IM ANFANG WAR DER TOD

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Doch in all den Jahren, die seitdem vergangen waren, hatte sich in dieser Hinsicht nicht das Geringste getan. Weder waren die vermissten Kinder aufgetaucht, die, sollten sie überhaupt noch am Leben und nicht längst tot sein, inzwischen erwachsene Frauen in Anjas Alter wären. Noch hatte der Täter ein weiteres Mal zugeschlagen.

Was war geschehen?, fragte sich Anja.

Hatte er einfach aufgehört, braunhaarige Mädchen zu entführen? Anja hielt das für unwahrscheinlich. Ihrer Erfahrung nach hörten solche Menschen nicht einfach auf oder gingen in Rente. In der Regel gehorchten sie ihren verborgenen inneren Trieben, die ihnen keine Ruhe und somit auch keine Möglichkeit ließen, es einfach sein zu lassen.

Was dann?

War der Täter gestorben oder wegen einer anderen Straftat erwischt und zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt worden? Diese beiden Alternativen lagen ihrer Meinung nach schon eher im Bereich des Möglichen.

Und noch eine entscheidende Frage stellte sich Anja weiterhin, nachdem sie die Akte über die damaligen Vermisstenfälle geschlossen hatte: Wieso hatte ihr Vater sterben müssen? Stand sein Tod etwa in unmittelbarem Zusammenhang zum Verschwinden der Mädchen und den Ermittlungen der Soko? War er dem Täter auf die Schliche gekommen und deshalb von diesem aus dem Weg geräumt worden, bevor er seinen Verdacht den Kollegen mitteilen konnte?

Anja nickte abwesend, während sie über die letzte Frage nachsann. Nachdem sie erfahren hatte, dass ihr Vater ermordet worden war, war sie rasch zur Überzeugung gelangt, dass sein Tod mit den damaligen Ermittlungen zu tun haben musste. Aus diesem Grund musste sein Mörder, der vor drei Monaten als Komplize des Apokalypse-Killers wieder in Erscheinung getreten war und Anja seitdem anonyme Nachrichten schickte, ihrer Ansicht nach auch der Entführer der drei Mädchen sein. Und deshalb, so ihre Überlegung, konnte sie ihm möglicherweise dadurch auf die Spur kommen, dass sie die Ermittlungen ihres Vaters von damals wiederaufnahm. Sie musste nachvollziehen können, was er damals herausgefunden hatte und möglicherweise sein Todesurteil gewesen war. Nur so hatte sie eine Chance, den Mörder ihres Vaters und damit denjenigen zu finden, der in der Gegenwart sein Spiel mit ihr trieb.

Daneben musste sie aber auch die Ermittlungen im Mordfall an Pfarrer Hartmann im Auge behalten. Einerseits, damit sie vorgewarnt war, falls sich der Verdacht gegen sie erhärtete. Andererseits, um selbst mehr darüber zu erfahren und unter Umständen herauszufinden, warum sie den alten Geistlichen getötet hatte.

Der Gedanke erweckte in ihr den Wunsch, Englmair anzurufen, um ihn unter anderem zu fragen, wer eigentlich die Leiche gefunden hatte, denn bislang hatte sie das ganz vergessen. Doch bevor sie dazu kam, erhielt sie selbst einen Anruf auf ihrem Handy.

VII

Nachdem sie den Namen des Anrufers gesehen hatte, verließ sie das Büro, um im Flur ungestört telefonieren zu können.

»Hallo, Mama.«

»Hallo, Anja. Ich habe gerade mit Christian gesprochen.«

»Und? Was her er gesagt?«

»Ich habe ihm vorgeschlagen, dass wir uns um sieben beim Italiener treffen, der bei uns in der Nähe ist. Wir waren da schon ein paar Mal anlässlich irgendwelcher Geburtstage beim Essen. Du erinnerst dich bestimmt noch daran.«

»Ich erinnere mich. Und was hält er davon?«

»Er war sofort damit einverstanden.«

»Kommen Judith und Oliver auch?«

»Natürlich. Sie wollen vor allem dich unbedingt kennenlernen.«

»Gut. Ich freue mich auch schon, sie kennenzulernen.«

Sobald sie sich voneinander verabschiedet hatten, rief Anja Englmair an.

»Ich bin’s«, sagte sie in verschwörerischem Tonfall, nachdem er den Anruf entgegengenommen und sich gemeldet hatte. Sie sah sich unwillkürlich um, doch zu ihrer Erleichterung war sie noch immer allein auf dem Flur. »Ich warte vor eurem Büro auf dich.« Danach beendete sie das Gespräch sofort wieder und machte sich auf den Weg.

VIII

Englmair kam fünf Minuten später aus dem Büro, das er sich mit Krieger teilte. Er marschierte wort- und grußlos an ihr vorbei und bedeutete ihr mit einer Handbewegung, ihr zu folgen. Am Kaffeeautomaten blieb er stehen. Anja postierte sich erneut so, dass der Automat ihr Deckung gab und Krieger sie nicht sofort entdeckte, falls er aus dem Büro in den Flur trat. Erst nachdem Englmair zwei Becher Kaffee gekauft und einen davon Anja in die Hand gedrückt hatte, sagte er etwas.

»Was willst du denn schon wieder?«

»Bestimmt nicht diesen ungenießbaren Kaffee«, erwiderte Anja.

Der Mordermittler sah sie überrascht an. »Wieso ungenießbar? Toni und ich trinken täglich mehrere Becher davon. Uns schmeckt er. Was hast du daran auszusetzen?« Er nahm einen großen Schluck, als wollte er seine Behauptung unter Beweis stellen und nickte dann beifällig.

Anja schüttelte den Kopf. »Nicht so wichtig!«

»Na schön. Aber um auf meine Frage zurückzukommen: Was willst du schon wieder?«

»Ich hab mit meiner Mutter über die Bibel gesprochen«, sagte Anja.

Jetzt war er doch interessiert und hob fragend die Augenbrauen. »Und was hat sie gesagt?«

Anja zuckte mit den Schultern. »Sie weiß leider auch nicht, was damit passiert ist. Allerdings ging sie immer davon aus, ich hätte sie nach dem Tod meines Vaters in den Müll geworfen, weil ich sauer auf Gott und die Welt war. Sie äußerte die Vermutung, dass die Bibel bei einem unserer nachfolgenden Umzüge verloren gegangen sein könnte.«

»Und wie ist sie dann in den Besitz des Geistlichen gelangt, wenn du sie ihm nicht gegeben hast?«

»Ich weiß es nicht«, gab Anja zu. »Es ist für mich ebenfalls ein Mysterium.« Das stimmte sogar. Sie wusste zwar im Gegensatz zu ihrem Kollegen ganz genau, wer Pfarrer Hartmann umgebracht hatte. Doch die Bibel mit ihrem Namen auf dem Altar war eine harte Nuss, die sie momentan nicht knacken konnte.

»Und nur, um mir das mitzuteilen, mussten wir uns unbedingt treffen?«, fragte Englmair und schüttelte den Kopf. »Ich war gezwungen, mir auf die Schnelle eine halbwegs überzeugende Ausrede für Toni einfallen zu lassen, damit er mich nicht begleitet.«

»Ich wollte außerdem von dir erfahren, wie die Ermittlungen vorangehen. Macht ihr Fortschritte?«

»Momentan treten wir auf der Stelle.«

»Verdächtige?«

Der Mordermittler schüttelte den Kopf und seufzte. »Schön wär’s. Aber alle Personen aus dem privaten und beruflichen Umfeld des Pfarrers, die dafür infrage kommen, haben ein Alibi. Außerdem tappen wir noch vollkommen im Dunkeln, was das Motiv betrifft. Deshalb bist du im Augenblick aufgrund der Indizien am Tatort die Einzige, die als Tatverdächtige in Frage kommt. Einzig der Umstand, dass wir weder Fingerabdrücke noch sonstige Körperspuren von dir am Tatort fanden, und die Tatsache, dass du eine Kollegin bist, hat dich bislang davor bewahrt, zur dringend Tatverdächtigen befördert zu werden.«

»Wahrscheinlich habe ich es dir zu verdanken, dass Krieger mir noch nicht meine Rechte vorgelesen hat.«

»Noch kann ich ihn bremsen«, sagte Englmair. »Aber je länger wir bei den Ermittlungen auf der Stelle treten und keinen anderen Tatverdächtigen finden, desto eher wird er sich ganz allein auf dich konzentrieren. Und du weißt, was das bedeutet.«

Anja nickte, sagte jedoch nichts. Der eisige Klumpen aus purer Angst in ihren Eingeweiden schien im Rhythmus ihres beschleunigten Herzschlags zu pulsieren.

»Vorläufige Festnahme … förmliche Vernehmung … Wohnungsdurchsuchung …«, zählte er an den Fingern auf, womit Anja in dem Fall zu rechnen hatte.

Dazu darf es auf keinen Fall kommen!

Aber wie sollte sie es verhindern? Schließlich war sie so schuldig, wie die Nacht dunkel war! Und deshalb war es auch so schwer, einen weiteren Tatverdächtigen zu finden. Früher oder später würden das auch die beiden Kollegen von der Mordkommission erkennen und sie festnehmen. Aber wenigstens musste sie sich nicht mehr vor einer Durchsuchung fürchten, da sie sämtliche Beweise aus ihrer Wohnung entfernt hatte. Sorgen machten ihr allenfalls der Absender der E-Mails, der jetzt im Besitz dieser Beweise war, und die Frage, was er damit eigentlich vorhatte.

In diesem Moment erinnerte sich Anja wieder daran, was sie Englmair eigentlich hatte fragen wollen. »Übrigens, wer hat Pfarrer Hartmanns Leiche gefunden?«

»Das waren zwei Streifenbeamte, die in der Kirche nach dem Rechten sahen, nachdem jemand bei der Polizei angerufen und gesagt hatte, er hätte Schreie aus der Kirche gehört und dann wäre jemand herausgekommen und weggerannt.«

»Hat der Anrufer den Täter gesehen?«, fragte Anja mit heftig klopfendem Herzen.

Doch Englmair schüttelte den Kopf. »Nein. Er hörte nur die Schritte.«

»Und wer war dieser Anrufer?«

»Das wissen wir nicht. Er nannte seinen Namen nicht und legte auf, sobald er seine Meldung erstattet hatte.«

»War die Kirchentür offen?«

Der Mordermittler antwortete mit einem Nicken.

Anja überlegte. »Ich nehme an, der Pfarrer hatte jemanden, der ihm den Haushalt geführt hat. Zumindest war das früher so.«

»Ja, er hatte eine Haushälterin. Sie war natürlich zutiefst erschüttert, als sie von dem Mord erfuhr.«

»Und konnte sie euch etwas darüber sagen, mit wem sich der Pfarrer in der Kirche getroffen hat?«

»Nein. Der Pfarrer sagte ihr am Abend nur, dass er noch einen Termin habe. Da es aber nicht ungewöhnlich war, dass er so spät noch Besucher in der Kirche empfing, machte sie sich keine Gedanken darüber und ging früh ins Bett.«

»Aber wenn sie allein im Pfarrhaus war, dann hat sie kein Alibi.«

 

Englmair schnaubte. »Die Frau ist Ende fünfzig, außerdem geradezu winzig und schmächtig. Sie wäre nie im Leben dazu fähig gewesen, den Pfarrer dermaßen zuzurichten.«

»Vielleicht hat sie ihn überrumpelt. Er rechnete bestimmt nicht damit, dass seine liebe kleine Haushälterin ihn abstechen könnte.« Anja wusste selbst, wie weit hergeholt das war. Außerdem fühlte sie sich mies, weil sie den Verdacht gegen eine unschuldige Frau schürte, die ihres Wissens nichts getan hatte, womit sie das verdient hätte. Doch sie wollte einfach nur Zweifel sähen und deutlich machen, dass es auch andere Verdächtige gab, wenn man nur nach ihnen suchte, um damit von ihrer eigenen Schuld abzulenken.

Aber der Mordermittler sprang nicht darauf an. »Laut vorläufigem Bericht des Rechtsmediziners traf die Messerklinge als Erstes die linke Schulter des Opfers und drang dabei nicht einmal sehr tief ein. Der Geistliche wurde durch diese oberflächliche Verletzung kaum beeinträchtigt und hätte sich einem Angreifer, dem er körperlich überlegen war, leicht erwehren können. Vor allem, weil die Haushälterin mindestens einen ganzen Kopf kleiner als er und wesentlich leichter war. Außerdem wurden die beiden weiteren Stiche nach Aussage des Pathologen mit einer Kraft ausgeführt, die eine Frau ihrer Statur und ihres Alters definitiv nicht besitzt.«

»Was ist mit …« Anja zuckte mit den Achseln. »… dem Mesner? Hat der ein überzeugendes Alibi?«

»Hat er. Er saß mit seiner Frau vor dem Fernseher. Außerdem hatte er absolut keinen Grund, den Pfarrer zu töten.«

»Wie heißt der Mann?«

»Das geht dich nichts an!«, sagte Englmair und sah Anja streng an. »Du bist zwar eine geschätzte Kollegin, und ich traue dir, wie ich schon mehrmals sagte, nicht zu, jemandem kaltblütig die Kehle durchzuschneiden, vor allem keinem katholischen Priester. Dennoch stehst du, machen wir uns nichts vor, vor allem aufgrund der Indizienlage am Tatort und des Umstands, dass du den Pfarrer kanntest, als du ein Kind warst, unter Tatverdacht. Also halte dich gefälligst aus unseren Ermittlungen heraus und von allen Personen fern, die wir befragen müssen. Wenn Toni Wind davon bekommt, dass unsere einzige Verdächtige die Nase in unseren Mordfall steckt und möglicherweise mit Zeugen spricht, beantragt er umgehend einen Haftbefehl wegen Verdunkelungsgefahr. Und allein auf Grundlage der Beweise und des Fehlens anderer Verdächtiger dürfte es ihm momentan vermutlich nicht einmal besonders schwerfallen, diesen auch zu bekommen. Hast du verstanden?«

Anja nickte. »Verstanden.«

»Wenn du etwas über die Ermittlungen wissen willst, dann kannst du mich anrufen. Aber komm bloß nicht auf den Gedanken, selbst zu ermitteln.« Englmair sah auf seine Armbanduhr. »Aber jetzt muss ich zurück, sonst wird Toni noch misstrauisch, fragt sich, wo ich so lange bleibe, und kommt nachsehen.«

Anja bedankte sich bei ihm. Nachdem sie sich voneinander verabschiedet hatten, warfen sie ihre vollen Pappbecher in den Müll und gingen in verschiedenen Richtungen davon.

IX

Als sie in ihr Büro zurückkehrte, war Braun nicht mehr da. Während Anja Platz nahm, fragte sie sich unwillkürlich, ob er vielleicht einen interessierten Blick in die beiden Aktenordner geworfen hatte, die noch immer auf ihrem Schreibtisch lagen. Sie glaubte es allerdings nicht, denn bislang hatte sie nicht den Eindruck gewonnen, dass er besonders neugierig wäre. Im Gegenteil. Wenn es um die Privatangelegenheiten seiner Mitmenschen ging, zeigte er sich eher desinteressiert.

Immerhin konnte sie jetzt in aller Ruhe telefonieren und die Namen überprüfen, die sie sich beim Studium der beiden Akten notiert hatte.

Sie hob den Hörer ihres Bürotelefons ans Ohr und wählte die Nummer von Angelina Kreuzer, einer Bekannten aus der Abteilung Personal des Polizeipräsidiums. Nach der Begrüßung unterhielten sie sich zunächst ein paar Minuten über gemeinsame Bekannte und belanglose Dinge, bevor Anja auf den eigentlichen Anlass ihres Anrufs zu sprechen kam und die Namen von ihrem Notizzettel nannte.

Angelina fragte nicht nach, aus welchem Grund Anja Informationen über die genannten Personen benötigte, sondern überprüfte sie kurzerhand mithilfe ihres Computers.

Einer der beiden Todesermittler, die damals den vorgetäuschten Suizid ihres Vaters untersucht hatten, hieß Stefan Klein. Laut Personalakte war er vor ein paar Jahren pensioniert worden. Angelina nannte Anja die Adresse, unter der er geführt wurde.

Kleins damaliger Kollege hieß Franz Stemmler. Er war allerdings vor zwölf Jahren an einem Herzinfarkt gestorben und konnte somit von Anja nicht mehr befragt werden. Höchstens mithilfe einer spiritistischen Sitzung, dachte Anja sarkastisch. Noch war sie aber nicht so verzweifelt, dass sie zu derartigen Mitteln greifen musste. Es genügte ihr ohnehin, wenn zumindest einer der beiden Todesermittler ihre Fragen beantwortete.

Hans Baumgartner, der Freund und Kollege ihres Vaters aus der Vermisstenstelle, war ebenfalls aus dem Dienst ausgeschieden. Allerdings schon vor dreiundzwanzig Jahren, unmittelbar nachdem Sabine Schwarzmüller die Leitung der Soko übernommen hatte. Dabei war er damals gerade einmal siebenunddreißig Jahre alt gewesen. Allerdings konnte Angelina aus den Computerdaten, auf die sie Zugriff hatte, nicht ersehen, aus welchem Grund er aufgehört hatte, sodass Anja auf Spekulationen angewiesen war.

Hatte er wegen der Erfolglosigkeit der Soko oder seiner Absetzung als Leiter alles hingeschmissen? Oder hatte ihn der Suizid des befreundeten Kollegen zu diesem Schritt bewogen? Vielleicht hatte er sich auch selbst eine Mitschuld daran gegeben und war daran zerbrochen. Anja wollte ohnehin mit ihm sprechen. Bei der Gelegenheit würde sie vermutlich auch herausfinden, warum er damals aus dem Dienst ausgeschieden war. Allerdings würde sie ihn ebenso wie ihre Mutter erst dann darüber aufklären, dass ihr Vater ermordet worden war, wenn sie den Täter gefunden und unschädlich gemacht hatte.

Da Angelina inzwischen in ihrem Computer die Daten von Sabine Schwarzmüller aufgestöbert hatte, die Baumgartner an der Spitze der Sonderkommission abgelöst hatte, konzentrierte sich Anja wieder darauf, ihrer Bekannten zuzuhören. Demnach war Schwarzmüller vor achtzehn Jahren zum Kriminalpräsidium Oberpfalz nach Regensburg gewechselt und hatte scheinbar dort Karriere gemacht.

Als Letztes kam der Rechtsmediziner. Doch der war schon damals kurz vor der Pensionierung gestanden und fünf Jahre später gestorben.

Anja bedankte sich und schlug vor, dass sie demnächst auf ihre Kosten zum Essen gehen sollten. Dann verabschiedeten sie sich voneinander.

Nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte, saß Anja ein paar Minuten regungslos da, starrte blicklos auf den Notizzettel mit den fünf Namen, die sie, soweit vorhanden, mit den jetzigen Adressen der Personen ergänzt hatte, und dachte nach.

Sie hatte auf jeden Fall vor, mit Baumgartner und Klein zu reden. Mit Ersterem natürlich über die seit dreiundzwanzig Jahren vermissten Mädchen und die damaligen Ermittlungen der Soko. Unter Umständen gab es Spuren und Hinweise, die keinen Eingang in die Akten gefunden, ihren Vater jedoch auf die Spur des Täters gebracht hatten. Klein wollte sie hingegen zum Tod ihres Vaters befragen.

Als Anja einen Blick auf ihre Uhr warf, sah sie, dass sie noch genügend Zeit zur Verfügung hätte, um zumindest einen der beiden Männer aufzusuchen und zu befragen. Doch sie verschob es lieber auf den morgigen Tag. Sie seufzte. Nachdem sie vor zweieinhalb Monaten die beiden Akten kopiert hatte, hatte sie ihre Ermittlungen in diesen beiden Angelegenheiten, die ihrer Meinung nach in unmittelbarem Zusammenhang stehen mussten, immer wieder hinausgeschoben. Vor allem, nachdem sich der Mörder ihres Vaters nicht mehr gemeldet hatte. Im Nachhinein kam es ihr nun beinahe so vor, als scheute sie noch immer davor zurück. Aber wieso? Hatte sie Angst, dadurch schlafende Hunde zu wecken?

Sie schüttelte den Kopf, obwohl sie die Antworten auf diese Fragen nicht wusste. Allerdings fasste sie den festen Vorsatz, morgen endlich damit anzufangen, die Hintergründe dieser alten Fälle aufzudecken.

Versprochen!

Nachdem sie diesen Entschluss gefasst und bekräftigt hatte, legte sie die Akten beiseite und widmete sich bis zum Feierabend wieder ihrer eigentlichen Arbeit, für die sie bezahlt wurde.

KAPITEL 9

I

Als Anja um fünf vor sieben das italienische Restaurant in der Ehrwalder Straße im Stadtteil Sendling-Westpark betrat, war ihre Mutter bereits da. Sie saß allein an einem Tisch für sechs Personen, den sie reserviert hatte. Nachdem Anja ihren Mantel ausgezogen und aufgehängt hatte, begrüßten sie sich. Dann nahm Anja neben Dagmar Platz. Sie saß ungern mit dem Rücken zur Eingangstür; mit der Wand hinter sich fühlte sie sich wohler. Außerdem konnte sie so alles beobachten, was im Lokal vor sich ging.

Da sie Durst hatte, bestellte sie ein großes Glas Mineralwasser. Es fiel ihr, wie schon in den letzten neun Monaten, nicht schwer, bei derartigen Anlässen auf Alkohol zu verzichten. Deshalb erschien ihr der gestrige Rückfall umso rätselhafter.

Dagmar und Anja unterhielten sich über belanglose Dinge. Sie ließen dabei allerdings Themen komplett außen vor, die zu Kontroversen führen konnten. Beispielsweise Anjas Liebesleben oder ihre Arbeit als Polizistin, die ihrer Mutter schon immer ein Dorn im Auge gewesen war. Sie wollten die gute Stimmung nicht trüben, die momentan zwischen ihnen herrschte.

Anjas Mutter war mittlerweile 56 Jahre alt, hatte aber noch immer ein glattes und faltenloses Gesicht. Allerdings schaute sie seit dem frühen Tod ihres ersten Mannes stets etwas verbissen und humorlos drein. Sie tönte ihr hellbraunes Haar, da sich Jahr um Jahr immer mehr graue Haare darin zeigten. Dagmar Fröhlich war zwar einen halben Kopf kleiner als Anja, aber ebenso schlank. Darüber hinaus gab es zwischen Mutter und Tochter eine große Ähnlichkeit in den Gesichtszügen, der Form und dem Schnitt der Gesichter sowie der Farbe der Augen.

Wenige Minuten nach sieben öffnete sich die Tür, und drei Leute betraten das Restaurant.

Auch wenn Anja nicht mit ihrem Kommen gerechnet hätte, hätte der Anblick des älteren Mannes, der die kleine Gruppe anführte, ihr sofort verdeutlicht, wen sie vor sich hatte. Denn er sah aus wie eine gealterte Version ihres Vaters.

Als Anja bewusst wurde, dass sie ihn anstarrte und ihr dabei der Mund vor Staunen offenstand, schloss sie ihn rasch. Allerdings konnte sie den Blick nicht von ihm abwenden, sondern musste ihn weiterhin ansehen, als würde er ihren Blick magnetisch anziehen.

Sie hatte ganz vergessen, wie ähnlich sich die beiden Brüder schon damals gesehen hatten. Und diese Ähnlichkeit sorgte nun dafür, dass ihr ein Schauder über den Rücken lief. Sie hatte das Gefühl, sie würde träumen. Und in diesem Traum war ihr Vater gar nicht tot, sondern am Leben und kam in diesem Augenblick lächelnd auf sie zu. Doch dann realisierte Anja, dass es kein Traum und ihr Vater seit vielen Jahren tot war. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schock und mit einer Intensität, als wäre ihr Vater soeben zum zweiten Mal gestorben.

»Hallo Anja«, sagte der Mann, der inzwischen unmittelbar vor ihr stand und ihr die rechte Hand darbot.

Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie aufgestanden war, und starrte ihn noch immer an, als wäre er ein Gespenst.

Als sie keine Anstalten machte, seine Hand zu ergreifen, oder weil sich ihre heftigen Gefühle wahrscheinlich auf ihrem Gesicht abzeichneten, machte er ein besorgtes Gesicht und fragte: »Alles in Ordnung mit dir?«

Anja schwankte leicht, als ein heftiges Schwindelgefühl sie überkam. Doch es legte sich sofort wieder, und sie beschloss, sich gefälligst zusammenzureißen. Ihr Vater war mittlerweile seit mehr als der Hälfte ihres Lebens tot, und daran würde sich auch nie etwas ändern. Und der Mann, der ihm so verdammt ähnlich sah und nun erwartungsvoll vor ihr stand, hatte ihn möglicherweise ermordet.

»Ja«, sagte sie daher und nickte zur Bekräftigung heftig. »Mir geht’s gut. Es ist nur …« Sie schüttelte den Kopf. »Diese Ähnlichkeit …«

Christian nickte mit ernster Miene. »Frank und ich sahen uns schon immer sehr ähnlich. Und das, obwohl er fünf Jahre älter war als ich. Als wir noch Kinder waren, war er natürlich größer als ich. Aber später, als wir beide erwachsen waren, hielten uns manche Leute sogar für Zwillinge. Das hat ihn in der Regel ziemlich geärgert.«

Endlich gelang es Anja, seine Hand zu ergreifen. Bei dem Gedanken, dass er damit vielleicht den eigenen Bruder umgebracht und das Ganze anschließend so überzeugend als Selbsttötung inszeniert hatte, dass alle darauf hereingefallen waren, wurde ihr ein bisschen schlecht. Am liebsten hätte sie ihre Hand zurückgerissen und an ihrem Hosenbein abgewischt. Doch sie bemühte sich, ihr Unwohlsein und ihren Widerwillen zu unterdrücken und sich von ihren wahren Gefühlen nichts anmerken zu lassen.

 

Endlich ließ er ihre Hand los. Anja widerstand tapfer dem Drang, sie abzuwischen. Noch immer konnte sie allerdings den Blick nicht von ihm lösen.

Ihr Patenonkel war eine knappe Handbreit größer als sie und von schlanker Statur. Er hatte graugrüne Augen und noch immer volles Haar. Dessen ursprünglich hellbraune Farbe war allerdings nur noch an wenigen Stellen sichtbar, im Übrigen indessen längst ergraut. Sein schmales Gesicht, das ein bisschen so aussah, als wäre es wie eine Gummimaske in die Länge gezogen worden, wies nur wenige Falten auf und war glattrasiert. Auffallend war eine alte, blasse Narbe, die von seinem Nasenrücken über die linke Wange verlief, ihn aber nicht verunstaltete. Trotz seines Alters war er noch immer ein attraktiver Mann. Er lächelte freundlich. Dabei fiel Anja auf, dass seine Mundpartie ihrer eigenen ähnelte, denn wie bei ihr war sein Mund etwas zu breit geraten. Außerdem waren seine Lippen sehr schmal. Es handelte sich allem Anschein nach um eine Familienähnlichkeit, die sie aufgrund der Gene ihres Vaters mit dessen Bruder gemeinsam hatte.

Sie erschauderte erneut, als ihr bewusst wurde, dass sie mit einem Mann etwas gemein hatte, der möglicherweise ein skrupelloser mehrfacher Mörder war. Deshalb wandte sie rasch den Blick ab und konzentrierte sich stattdessen auf die beiden Begleitpersonen ihres Onkels.

»Das sind mein Sohn Oliver und meine Tochter Judith«, stellte Christian die beiden jungen Leute vor. »Oliver und Judith, das sind eure Cousine Anja und ihre Mutter Dagmar.«

Alle begrüßten sich und tauschten einen Händedruck aus.

Oliver sah nach Anjas Überzeugung seinem Vater überhaupt nicht ähnlich, sondern kam vermutlich eher nach seiner Mutter. Zumindest, wenn diese ihrerseits einen dunkleren Teint, braune Augen und dunkelbraunes Haar gehabt hatte. Er hatte einen gepflegten Dreitagebart, trug die Haare lang, sodass sie ihm bis auf die Schultern fielen, und überragte seinen Vater sogar noch um einige Zentimeter. Außerdem hatte er ein breiteres Kreuz und eine größere Schulterbreite. Anja konnte sich ihren Cousin daher gut auf einem Brett beim Wellenreiten vor der Küste Südafrikas vorstellen. Er grinste breit und jungenhaft, während er ihre Hand kräftig drückte und schüttelte, und war Anja vom ersten Moment an sympathisch. Hatte sie bislang eher gemischte Gefühle gehabt, was dieses Treffen und Kennenlernen anging, das sie eher an ein Blind Date mit drei Unbekannten erinnert hatte, so bereute sie es nun nicht mehr, dass sie zugesagt hatte.

Obwohl Judith sowohl helleres Haar als auch eine entschieden blassere Haut als ihr Bruder hatte, wirkte sie auf Anja gleichwohl düsterer. Sie erwiderte Anjas freundliches Lächeln nicht, sondern sah sie argwöhnisch an, als hätte sie noch nicht entschieden, ob sie ihre Cousine mochte oder nicht. Anja ging es im Grunde ebenso, wobei sie aufgrund ihres ersten Eindrucks eher dahin tendierte, Judith nicht zu mögen. Deshalb verblasste ihr Lächeln etwas, als sie ihrer Cousine, die ihren Händedruck kaum erwiderte, kurz die Hand schüttelte. Auch sonst war Judith das genaue Gegenteil ihres Bruders. Hätten Gentechniker zwei grundverschiedene Menschen herstellen wollen, dann wäre vermutlich so etwas wie dieses Geschwisterpaar herausgekommen. Judith hatte hellblondes, mittellanges Haar und grüne Augen. Sie und Anja hatten in etwa die gleiche Größe und Statur. Und da Judith eine vage Ähnlichkeit mit ihrem Vater hatte, gab es die auch zwischen den beiden Cousinen, auch wenn sie nur schwach ausgeprägt war und nicht sofort ins Auge sprang. Erst wenn man gezielt danach suchte, konnte man sie entdecken.

Nach der Begrüßung und dem ersten Beschnuppern zogen die Neuankömmlinge ihre Mäntel und Jacken aus. Dann nahmen alle am Tisch Platz. Oliver und Judith saßen Anja und ihre Mutter gegenüber, während sich Christian, als wäre er das Oberhaupt der Sippe, links von Anja an die Stirnseite des Tisches setzte.

Als die Bedienung kam, um die Getränkeorder entgegenzunehmen, bestellte Christian ein dunkles Weißbier. Er sagte, dass er in all den Jahren in Südafrika nichts so sehr vermisst habe wie das gute bayerische Bier. Anja hatte erwartet, dass Oliver ebenfalls ein Bier nehmen würde, doch er trank eine Cola. Judith hingegen folgte dem Beispiel ihres Vaters und bestellte auch ein Bier.

Nachdem die Bedienung gegangen war, herrschte für ein paar zähe Augenblicke unbehagliches Schweigen. Jeder mit Ausnahme von Judith schien nach einem geeigneten Gesprächsthema zu suchen, um eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Es war Dagmar, die schließlich als Erste das Wort ergriff und das momentan herrschende Wetter thematisierte. Also sprachen sie über den teils nasskalten, kühlen Herbst in Deutschland und verglichen ihn mit den Temperaturen und Bedingungen in Südafrika, bis schließlich die Getränke der Neuankömmlinge gebracht wurden. Dann stießen sie an und tranken.

»Freut mich wirklich riesig, dass ihr beiden diesem Treffen zugestimmt habt«, sagte Christian, nachdem er sein Glas abgesetzt hatte, und leckte sich den Bierschaum von den Lippen. »Es war wirklich allerhöchste Zeit, dass sich Anja, Oliver und Judith endlich kennenlernen.«

»An uns lag es nicht, dass es vorher nicht geklappt hat«, erwiderte Dagmar in ihrer direkten Art.

Anja hätte ihr am liebsten heimlich mit dem Ellbogen einen Rippenstoß versetzt oder sie unter dem Tisch getreten. Bei der Vielzahl von Beinen, die sich dort unten tummelten, hatte sie jedoch Angst, der Tritt könnte jemand anderen treffen. Was ihre Mutter gesagt hatte, stimmte zwar, aber man musste es ja nicht unbedingt laut aussprechen. Aber so war ihre Mutter nun mal. Im diplomatischen Dienst hätte sie nur schwerlich Karriere gemacht.

Für einen Moment herrschte am Tisch atemloses Schweigen. Alle sahen Dagmar an, Christian und Oliver überrascht, Judith mit finsterem Gesichtsausdruck, als läge ihr eine gepfefferte Erwiderung auf der Zunge.

Dann lachte Christian. »Genau so habe ich meine Schwägerin Dagmar noch von früher in Erinnerung. Du hast schon damals kein Blatt vor den Mund genommen und auch unangenehme Wahrheiten zur Sprache gebracht. Anscheinend hast zumindest du dich kein bisschen verändert.«

Alle bis auf Judith lachten. Die Stimmung, die vor wenigen Sekunden noch kurz davor gewesen war, umzukippen, wurde schlagartig besser.

Nachdem die Bedienung die Speisekarten gebracht hatte, war jeder eine Weile damit beschäftigt, darin zu blättern und etwas auszusuchen, das nach seinem Geschmack war. Die Männer bestellten Pizza. Judith nahm einen großen gemischten Salat. Anja hatte keinen großen Hunger, dafür aber noch immer Durst. Da sie aufgrund ihrer früheren Besuche wusste, dass die Nudeln aus eigener Herstellung waren, bestellte sie wie ihre Mutter Tagliatelle mit Steinpilzen und dazu ein weiteres großes Wasser.

»Mama sagte, dass … du im Ruhestand bist und deinen Lebensabend hier verbringen willst«, sagte Anja, als sie auf das Essen warteten. Sie war schließlich nicht gekommen, um nur Smalltalk zu machen, sondern wollte vor allem mehr über ihren Onkel erfahren. Beinahe wäre ihr dabei ein Missgeschick widerfahren, und sie hätte ihn gesiezt. Immerhin war er nach all den Jahren, die sie sich nicht mehr gesehen hatten, für sie zu einem Fremden geworden.

»Das stimmt«, antwortete Christian und nahm einen weiteren Schluck Bier, bevor er fortfuhr: »Ich war in Südafrika fast zwanzig Jahre als Ingenieur im Bergbau tätig. Vor vier Jahren habe ich mich dann selbstständig gemacht und gemeinsam mit einem einheimischen Partner eine Firma zur Errichtung von Solar- und Windkraftanlagen gegründet. Seitdem haben wir mehrere große Anlagen im ganzen Land errichtet. Doch dann beschloss ich, dass ich genug Geld verdient hatte, um in meine alte Heimat zurückzukehren. Deshalb verkaufte ich vor acht Monaten meinen Firmenanteil an meinen Geschäftspartner und kaufte mir stattdessen ein kleines Häuschen hier in der Stadt.«