »Wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass ihr auch hier eine meiner Visitenkarten gefunden habt. Habe ich recht?«

»Das stimmt«, erwiderte Englmair. »Die Tatortfotos habe ich nicht dabei, aber das ist auch nicht notwendig. Auf jeden Fall fanden wir in der Brusttasche des Leichnams ebenfalls eine Visitenkarte von dir.«

»Das habe ich befürchtet«, sagte Anja. »Und auf der Rückseite der Karte …«

»… befindet sich wiederum ein blutiger Fingerabdruck«, beendete Plattner grinsend den Satz.

»Allerdings stimmen weder die Abdrücke noch die Blutgruppen auf den beiden Visitenkarten überein«, erläuterte Englmair. »Der Abdruck auf der Visitenkarte, die wir bei Kohler fanden, stammt von einer weiteren Person. Wir wissen allerdings auch hier nicht, von wem, da es wiederum keine Übereinstimmung im AFIS gab. Das Blut gehört zur Gruppe 0 Rhesus positiv. In Deutschland ist das die zweithäufigste Blutgruppe, weltweit sogar die Nummer eins, was die Suche nach dem Ursprung des Blutes nicht unbedingt erleichtern dürfte.«

Anja dachte über alles nach, was sie gehört hatte. »Vorhin, in der Tiefgarage, sagtest du, dass der Abdruck und das Blut auf der ersten Visitenkarte nicht vom zweiten Opfer stammten.«

»Das stimmt«, sagte Englmair. »Es ist weder Kohlers Fingerabdruck noch sein Blut.«

»Dann haben wir jetzt schon zwei Leichen«, meinte Anja, »und möglicherweise noch zwei weitere Opfer, von denen wir bislang nur die Abdrücke haben und die Blutgruppen wissen.«

»Und wir haben höchstwahrscheinlich zwei Serienkiller«, ergänzte Plattner.

»Habt ihr etwa auch ähnliche Mordfälle wie diesen hier entdeckt?«

 

Englmair wiegte den Kopf hin und her. »Im Gegensatz zum ersten Fall, in dem der Täter mit einer bestimmten Mordwaffe zugeschlagen und denselben Modus Operandi wie in drei anderen Fällen verwendet hat, ist es in diesem Fall schwieriger, Ähnlichkeiten zu anderen Fällen zu finden. Es gab auf jeden Fall schon zahlreiche Mordfälle, in denen jemand erst verprügelt und anschließend getötet wurde. Allerdings wurde nicht jedes dieser Opfer aus dem Fenster geworfen. Manche wurden auf Schienen gelegt oder von Brücken auf Autobahnen geworfen. Und nicht jeder dieser Fälle muss unbedingt von demselben Täter stammen, der auch Kohler umgebracht hat. Aber aufgrund der Visitenkarte gehen wir davon aus, dass wir es hier mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls mit einem Serientäter zu tun haben.«

»Dass der Widersacher zwei Werkzeuge gleichzeitig einsetzt, ist neu«, meinte Anja mit gerunzelter Stirn und finsterer Miene. »Und es macht mir, ehrlich gesagt, auch ein bisschen Angst. Ein Serienkiller für sich ist bereits angsteinflößend genug, denn bis man so einen Kerl geschnappt hat, falls einem das überhaupt gelingt, hat er meistens schon mehrere Leute umgebracht. Nicht auszudenken, was zwei Psychopathen anrichten können, wenn sie gleichzeitig zuschlagen.«

Anja sah von Englmair zu Plattner und dann wieder zurück zu Englmair. Etwas, das sie in den Mienen der beiden Männer sah, aber nicht eindeutig identifizieren konnte, machte sie jäh misstrauisch. »Was habt ihr zwei denn plötzlich? Ihr schaut mich so komisch an. Irgendwas ist da doch im Busch, oder?« Sie dachte nach, dann seufzte sie. »Sagt mir jetzt bitte nicht, dass es noch ein drittes Opfer und einen dritten Serienmörder gibt.«

Beide Männer nickten synchron, aber nur Englmair machte dabei ein dem Anlass entsprechendes ernstes Gesicht.

Der dritte, und wie Anja hoffte, letzte Tatort an diesem denkwürdigen Tag lag im Luitpoldpark.

Der 33 Hektar große Park liegt im Münchner Norden im Stadtbezirk Schwabing-West. Er wurde 1911 anlässlich des 90. Geburtstages des damaligen Prinzregenten Luitpold eröffnet. Ihm zu Ehren errichtete man einen Obelisken, und in Sichtachse auf das Denkmal wurden 90 Linden für die Lebensjahre des Regenten und 25 Eichen für seine Regierungsjahre gepflanzt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde im Nordteil des Parks aus den Überresten der zerbombten Häuser ein Schuttberg angehäuft. Dieser wurde begrünt und im Jahr 1958 mit einem Bronzekreuz zur Erinnerung an die Opfer der Bombenangriffe gekrönt. Der 37 Meter hohe Luitpoldhügel bietet nicht nur einen ungehinderten Ausblick über das nördliche München, sondern ist im Winter auch ein beliebter Rodelberg. Der Luitpoldpark enthält darüber hinaus zahlreiche Liege- und Spielwiesen, Kinderspielplätze, ein bürgerliches Restaurant mit Biergarten, den Pumucklbrunnen und ein kleines Heckenlabyrinth.

Plattner hatte den Wagen nach einer knapp dreißigminütigen Fahrt auf einem kleinen Anliegerparkplatz an der Ecke Borschtallee und Voelderndorffstraße geparkt, und sie waren das letzte Stück zu Fuß gegangen. Dabei hatten die beiden Kollegen Anja alles erzählt, was sie über die Lebensumstände von Edgar Wimmer, dem dritten Mordopfer, wussten.

Schließlich blieben sie dort stehen, wo der fünfundfünfzigjährige Kellner gestorben war. Auch hier war die Arbeit der Kriminaltechnik längst beendet, die Leiche entfernt und der Tatort freigegeben worden, sodass Anja unwillkürlich ein Gefühl von Déjà-vu erlebte, als sie die verwischten Markierungen und die großflächigen getrockneten Blutflecken auf dem Parkweg sah. Sie war allerdings auch erleichtert. Obwohl sie nun innerhalb kürzester Zeit an den Tatorten von drei Morden gewesen war, war sie gleichwohl mit keiner einzigen Leiche konfrontiert worden. Abgesehen natürlich von den Fotos der toten Psychiaterin, aber das zählte in ihren Augen nicht.

»Muss ich raten, oder erzählt ihr mir einfach, wie Opfer Nummer drei gestorben ist?«, fragte sie nun, da die beiden Männer keine Anstalten machten, von sich aus darüber zu sprechen.

»Ihm wurde die Kehle aufgeschlitzt«, sagte Plattner lapidar.

Als Anja ihn daraufhin ansah, verdeutlichte er seine Worte durch eine entsprechende Geste, als glaubte er, das sei notwendig. Allerdings irritierte es Anja, dass er dabei weiterhin grinste.

»Er ist verblutet«, fügte er dann hinzu.

»Das dachte ich mir bereits«, meinte Anja. »Denn das erklärt das viele Blut, das hier vergossen wurde.«

»Das war aber noch nicht alles, was der Mörder seinem Opfer angetan hat«, sagte Englmair.

»Eigentlich will ich es ja gar nicht wissen«, sagte Anja. »Für einen Tag habe ich nämlich schon genug Scheußliches erfahren. Aber ich befürchte, du wirst es mir trotzdem erzählen.«

Bevor Englmair antworten konnte, platzte allerdings Plattner damit heraus, als wollte unbedingt er es sein, der Anja davon berichtete: »Der Täter hat der Leiche eine Niere entfernt und mitgenommen.«

Anja verzog angewidert das Gesicht. »Echt jetzt?«

Plattner nickte grinsend. »Voll der Hammer, oder?«

Anja konnte seine offensichtliche Begeisterung nicht teilen und schüttelte den Kopf. »Da bin ich jetzt sogar doppelt und dreifach erleichtert, dass die Leiche bereits weggebracht wurde. Und kann mir bitte jemand erklären, warum man die Niere einer Leiche mitnimmt?«

»Entweder wollte er eine Trophäe von seinem Opfer behalten«, meinte Plattner, »oder er hat vor, die Niere zu essen.«

Sowohl Englmair als auch Anja sahen ihren Kollegen daraufhin entsetzt an.

»Warum seht ihr mich so an?«, fragte Plattner und zuckte mit den Schultern. »Das habe ich mir nicht ausgedacht, so etwas ist alles schon mal da gewesen. Denkt nur an Jeffrey Dahmer. Der hob die Köpfe und Körperteile mancher Opfer auf und aß dann Teile davon. Und auch hier in Deutschland gab es bereits derartige Fälle. Zum Beispiel Karl Denke, den Kannibalen von Münsterberg. Er tötete in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts mindestens zwanzig Menschen, zerlegte sie, lagerte das Fleisch in Fässern voller Salzlake und verspeiste es anschließend. Und …«

Englmair unterbrach seinen Partner: »Ich denke, das genügt! Wir haben auch so verstanden, was du uns damit sagen willst.«

Anja wusste nicht, was sie mehr entsetzte. Die Unmenschlichkeit des Mörders, der sein Opfer nicht nur getötet, sondern ihm anschließend auch noch ein Organ für welchen Zweck auch immer entnommen hatte. Oder die sichtliche Begeisterung des frischgebackenen Mordermittlers für dieses Thema und sein beinahe enzyklopädisches Wissen über Serienkiller.

»Eine Sache möchte ich in dem Zusammenhang noch hinzufügen«, wandte Plattner ein und sah seinen Partner um Erlaubnis bittend an. »Es könnte wichtig sein.«

»Wenn es wirklich wichtig ist, dann heraus damit!«, sagte Englmair auffordernd.

Plattner nickte erleichtert. Ausnahmsweise war sogar ihm das Grinsen vergangen, und er sah überraschend ernsthaft aus. Vermutlich kam die Ernsthaftigkeit daher, weil es hier um eines seiner Lieblingsthemen ging. »Ihr habt mir ja beim ersten Tatort in der Tiefgarage erzählt, dass sich dieser Widersacher, der sich im Hintergrund hält, im Darknet Jack nennt. Zuerst hielt ich das ja für einen Witz. Aber soeben ist mir eingefallen, dass Jack the Ripper am 30. September 1888 seinem vierten Opfer Catherine Eddowes, die auch unter dem Spitznamen Kate Kelly bekannt war, eine Niere entnommen hat. Am 16. Oktober 1888 erhielt George Lusk vom Whitechapel Vigilance Committee dann eine kleine Schachtel, dem ein angeblicher Brief des Rippers beilag. Die Schachtel enthielt einen Teil einer menschlichen Niere. Ob sie tatsächlich von Catherine Eddowes stammte, ist allerdings bis heute heftig umstritten. In dem Schreiben behauptete der Absender, dass er das fehlende Stück der Niere gebraten und gegessen habe.« Plattner verstummte und sah seine Kollegen bedeutungsschwer an. »Wenn ihr mich fragt, dann kann das nicht bloß ein Zufall sein.«

Anja musste zunächst den ekelerregenden Bildern Einhalt gebieten, die aufgrund von Plattners Schilderung ihren Verstand überschwemmen wollten. Dann seufzte sie schwer und meinte mit einem zustimmenden Nicken: »Vermutlich ist es alles andere als ein Zufall, denn dafür passt das alles viel zu gut zusammen. Außerdem mag der Widersacher solche gruseligen Details.«

Für mehrere Sekunden schwiegen die drei Ermittler und starrten nachdenklich auf die nur mehr zu erahnenden Umrisse des Mordopfers.

Dann wandte sich Anja an Englmair. »Wann wurde das dritte Opfer eigentlich ermordet?«

»Er hat die Wirtschaft um kurz nach Mitternacht verlassen. Wir gehen daher davon aus, dass er ungefähr um halb eins seinem Mörder begegnet ist.«

»Um diese Uhrzeit dürfte außer den beiden kaum jemand im Park unterwegs gewesen sein«, meinte Anja. »Vermutlich gibt es daher auch keine Zeugen, die den Täter gesehen haben könnten.«

»Genauso ist es«, erwiderte Englmair sichtlich zerknirscht.

»Was ist mit dem Wirtshaus, in dem er arbeitete? Vielleicht hat der Mörder ihn bereits dort beobachtet und ist dabei jemandem aufgefallen.«

»Wir haben natürlich den Wirt, die anderen Bediensteten und ein paar Stammgäste, die wir auftreiben konnten, befragt«, sagte Englmair.

»Und?«

»Niemandem ist ein Gast aufgefallen, der ein ungewöhnliches Interesse an Edgar Wimmer gezeigt hätte.« Englmair zögerte, bevor er weitersprach: »Es gab allerdings an diesem Abend einen Gast, der mehreren Leuten unangenehm aufgefallen ist.«

»Was war das für ein Kerl?«

»Die Zeugen beschrieben ihn übereinstimmend als dicken, ungepflegten Mann«, antwortete Plattner. »Allerdings gehen ihre Beschreibungen zu seiner Person ansonsten weit auseinander, sodass sie im Grunde nicht sehr hilfreich sind. Auf jeden Fall hatte er einen kleinen Hund dabei und benahm sich anscheinend unmöglich. So bestellte er für seinen Hund Mineralwasser, wollte aber nicht dafür bezahlen. Und er hatte scheinbar an allem etwas auszusetzen. Nicht nur Edgar Wimmer, der ihn bediente, war erleichtert, als der Mann schließlich bezahlte und die Wirtschaft verließ.«

»Viel zu auffällig«, meinte Anja nach kurzem Nachdenken und schüttelte den Kopf. »So verhält sich doch niemand, der vorhat, den Kellner umzubringen, der ihn bedient hat und mit dem er unzufrieden war.«

»Das denke ich auch«, sagte Englmair. »Davon ganz abgesehen hatte er einen Hund dabei. Und welcher Serienmörder nimmt schon seinen Hund mit, wenn er seine Morde begeht.«

»Vielleicht hat er den Hund weggebracht und ist dann allein zurückgekommen«, gab Plattner zu bedenken. »Genügend Zeit hatte er ja, bis das Wirtshaus um Mitternacht zumachte und Wimmer nach Hause ging.«

Anja wiegte den Kopf hin und her. »Wie ich schon sagte: Für einen Mörder verhielt sich der Kerl viel zu auffällig. Trotzdem kann er natürlich der Täter gewesen sein, wir sollten daher nichts ausschließen.« Sie überlegte, dann sah sie wieder Englmair an. »Ich gehe mal davon aus, dass es auch in diesem Fall eine Visitenkarte mit einem blutigen Fingerabdruck gab. Sonst stünde ich jetzt vermutlich nicht hier, sondern könnte, wie ich es eigentlich vorhatte, ein paar Runden laufen.«

Englmair nickte. »Es ist genauso wie in den anderen beiden Fällen. Allerdings steckte die Karte in der linken Socke des Leichnams, sodass sie nicht sofort entdeckt wurde. Vermutlich, damit sie nicht blutig wurde. Abdruck und Blut auf der Rückseite der Visitenkarte stammen von einer weiteren, bislang unbekannten Person. Diesmal handelt es sich um die Blutgruppe AB negativ, der seltensten Blutgruppe in Deutschland und weltweit.«

Anja fiel ein, dass ihre Cousine ebenfalls diese Blutgruppe besaß. Sie erschauderte unwillkürlich und beschloss, Tanja später anzurufen, nur um sicherzugehen, dass es ihr gutging. Doch erst einmal musste sie sich auf den vorliegenden Fall konzentrieren. »Gab es ähnliche Fälle wie diesen?«

Die beiden Mordermittler nickten.

»Es gibt sogar eine Reihe derartiger Fälle, in denen in den letzten Jahren dem Mordopfer Organe oder Organteile entnommen wurden«, antwortete Plattner, der sich an diesem Tag als der wahre Experte für Serienkiller entpuppt hatte, der sogar Kalenderdaten historischer Morde auswendig wusste. »Bei einigen dieser Mordfälle wurde den Opfern auch wie hier mit einem Messer die Kehle durchgeschnitten, sodass man durchaus davon ausgehen kann, dass ein und dieselbe Person und damit ein Serienkiller hinter den Taten stecken könnte.«

»Wieso habe ich davon noch nie etwas gehört?«, fragte Anja.

»Davon erfährt die Öffentlichkeit in der Regel nichts«, sagte Englmair. »Schließlich wollen die ermittelnden Behörden keine Panik erzeugen oder Nachahmungstäter und Trittbrettfahrer auf den Plan rufen. Und solange die Presse keinen Wind davon bekommt und anschließend in riesengroßen Buchstaben Schlagzeilen produziert, bleiben derartige Mordserien ein gut gehütetes Geheimnis der Ermittlungsbehörden.«

 

»Also haben wir es hier mit sage und schreibe drei Serienkillern gleichzeitig zu tun«, sagte Anja seufzend. »Als hätten Jack und zwei weitere Serienmörder nicht vollends gereicht, uns das Leben schwer zu machen.« Sie warf einen abschließenden Blick auf die Blutflecken, als wollte sie sich das Muster einprägen, und sah sich dann im Park um. Während der Unterhaltung mit den beiden Kollegen hatte sie die Umgebungsgeräusche komplett ausgeblendet, damit diese sie nicht in ihrer Konzentration störten. Erst jetzt wurde ihr das Lärmen der anderen Parkbesucher, vor allem das der zahlreichen Kinder und Hunde, die über die Wiesen rannten und teilweise Bällen hinterherjagten, wieder bewusst. Obwohl hier vor weniger als vierundzwanzig Stunden ein brutaler und grausamer Mord geschehen war, ging das Leben ringsherum scheinbar unbeirrt weiter. Die Leute machten lediglich einen Bogen um die drei Ermittler und die Blutflecken auf dem Weg.

Nachdem Anja das Wichtigste über die drei Mordfälle erfahren hatte, zwischen denen es aufgrund der aufgefundenen Visitenkarten einen unmittelbaren Zusammenhang geben musste, gingen sie zum Auto zurück.

Diesmal setzte sich Englmair hinters Lenkrad. Anja durfte auf dem Beifahrersitz Platz nehmen, während Plattner sich nach hinten setzte. Zunächst fuhr Englmair zu ihrer Dienststelle in der Hansastraße im Stadtteil Sendling-Westpark. Dort verabschiedete sich Plattner von ihnen und stieg aus. Anschließend brachte der Mordermittler Anja nach Hause. Während der Fahrt sprachen sie allerdings nicht über die Morde, sondern über harmlosere Dinge wie Familie und Freunde. Beide Kriminalbeamten vermieden es auch, über den verstorbenen Anton Krieger und Anjas Suspendierung vom Dienst zu sprechen.

Schließlich brachte Englmair den BMW vor der Einfahrt zu Anjas Grundstück zum Stehen und schaltete den Motor aus.

Anja schnallte sich ab, öffnete aber noch nicht die Tür, denn offensichtlich hatte der Mordermittler noch etwas auf dem Herzen.

»Wir sollten über Personenschutz nachdenken«, sagte er unvermittelt.

»Für wen?«

»Für dich natürlich. Immerhin bist du es, die der Widersacher auf dem Kieker hat.«

Anja war sich dessen durchaus bewusst, doch der Gedanke, auf Schritt und Tritt überwacht und beobachtet zu werden, behagte ihr ganz und gar nicht. »Dafür ist es vermutlich noch viel zu früh«, sagte sie daher.

Englmair sah sie zweifelnd an. »Um dein Leben zu schützen, ist es nie zu früh.«

Doch Anja schüttelte entschieden den Kopf. »Ich denke nicht, dass ich jetzt schon in ernsthafter Gefahr bin. Der Mann, der meinen Vater und meinen Ehemann umgebracht hat, liebt es, mit seinen Opfern zu spielen und sie zu quälen, bevor er sie tötet. Das ist für ihn ein wichtiger Bestandteil der Tat und übt vermutlich einen ebenso großen Reiz auf ihn aus wie das Töten selbst. Deshalb wird er auch dieses Mal nicht darauf verzichten wollen. Das Problem ist eher, dass seine Werkzeuge vermutlich erst eine Menge anderer Leute ermorden, bevor sie sich auf mich konzentrieren, ohne dass wir etwas dagegen unternehmen können. Damit will er mir immer wieder meine eigene Hilflosigkeit vor Augen führen, weil ich nicht in der Lage bin, den Tod dieser Leute zu verhindern. So wie ich es auch nicht verhindern konnte, dass mein Vater und mein Mann umgebracht wurden. Der Widersacher will mich vermutlich gar nicht töten, sondern er will erreichen, dass ich daran zerbreche.«

»Das kannst du nicht mit Sicherheit wissen«, wandte Englmair ein. »Vielleicht ist er es allmählich leid und will dieser Sache jetzt rasch ein Ende bereiten, nachdem du ihm und seinen Handlangern jetzt oft genug in die Suppe gespuckt hast. Auch die geduldigste Katze tötet die Maus, wenn sie lange genug mit ihr gespielt hat. Und um diesmal auf Nummer sicher zu gehen, hat Jack jetzt sogar gleich drei von diesen Typen auf dich angesetzt.«

»Wenn es tatsächlich so wäre, dann wären die Kerle gleich bei mir aufgekreuzt und hätten mich ohne Vorwarnung umgebracht. Und dann bräuchte es auch nicht drei Psychopathen, sondern es hätte sogar ein einziger ausgereicht.«

Englmair seufzte und unternahm einen letzten Versuch, sie zur Vernunft zu bringen. »Bist du dir sicher, dass du keinen Schutz benötigst? Wir könnten einen Streifenwagen vor deinem Haus postieren, dann wärst du wenigstens hier geschützt, ohne dass dir ständig jemand folgt.«

»Die Kollegen werden woanders dringender gebraucht. Aber wenn ich irgendwann der Meinung sein sollte, dass ich in Gefahr bin, dann sage ich dir Bescheid.«

»Na gut«, meinte Englmair, obwohl seine verkniffene Miene deutlich zum Ausdruck brachte, dass es für ihn alles andere als gut war. Aber vermutlich hatte er eingesehen, dass er gegen Anjas Sturheit nichts ausrichten konnte. »Aber dann lass mich dir wenigstens etwas geben.«

»Was denn?«

»Mach doch mal das Handschuhfach auf!«

Anja zuckte mit den Schultern und öffnete das Fach. Sofort entdeckte sie eine vollautomatische Pistole, die neben einigen anderen Dingen, die vermutlich viele Autofahrer mit sich führten, wie ein Fremdkörper wirkte.

»Ich nehme mal an, dass du wegen der Suspendierung deine Dienstwaffe abgeben musstest«, sagte Englmair. »Also nimmst du einfach diese Waffe, dann bist du wenigstens nicht völlig schutzlos, und ich kann heute Nacht besser schlafen.«

Anja machte keine Anstalten, nach der Schusswaffe zu greifen. »Was ist das für eine Pistole?«

»Es handelt sich um eine GLOCK 17C, 9 mm Luger, mit einem 19-Schuss-Magazin.«

»Ich wollte nicht wissen, um was für ein Fabrikat es sich handelt, denn das kann ich selbst sehen, sondern woher die Waffe stammt.«

Englmair seufzte. »Sie gehörte Toni.«

Anja sah den Mordermittler aus großen Augen an. »Das war Kriegers Pistole?«

»Natürlich nicht seine Dienstwaffe. Eher so eine Art Ersatzpistole für den Notfall. Allerdings hat sie ihm am Ende auch nichts genützt, denn er hatte sie nicht dabei, sondern in seiner Schreibtischschublade liegen, als er seinem Mörder begegnete.«

Anja dachte daran, dass ihre Dienstwaffe auch mehr Zeit in der Schublade als in einem Holster an ihrem Körper verbracht hatte.

»Er hätte gewollt, dass du sie bekommst«, sagte Englmair.

»Bist du dir sicher?«, fragte Anja skeptisch. »Krieger hat mir misstraut. Und dabei hatte er nicht einmal Unrecht, denn ich war euch und meinen Vorgesetzten gegenüber nicht aufrichtig und habe relevante Dinge verschwiegen und Beweise unterschlagen und vernichtet. Außerdem ist es meine Schuld, dass er tot ist.«

»Das stimmt doch gar nicht«, sagte Englmair aufbrausend. Sie hatten bereits mehrmals darüber gesprochen, doch die Unterhaltung nahm jedes Mal wie ein Gewohnheitstier dieselben ausgetretenen Pfade. »Du kannst nichts dafür, dass er tot ist. Er hat dir zwar misstraut, sich aber auch in dir getäuscht und sich in eine fixe Idee verrannt, weil er dachte, du wärst aktiv in die Morde verwickelt. Insofern ist er dem Widersacher auf den Leim gegangen. Toni hat seinen Tod selbst verschuldet, weil er dir nachgeschnüffelt hat. Du kanntest ihn nicht so gut wie ich. Deshalb sage ich dir, dass er gewollt hätte, dass du seine Waffe bekommst, um dich gegen die Handlanger des Widersachers zur Wehr zu setzen und dem Dreckskerl endlich das Handwerk zu legen.«

Anja seufzte. »Ist die Waffe sauber?«

»Natürlich«, entgegnete Englmair entrüstet. »Ich weiß zwar nicht, wo Toni sie herhatte, aber sie ist absolut sauber. Außerdem hat er sie ohnehin nie benutzen müssen.«