IM ANFANG WAR DER TOD

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KAPITEL 3

I

Doch aus dem Laufen wurde leider nichts.

Nachdem sie geduscht hatte, fühlte sie sich schon erheblich besser. So als hätte sie damit nahezu alle körperlichen Nachwirkungen des Alkoholkonsums und des Albtraums einfach wegwaschen können. Obwohl sie sich noch immer lebhafter, als ihr lieb war, an die Ermordung des katholischen Priesters erinnerte, standen ihr die Bilder nicht mehr ständig anklagend vor Augen. Und auch die Kopfschmerzen waren wesentlich schwächer geworden. Deswegen verzichtete sie auch darauf, eine Schmerztablette zu nehmen.

Die Welt sah also schon wieder etwas besser aus, als Anja, lediglich in einem Bademantel gehüllt, in der Küche saß und den ersten Becher Kaffee des Tages trank.

Um das angenehme Gefühl, das sie erfüllte, nicht sofort wieder im Keim zu ersticken, vermied sie es bewusst, an die leere Wodkaflasche im Wohnzimmer zu denken. Oder sich darüber den Kopf zu zerbrechen, warum sie sich nicht daran erinnern konnte, dass sie diese gekauft und den Alkohol getrunken hatte. Denn jedes Mal, wenn sie ihre Gedanken in diese Richtung lenkte, stieß sie nicht auf die fraglichen Erinnerungen, sondern nur auf eine blanke, leergefegte Fläche.

Ein Blackout!

Aus der unrühmlichen Phase ihres Lebens, als sie zu viel und zu regelmäßig getrunken hatte, um ihre Sorgen und Probleme im Alkohol zu ertränken, kannte sie solche Blackouts. Doch irgendwie fühlte es sich heute anders an als früher. Es fühlte sich nicht richtig an! Allerdings konnte Anja zu ihrem Bedauern nicht sagen, was genau sie daran störte. Sie wusste nur, dass es nicht so war, wie es eigentlich sein sollte. Und das beunruhigte sie.

Deshalb vermied sie für den Moment nach Möglichkeit alle Überlegungen, die in diese Richtung gingen. Sie wusste ohnehin, dass sie augenblicklich noch nicht einmal ansatzweise in der Lage war, dieses Rätsel zu lösen. Also war es besser, sie ließ es vorerst bleiben und grübelte nicht dauernd fruchtlos darüber nach. Damit verschwendete sie nur ihre Zeit; und die konnte sie auf andere Art und Weise wesentlich besser nutzen.

Anja trank den Kaffeebecher aus und überlegte, ob sie sich erst noch einen zweiten genehmigen oder sich stattdessen gleich ihre Joggingsachen anziehen sollte. Doch noch bevor sie sich entschieden hatte, intonierte ihr Handy das Lied »Engel« von Rammstein und signalisierte ihr damit, dass sie einen Anruf bekam.

Nachdem sie den leeren Becher abgestellt hatte, stand sie auf und ging in den Flur, aus dem der Klingelton ihres Smartphones kam. Es lag auf dem Schuhschrank neben der Garderobe. Anja konnte sich zwar nicht erinnern, es gestern dorthin gelegt zu haben, aber da sie das oft tat, wunderte sie sich auch nicht darüber.

Sie erkannte die Nummer, die angezeigt wurde, und verzog unweigerlich das Gesicht. Ein Anruf dieses Mannes war für sie gleich in zweifacher Hinsicht unangenehm. Erstens mochte sie Anton Krieger nicht besonders. Und zweitens bedeutete es prinzipiell nie etwas Gutes, wenn ein Kollege von der Mordkommission sie zu einer derart nachtschlafenden Zeit anrief.

II

Anja Spangenberg war ebenfalls bei der Kriminalpolizei München tätig. Allerdings arbeitete sie nicht in der Mordkommission, sondern als Kriminalhauptkommissarin im Kommissariat 14, der sogenannten Vermisstenstelle. Diese war für Vermisste und unbekannte Tote zuständig. Da Anja allerdings keine besondere Vorliebe für, sondern im Gegenteil eine ausgeprägte Abneigung gegen Leichen hatte, war sie froh, dass sich ihr Zuständigkeitsbereich auf vermisste Personen beschränkte.

Gleichwohl wurde sie immer dann von den zuständigen Mord- oder Todesermittlern umgehend darüber informiert und an den Tatort oder in einen Sektionsraum des Instituts für Rechtsmedizin in der Nußbaumstraße gebeten, wenn einer ihrer Vermissten als Leichnam wieder auftauchte. Dort mussten sie dann gemeinsam einen Abgleich der Beschreibungsmerkmale der unbekannten Leiche mit den Angaben über die vermisste Person aus der Vermisstenanzeige durchführen, um zu klären, ob es sich bei dem Leichnam tatsächlich um die gesuchte Person handelte. Sofern die vorhandenen Merkmale für eine zweifelsfreie Identifizierung nicht ausreichten, erfolgte zusätzlich ein DNA-Abgleich. Erst wenn die Leiche eindeutig als die vermisste Person identifiziert werden konnte, konnten auch die Angehörigen benachrichtigt werden. Damit war der Vermisstenfall für Anja erledigt.

Obwohl es zum Glück nicht oft vorkam, weil die überwiegende Anzahl der Vermisstenfälle sich dadurch erledigte, dass die Vermissten früher oder später von selbst nach Hause zurückkehrten oder dank der eingeleiteten Fahndungsmaßnahmen gefunden wurden, hatte Anja einen wahren Horror vor den sporadischen Besuchen im Keller des rechtsmedizinischen Instituts.

Als sie nun die Nummer des Anrufers erkannte, brach ihr daher erneut der Angstschweiß aus. Und obwohl sie gerade einen ganzen Becher Kaffee ausgetrunken hatte, wurde ihr Mund so trocken, als hätte sie einen Spaziergang durch die Wüste unternommen.

Wenn Kriminaloberkommissar Anton Krieger um diese Uhrzeit bei ihr anrief, konnte das eigentlich nur bedeuten, dass eine unbekannte Leiche aufgetaucht war und die routinemäßige Recherche in der Datei für »Vermisste/Unbekannte Tote« einen Zusammenhang mit einem ihrer Vermisstenfälle ergeben hatte. Anja erschauderte daher schon beim bloßen Gedanken daran, dass sie demnächst erneut mit einer Leiche konfrontiert werden würde.

Das hat mir zu meinem Glück gerade noch gefehlt!

Als wenn sie im Augenblick nicht schon genug eigene Probleme hätte. Erst das Erwachen aus dem allzu realistischen und detaillierten Albtraum über die Ermordung des Geistlichen, den sie als Kind gekannt hatte. Anschließend die Feststellung, dass sie eine Flasche Wodka geleert hatte, obwohl sie seit einem Dreivierteljahr keinen Alkohol mehr angerührt hatte. Dann die Gedächtnislücke, weil sie sich nicht daran erinnern konnte, die Wodkaflasche gekauft und ausgetrunken zu haben. Und jetzt, gewissermaßen als krönender Abschluss des Ganzen, auch noch ein nächtlicher Besuch in der Rechtsmedizin, auf den sie auch an besseren Tagen gut und gerne verzichten konnte.

Na prima!, dachte Anja missmutig. Wenn ein Tag schon so hundsmiserabel anfing, dann ging es ihrer Erfahrung nach auch munter so weiter und wurde kein Stück besser, sondern immer schlimmer.

Sie erinnerte sich automatisch an ihren letzten Besuch in einem der Sektionsräume, die ihr jedes Mal erneut das Gruseln lehrten. Er lag mittlerweile drei Monate zurück und hatte zu ihren Ermittlungen im Fall des Apokalypse-Killers geführt. Und am Ende beinahe dazu, dass ihre Cousine Tanja und sie selbst ihr Leben verloren hätten.

Als sie sich schließlich wieder des Mobiltelefons in ihrer Hand bewusst wurde, das noch immer unermüdlich den Rammstein-Song spielte, seufzte sie leise, ergab sich jedoch in ihr Schicksal und nahm den Anruf widerwillig entgegen.

III

»Wunderschönen guten Morgen, hochverehrter Kollege Krieger«, flötete sie ins Gerät, obwohl ihr eher danach zumute war, ihn anzuschnauzen, was ihm eigentlich einfalle, sie um diese Uhrzeit anzurufen, und dass er das gefälligst nie wieder tun solle. Doch sie beherrschte sich. Wenn sie entgegen ihrer wahren Gefühle und ihrer Natur freundlich zu ihm war, nahm sie ihm damit vermutlich noch am ehesten den Wind aus den Segeln.

Und es funktionierte tatsächlich. Es kam nicht oft vor, dass Anton Krieger sprachlos war. Doch diesmal war das der Fall. Vermutlich hatte er damit gerechnet und sogar darauf gehofft, er könnte Anja mit seinem Anruf aufwecken, und insgeheim seine diebische Freude daran gehabt. Dass Anja wach und augenscheinlich auch noch bestens gelaunt war, vermieste ihm hoffentlich die Schadenfreude.

»Was ist los, Krieger?«, fragte Anja nach, als er nichts erwiderte. »Hat es dir die Sprache verschlagen?« Sie wünschte sich, das wäre tatsächlich der Fall. Es wäre zu schön, um wahr zu sein, wenn sie ein einziges Mal mit ihm telefonieren könnte, ohne sich seine dummen Sprüche und abfälligen Bemerkungen anhören zu müssen.

Doch der Kollege von der Mordkommission erholte sich rasch wieder. »Natürlich nicht. Ich war nur für einen kurzen Augenblick überrascht, dass du um diese Uhrzeit schon wach bist.«

Zu Anjas Überraschung beließ er es dabei. Sie hatte damit gerechnet, dass er noch etwas Anzügliches von sich geben würde. Dass er stattdessen ausnahmsweise darauf verzichtete, irritierte sie daher.

Was ist denn mit dem los?

Anton Krieger war die unangenehmere Hälfte eines Mordermittlerteams, mit dem Anja schon mehrmals zusammengearbeitet hatte. Zuletzt im Fall des Apokalypse-Killers. Sein Kollege war Kriminalhauptkommissar Peter Englmair. Die beiden Männer arbeiteten beim Kommissariat 11 und waren für vorsätzliche Tötungsdelikte zuständig. Während Englmair der freundliche und väterliche Typ war, mit dem Anja immer wieder gern zusammenarbeitete, verkörperte Krieger wie die andere Seite einer Medaille das exakte Gegenteil. Unter anderem hatte er eine Gabe dafür, die empfindlichsten Punkte anderer Menschen zu entdecken, um sie dann gekonnt gegen sie zu verwenden. Beim Verhör eines Verdächtigen war das natürlich hilfreich. Doch dadurch, dass er es nahezu gegenüber jedermann einsetzte, machte er sich bei seinen Bekannten und Kollegen keine Freunde.

»Ich bin aufgestanden, um zu joggen«, log Anja, ohne von ihm danach gefragt worden zu sein, warum sie schon wach war. Allerdings war es gar keine hundertprozentige Lüge, denn ohne seinen Anruf wäre sie vielleicht schon unterwegs. »Als du angerufen und mich gestört hast, wollte ich gerade meine Joggingklamotten anziehen und ein paar Runden im Westpark drehen.«

 

»Ach ja? Laufen wolltest du also.« Es klang argwöhnisch, so als glaubte er ihr nicht.

Anja runzelte verwirrt die Stirn. Sein merkwürdiges Verhalten war absolut untypisch für ihn. Normalerweise hätte er schon längst ein paar dämliche Sprüche und die eine oder andere anzügliche Bemerkung zum Besten gegeben. Dass er das völlig unterließ und stattdessen so ungewohnt ernst und vernünftig klang, machte sie unwillkürlich nervös. Um die aufkeimende Nervosität zu überspielen, versuchte sie es ihrerseits mit Humor.

»Ja, laufen. Du weißt schon, das ist eine Fortbewegungsart, bei der man die Beine abwechselnd nach vorne und nach hinten bewegt. Mir ist natürlich klar, dass dir dieses Konzept nicht bekannt ist, weil du dich am liebsten mit dem Auto fortbewegst. Dabei solltest auch du dich mehr bewegen, Krieger, wenn du nicht in ein paar Jahren an einem Herzinfarkt sterben willst.«

Doch Krieger sprang nicht darauf an. Seine Stimme klang normalerweise immer etwas ölig und einschleimend und erinnerte an einen Gebrauchtwagenhändler oder Versicherungsvertreter unmittelbar vor dem Vertragsabschluss; vor allem, wenn er mit Frauen oder Vorgesetzten sprach. Doch dieses Mal war nichts davon herauszuhören. Stattdessen klang seine Stimme geradezu geschäftsmäßig ernst.

»Ich weiß, was laufen ist«, sagte er humorlos.

Anja seufzte. Sonst ärgerte sie sich immer über Kriegers dumme und geradezu primitive Kommentare. Aber wenn er wie jetzt vollkommen darauf verzichtete, war ihr das dann auch wieder nicht recht, weil es alles andere als normal war. Ihr Instinkt sagte ihr, dass mit ihm irgendetwas nicht stimmte und er sich deshalb so seltsam verhielt. Sie wusste allerdings nicht, was nicht stimmte. Vermutlich hatte es mit dem Grund seines Anrufs zu tun. Deshalb wollte sie endlich wissen, worum es eigentlich ging.

»Wie wär’s, wenn du mir endlich sagst, warum du mich um diese Uhrzeit anrufst? Bestimmt nicht nur, um mit mir zu plaudern. Vor allem, weil du heute anscheinend nicht zum Plaudern aufgelegt bist.«

»Stimmt«, war alles, was er darauf erwiderte.

Seine ungewohnte Wortkargheit trieb Anja allmählich zur Weißglut. Sie hatte eine furchtbare Nacht hinter sich und wusste noch nicht einmal, was eigentlich genau passiert war. Da konnte sie so etwas nicht auch noch gebrauchen. Sie stöhnte daher laut, sodass er es hören musste. »Ich verliere wirklich bald die Geduld mit dir, Krieger. Entweder lässt du mich mit deinem Partner reden, damit ich endlich mit einem vernunftbegabten Erwachsenen sprechen kann, oder du sagst mir gefälligst, was los ist.« Sie wartete seine Antwort jedoch gar nicht erst ab, sondern fuhr unverzüglich fort: »Lass mich raten: Ihr habt ein neues Mordopfer. Und nach einem Blick in die Datei über Vermisste, unbekannte Tote und unbekannte hilflose Personen beim BKA habt ihr festgestellt, dass es sich um einen meiner Vermissten handelt. Und jetzt rufst du mich an, damit ich zu euch ins Institut für Rechtsmedizin komme, um die Leiche zu identifizieren. Und? Habe ich recht oder habe ich recht?«

»Teilweise«, erwiderte Krieger knapp. Welche Laus auch immer ihm über die Leber gelaufen war, sie musste riesig gewesen sein.

»Was meinst du damit?« Anja runzelte die Stirn, während sie darüber nachdachte. »Jetzt lass dir nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen und rede gefälligst in ganzen und verständlichen Sätzen mit mir!«

»Wir haben tatsächlich ein neues Mordopfer …«

»Aber …?«

»Wir kennen bereits seine Identität. Und ausnahmsweise handelt es sich nicht um einen deiner Vermisstenfälle.« Damit wollte er vermutlich darauf anspielen, dass sie im Fall des Apokalypse-Killers gleich mehrere vermisste Frauen verloren hatte, weil der Täter sie zunächst entführt und anschließend getötet hatte. »Außerdem sollst du nicht ins Institut für Rechtsmedizin, sondern zum Tatort kommen.«

»Aber wieso? Was habe ich mit eurem Mordopfer zu schaffen, wenn es keiner meiner Fälle ist? Und wozu braucht ihr mich dann am Tatort, wenn ich euch ohnehin nicht bei der Identifizierung helfen muss?«

Einerseits war Anja erleichtert, dass sich nicht schon wieder einer ihrer Fälle durch den Tod der vermissten Person erledigt hatte. Andererseits beunruhigte sie Kriegers Anruf über alle Maßen. Sie musste an den Albtraum und den Wodka denken und hatte das unangenehme Gefühl, dass dieses Telefonat nichts anderes war als eine Fortsetzung der Katastrophenserie, mit der dieser Tag begonnen hatte.

»Das erzählen wir dir, wenn du hier bist.«

Anja sah ein, dass sie von einem ungewöhnlich wortkargen und ernsten Krieger keine weiteren Informationen bekommen würde. Es schien ihm im Gegenteil geradezu einen Mordsspaß zu bereiten, sie weiterhin im Unklaren und zappeln zu lassen, auch wenn er sich davon nichts anmerken ließ.

Sie seufzte. »Na schön, ich komme. Wo finde ich euch?«

Als der Mordermittler ihr die Adresse nannte, überlief es sie eiskalt. Die düstere Vorahnung, die sie bislang erfüllt hatte, verwandelte sich jäh in eine schreckliche Gewissheit und ließ sie erschaudern.

KAPITEL 4

I

Als sie sich dem Altarraum der Kirche näherte, fiel ihr als Erstes der einzelne blutige Handabdruck an der weißen Wand auf. Er wirkte auf sie wie ein unheimliches Vorzeichen für das, was sie an diesem Ort erwartete.

Sie musste sich zwingen, nicht erschrocken innezuhalten. Beklommen ging sie näher heran und war darum bemüht, sich ihre Beklommenheit nicht anmerken zu lassen. Während sie das tat, erkannte sie weitere Einzelheiten.

Unmittelbar unterhalb des roten Abdrucks lag der leblose Körper, der ihn verursacht hatte, vor den sechs Stufen, die zum erhöhten Altarbereich der Kirche führten. Er war mit einem weißen Tuch abgedeckt, sodass Anja sein Anblick fürs Erste erspart blieb.

Krieger und Englmair, die beiden Mordermittler, standen in der Nähe der Leiche und unterhielten sich flüsternd. Es sah so aus, als wären sie unterschiedlicher Meinung. Während Krieger auf ihn einredete und dabei mit den Händen gestikulierte, schüttelte Englmair, der einen Notizblock und einen Kugelschreiber hielt, immer wieder entschieden den Kopf. Auch das halbe Dutzend Kollegen von der Kriminaltechnik in ihren weißen Overalls, die das Kirchenschiff gründlich unter die Lupe nahmen, sowie zwei uniformierte Beamte verhielten sich ungewohnt leise. Obwohl sich also fast ein Dutzend Personen in der Kirche aufhielten, war es ungewöhnlich ruhig. Das lag vermutlich in erster Linie daran, dass sie sich in einem Gotteshaus aufhielten. In Kirchen senkten die meisten Menschen automatisch ihre Stimmen, als wäre es ein Sakrileg, laut zu sprechen.

Obwohl Anja sich bemühte, leise aufzutreten, verursachten die Absätze ihrer schwarzen Lederstiefel dennoch laut klackende Geräusche auf den Bodenfliesen und kündigten den beiden Mordermittlern ihre Ankunft an. Sie verstummten daher in diesem Augenblick und wandten synchron die Köpfe in ihre Richtung, als die Kollegin von der Vermisstenstelle den Mittelgang verließ und sich ihnen und dem Leichnam näherte.

Wegen der herbstlichen Kühle an diesem frühen Morgen trug Anja über ihrer schwarzen Jeanshose und dem dunkelgrauen Rollkragenpullover einen schwarzen Mantel. Sie begrüßte zuerst Englmair und dann etwas widerwilliger auch Krieger wortlos mit einem Nicken. Zwei Meter von der zugedeckten Leiche entfernt blieb sie schließlich bei den beiden Mordermittlern stehen.

Obwohl sie charakterlich absolute Gegensätze waren, wodurch sie wie die beiden Seiten einer Münze wirkten und sich in ihrer Arbeit als Mordermittlerteam so hervorragend ergänzten, wurden sich die beiden Männer äußerlich von Jahr zu Jahr immer ähnlicher. Beide waren leicht übergewichtig und hatten rasierte Köpfe. Sie unterschieden sich vor allem in ihrer Kleidung und ihrer Körpergröße. Der einundvierzigjährige Englmair war mit seinen eins achtzig nämlich ganze zehn Zentimeter größer als sein drei Jahre jüngerer Kollege. In der Dienststelle wurden die beiden oft als siamesische Zwillinge bezeichnet, da man einen von ihnen fast nie allein, sondern beide in der Regel nur im Doppelpack antraf.

Ein weiterer Unterschied, der Anja in diesem Augenblick besonders bewusst wurde, bestand in ihren Gesichtsausdrücken. Denn während der gutmütig wirkende Englmair Anja mit einem freundlichen Lächeln begrüßte, sah der missmutige Krieger sie mit düsterer Miene so argwöhnisch und vorwurfsvoll an, als wäre sie die Hauptverdächtige in einem Mordfall.

Der Gedanke, der ihr ungewollt und ungebeten in den Sinn gekommen war, machte ihr unwillkürlich Angst. Anja schluckte, bemühte sich aber, sich von ihren wahren Gefühlen nichts anmerken zu lassen.

»Da bin ich!«, sagte sie, als sähen ihre Kollegen das nicht selbst, und breitete die Arme aus. »Könnt ihr zwei mich jetzt endlich darüber aufklären, warum ich um diese Uhrzeit unbedingt hierherkommen musste.« Sie vermied es, einen genaueren Blick auf die Leiche zu werfen, obwohl durch die Decke nur die Umrisse eines auf der Seite liegenden Menschen zu erkennen waren. Stattdessen richtete sie ihren fragenden Blick auf Englmair, von dem sie sich eher eine vernünftige Antwort auf ihre Frage erhoffte.

Doch es war Krieger, der ihr antwortete: »Wegen ihm hier natürlich.« Er machte eine Kopfbewegung in Richtung des Leichnams.

Anja folgte der Bewegung automatisch mit den Augen und starrte die verdeckte Leiche an.

Seit Krieger ihr gesagt hatte, wohin sie kommen sollte, hatte sich die düstere Ahnung, um wen es sich bei dem Mordopfer handelte, in schreckliche Gewissheit verwandelt. Doch sie ließ sich davon nichts anmerken und spielte weiterhin die Ahnungslose. Noch wusste sie schließlich nicht, was hier eigentlich los war.

Bis zum gestrigen Tag war ihr Leben im Grunde noch halbwegs in Ordnung gewesen. Dann hatte sie im Traum aus der Perspektive des Täters die Ermordung eines Priesters miterlebt, den sie vor vielen Jahren gekannt hatte. Anschließend hatte sie auch noch feststellen müssen, dass sie nach Monaten der Abstinenz wieder trank. Das alles hatte dazu geführt, dass Anja sich mittlerweile so fühlte, als säße sie in einem führerlosen Fahrzeug, das sie in halsbrecherischer Fahrt an ein unbekanntes Ziel beförderte, ohne dass sie eine Möglichkeit gehabt hätte, den Kurs zu beeinflussen oder den Wagen abzubremsen.

»Wer ist das?«

»Jetzt tu bloß nicht so, als wüsstest du das nicht schon längst«, sagte Krieger und funkelte sie zornig an.

»Und woher soll ich das bitte schön wissen? Ich bin schließlich gerade erst gekommen. Und außerdem ist der Leichnam zugedeckt.«

»Verarsch uns bloß nicht, Spangenberg!«

Anja wandte den Blick ab und sah stattdessen Englmair an. »Kannst du mir vielleicht sagen, was in deinen Kollegen gefahren ist? Hat er gerade seine Tage oder was?«

»Weißt du, wo wir hier sind?«, reagierte Englmair mit einer Gegenfrage.

Anja machte sich gar nicht erst die Mühe, sich genauer umzusehen. Sie wusste ganz genau, wo sie sich befanden. »Wir sind in einer katholischen Kirche im Stadtteil Obermenzing. Sie heißt Leiden Christi

Englmair nickte bestätigend. »Warst du schon mal hier?«

Anja nickte seufzend und sah sich jetzt doch um. Zusätzlich zu den Decken- und Wandlampen hatten die Kriminaltechniker mobile Scheinwerfer aufgestellt, sodass der Innenraum der Kirche taghell ausgeleuchtet wurde. So hatte sie diesen Ort noch nie gesehen. Dennoch war er ihr noch immer vertraut, denn seit ihrer Kindheit hatte sich hier drin kaum etwas verändert.

»Ich bin in der Nähe aufgewachsen und wurde an diesem Ort getauft«, sagte sie. »Als Kind bin ich hier oft zum Gottesdienst gegangen. Und hier habe ich auch meine Erstkommunion gefeiert.«

»Wenn du diesen Mordschauplatz schon so gut kennst, dann kannst du doch sicherlich auch erraten, wer hier ermordet wurde«, sagte Krieger und grinste höhnisch.

Anja sah erneut auf den zugedeckten Leichnam. Auch wenn sie heute Nacht nicht von der Ermordung eines Geistlichen geträumt hätte, hätte sie allein aufgrund des Fundorts als Erstes darauf getippt, dass der Pfarrer dieser Kirchengemeinde das Mordopfer war.

»Ich nehme mal an, dass es sich um den Pfarrer handelt«, sagte sie daher.

»Du nimmst es also mal an.« Krieger schüttelte den Kopf, als könnte er nicht glauben, was er gehört hatte. »Oder ist es nicht eher so, dass du ganz genau weißt, wer das Opfer ist, weil du ihn kennst.«

»Was soll das hier eigentlich werden, Englmair?«, beschwerte sie sich. »Bin ich etwa plötzlich die Verdächtige in einem Mordfall? Wenn ja, sollten dieser Knallkopf und du mir besser erst einmal meine Rechte vorlesen.«

 

»Quatsch!«, sagte der Angesprochene und schüttelte den Kopf. »Du bist keine Verdächtige.«

»Ach, ist sie das nicht?« Krieger sah seinen Kollegen verärgert an.

»Nein!«, antwortete Englmair entschieden und schränkte dann ein. »Zumindest im Moment noch nicht. Sie ist noch immer eine geschätzte Kollegin von der Vermisstenstelle. Und alle Verdachtsmomente, die sich hinsichtlich dieses Mordfalls gegen sie ergeben, werden wir klären. Oder traust du der Kollegin wirklich zu, einen derartig kaltblütigen und brutalen Mord zu begehen?«

»Warum nicht?«, erwiderte Krieger wie aus der Pistole geschossen und sah Anja finster an. »Schließlich hat sie auch den Apokalypse-Killer getötet.«

»Das war Notwehr!«, sagten Anja und Englmair wie aus einem Mund.

»Behauptet sie«, sagte Krieger trotzig, als wollte er unbedingt das letzte Wort behalten.

Anja schüttelte den Kopf. Mit jeder weiteren Minute, die verging, wuchs ihre Beunruhigung. Was zum Henker war hier bloß los? Krieger hielt sie für eine Verdächtige in diesem Mordfall und traute ihr zu, einen kaltblütigen, brutalen Mord zu begehen. Er bezweifelte sogar, dass sie den Apokalypse-Killer in Notwehr getötet hatte. Englmair hielt zwar zu ihr, hatte jedoch einschränkend gemeint, dass sie noch keine Verdächtige wäre. Außerdem hatte er von Verdachtsmomenten ihr gegenüber gesprochen.

Welche Verdachtsmomente?

Sie erinnerte sich natürlich sofort wieder an den allzu realistisch wirkenden Albtraum, der ausgerechnet an diesem Ort stattgefunden und den Mord an dem Geistlichen gezeigt hatte. War es etwa mehr als nur ein Traum gewesen? Aber wie konnte sie dann davon geträumt haben? Das hieße doch, dass sie zumindest persönlich anwesend gewesen sein musste, um hinterher überhaupt davon träumen zu können.

Der Gedanke machte ihr Angst, deshalb verfolgte sie ihn nicht weiter. Ihr wurde immer mulmiger zumute. Sie wollte endlich Gewissheit darüber haben, was hier geschehen war und was sie damit zu tun hatte.

»Was ist jetzt?«, fragte sie. »Handelt es sich bei dem Opfer um den Pfarrer oder nicht?«

»Sieh es dir am besten selbst an«, sagte Englmair und nickte Krieger zu. Der ging umgehend zur Leiche, bückte sich und zog wie ein Zauberkünstler auf der Bühne mit einem Ruck die Decke zur Seite. Fehlte eigentlich nur noch, dass im Hintergrund eine Kapelle einen Tusch spielte.

II

Anja hätte am liebsten die Augen geschlossen, um dem furchtbaren Anblick zu entgehen oder ihn zumindest hinauszuzögern, damit sie sich mental darauf vorbereiten konnte. Doch dafür war es zu spät. Wie ein Kind, das ins Wasser geworfen wird, damit es auf die harte Tour schwimmen lernt, wurde sie mit dem Anblick der Leiche konfrontiert.

Ihre üblichen Reaktionen beim Anblick eines toten Menschen setzten umgehend ein. Ihr wurde schlecht, ihr Herzschlag beschleunigte sich, und der Schweiß brach ihr aus. Alles in ihr, jede einzelne Faser ihres Körpers, schrie danach, sich herumzuwerfen und aus der Kirche zu rennen. Doch wie immer widersetzte sie sich dem Fluchtimpuls standhaft und blieb an Ort und Stelle, so schwer ihr das auch fiel. Obwohl sie in ihrer Laufbahn schon mehrere Leichen gesehen hatte, wurde es nicht besser, sondern war jedes Mal mindestens genauso schlimm wie zuvor.

Dann legte sich ihre panische Angst endlich ein wenig, sodass sie wieder in der Lage war, vernünftig zu überlegen.

Er ist es tatsächlich!, war ihr erster Gedanke. Aber wie ist das möglich? Wie konnte ich in der Nacht, als er starb, von seiner Ermordung träumen, so als hätte ich selbst das Messer geführt, ohne dabei gewesen zu sein?

Ihre Gedanken wirbelten wie ein Schwarm Schmetterlinge durcheinander, während sie über diese Fragen nachdachte. Die einzig logische Schlussfolgerung, die sich zwangsläufig daraus ergab, ließ sie erschaudern und sorgte dafür, dass sich ein eisiger Klumpen aus ungetrübter Angst in ihrem Magen bildete.

Ich konnte nur davon wissen und den Mord so lebhaft und detailliert im Traum erleben, wenn ich tatsächlich dabei gewesen war!, gab sie sich schließlich selbst die Antwort auf ihre Fragen.

Aber war das wirklich so undenkbar, wie es ihr erschien?

Während ihr all diese Überlegungen blitzartig durch den Kopf schossen, ruhte ihr fassungsloser Blick weiterhin auf dem Leichnam des Mannes, dessen Ermordung sie geträumt hatte.

Er sah exakt so aus wie in ihrem Albtraum, was den Eisklotz aus Angst in ihren Eingeweiden sofort erheblich anwachsen ließ. Seit sie ihn vor dreiundzwanzig Jahren zum letzten Mal bewusst gesehen hatte, war er sichtlich gealtert. Er musste mittlerweile Ende fünfzig oder Anfang sechzig sein. Das kurz geschnittene Haar war ergraut, aber immer noch voll. Zahlreiche Falten hatten sich in sein Gesicht gegraben, das ihr als junges Mädchen stets so gütig und mitfühlend erschienen war. Jetzt, im Tod, war davon allerdings nichts mehr zu sehen. Er war nur noch ein toter alter Mann. Außerdem war er schlanker, als sie ihn aus ihrer Kindheit in Erinnerung hatte, trug ansonsten aber die gewohnte Kleidung, bestehend aus schwarzen Halbschuhen, einer schwarzen Hose und einem Kollarhemd.

Als Anjas Blick über seinen Körper wanderte, sah sie, dass er exakt die Verletzungen aufwies, die ihm auch in ihrem Albtraum zugefügt worden waren. Sie registrierte die beiden Stiche in die Schulter und in den Bauch. Außerdem war natürlich nicht zu übersehen, dass ihm die Kehle durchgeschnitten worden war. Nur die Stichwunde in seinem Rücken konnte Anja von ihrem Standort aus nicht sehen. Sie zweifelte allerdings nicht daran, dass sie ebenfalls da war, und erschauderte erneut, als sie sich unwillkürlich fragte, woher sie das alles wusste. Die Wunden hatten teilweise heftig geblutet. Das Kollarhemd hatte sich überall dort, wo es durchbohrt worden war, dunkler verfärbt; vor allem im Bauchbereich. Darüber hinaus hatte sich unter dem Geistlichen eine Blutlache gebildet. Sie war längst geronnen und hatte sich braun verfärbt; der Mord musste also schon ein paar Stunden her sein.

»Und? Kennst du ihn?« Trotz der Verdachtsmomente gegen sie, von denen Englmair zuvor gesprochen hatte, klang seine Stimme sanft.

Seine Frage riss sie aus ihren Überlegungen. Sie dachte fieberhaft darüber nach, was sie darauf antworten sollte.

Du musst ihnen die Wahrheit sagen!

Widerwillig musste Anja zugeben, dass die Stimme der Vernunft in ihrem Inneren wie immer recht hatte. Wieso sollte sie auch abstreiten, dass sie den Pfarrer als Kind gekannt hatte? Die Mordermittler würden es früher oder später ohnehin herausfinden. Und wenn sie die Kollegen schon in dieser Beziehung belog, verlor sie bei ihnen jegliche Glaubwürdigkeit, die sie momentan vielleicht noch besaß.

Aber sollte sie ihnen auch von dem Albtraum erzählen?

Tu das bloß nicht!

Erneut war sie mit ihrer inneren Stimme einer Meinung. Englmair und Krieger – vor allem Krieger, dieser Idiot! – würden es nicht verstehen. Wie auch? Sie verstand es ja selbst nicht einmal!

Wenn Anja also erzählte, dass sie die Ermordung des Geistlichen im Schlaf aus der Perspektive des Mörders miterlebt hatte, würde man sie höchstwahrscheinlich umgehend in eine Zwangsjacke stecken und in die nächste Klapsmühle verfrachten. Und das ihrer Meinung nach völlig zu Recht. Kriegers Misstrauen würde sich in dem Fall sofort in selbstgerechte Überzeugung verwandeln. Und selbst Englmair, der noch zu ihr stand und nicht glauben mochte, dass sie zu so einer Tat fähig war, müsste sich dem Druck der Tatsachen beugen.

Ihr wurde bewusst, dass sie schon viel zu lange über eine an sich simple Frage nachdachte. Das war verdächtig!