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»Die Gesundheit des Königs!« rief jetzt eine kleine, blauäugige Dame in prachtvoller Toilette.

Sie ergriff das Glas, setzte es an den Mund und leerte es auf einen Zug.

»Süßer Engel!« hauchte der König, indem er den Arm um ihre Taille legte. »Dafür sollst du einen Kuß haben.«

Die Dame sträubte sich.

»Herr Gott, wie spröde!« lachte Jérôme. »Was fällt dir ein, Lili? Wir sind ja hier unter uns! Nicht wahr, Fürstenberg, unsere kleine Heberti braucht Euretwegen ihren Gefühlen keinen Zwang anzuthun?«

Die Gesellschaft kicherte.

»Unsere liebenswürdige Freundin,« versetzte der Angeredete, »wäre im höchsten Grade thöricht, wenn sie sich aus irgend welcher äußern Rücksicht den schmeichelhaften Gunstbezeugungen Eurer Majestät widersetzen wollte.«

»Wir sind ja, Gott sei Dank, keine deutschen Philister,« fügte der Graf Winzingerode hinzu.

»Da hörst du's, Lili. Fürstenberg, zeigen Sie der Kleinen, wie die Sache gemacht wird. Küssen Sie Ihre Melanie!«

Der Cavalier, der trotz des ihm aufgenöthigten deutschen Namens ein echter Pariser geblieben war, schlang den Arm ohne weiteres um den blendenden Nacken seiner Nachbarin, und küßte ihr die rothen Lippen, daß es laut durchs Gemach schallte.

»Ah, das ist Unrecht, lieber Fürstenberg,« rief Pigault-Lebrun mit komischem Stirnrunzeln. »Sie machen unser Einem, der nicht so glücklich ist, wie Sie, das Herz schwer.«

»Es thut jeder, was er kann; nicht wahr, Melanie?«

»Eh bien, Lili?« fragte der König.

»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich Sie zwei Tage lang auf schmale Kost setze,« lautete die schnippische Antwort.

»Wie? was?« erklang es im Chor. »Ein Zwist, ein Streit? Ich hätte bald gesagt, eine eheliche Differenz?«

»Unser Täubchen ist eigensinnig,« rief Jérôme, ein Glas Schaumwein hinunterstürzend.

»Nein, nein, nur standhaft!« entgegnete Fräulein Heberti.

»Erzählen Sie! Was ist vorgefallen?«

»Sehr einfach,« sagte die kleine Dame. »Ich habe Seine Majestät um eine Gefälligkeit ersucht und bin abschlägig beschieden worden.«

»Ah, unerhört, Sire,« lachte Winzingerode. »Wie können Sie einem solchen Engel was abschlagen?«

»Ein König, meine Herren,« erwiderte Jérôme, »ist nicht in allen Dingen souverain! Es giebt gewisse Rücksichten …«

»Aber um was handelt es sich denn? Wir wissen ja noch gar nicht …«

»Eine Bagatelle,« schmollte Lili. »Ich bat den König um die Entlassung des Grafen von Paderborn …«

»Ah, der Aumônier,« sagte Fürstenberg; »eine unangenehme Persönlichkeit.«

»Ein Spion,« ergänzte Fräulein Heberti.

»Wo denkst du hin, Lili!« stotterte Jérôme.

»Ein Spion, sage ich. Unser Aller Interesse erfordert, daß Sie ihm schleunigst den Laufpaß geben.«

»Das ist unmöglich.«

»Unmöglich? Sind Sie nicht König …?«

»Das sagst du wohl … – aber …«

»Was ›aber‹! Es giebt kein aber!«

»Aber bedenke doch … Du weißt … Seine Majestät der Kaiser …!«

»Der Kaiser! Was hat Ihnen der Kaiser zu sagen?«

»Er hat … er ist … bedenke nur …«

»Ah, Sire!« rief das Mädchen mit einem Ausdruck des Stolzes, der ihre Züge wunderbar hob, »Sie scheinen nicht zu wissen, daß wir Frauen von dem Geliebten in erster Linie Entschlossenheit, Energie, Unabhängigkeit, Muth fordern, wenn unsere Neigung nicht wanken soll …«

Die Gäste blickten einander an, als wollten sie sich fragen, ob diese Rede der kleinen Ex-Tänzerin Scherz oder Ernst sei?

Es trat eine peinliche Pause ein. Der König war sichtlich unangenehm berührt. Niemand wollte das Schweigen brechen. Man fürchtete, den mißlichen Eindruck, den Lili's Strafpredigt hervorgebracht hatte, durch eine ungeschickte Bemerkung noch zu verschlimmern. –

»Fräulein Heberti,« sagte endlich Jérôme, nicht ohne Bitterkeit, »ich hoffe Ihnen baldigst, vielleicht schon morgen, den Beweis zu liefern, daß Ihre Vorwürfe die Adresse verfehlt haben. Wenn ich in einzelnen wichtigen Angelegenheiten auf meinen kaiserlichen Bruder Rücksicht nehme, so geschieht dies aus freien Stücken. Daß ich im rechten Augenblick unabhängig, energisch, entschlossen zu sein verstehe, sollten Sie überhaupt niemals bezweifelt haben. Da Sie indeß solchen höchst seltsamen Zweifeln Raum geben, so gereicht es mir in der That zur Genugtuung, daß ich, wie gesagt, binnen wenigen Tagen in der Lage sein werde, Sie eines Bessern zu belehren. Merken Sie sich das, Fräulein Heberti!«

Der König hatte diesen langen Discurs mit voller Würde, und so laut und deutlich vom Stapel gelassen, daß Lili fast erschreckt die Augen niederschlug. Sie mochte fühlen, daß sie zu weit gegangen.

Jérôme warf seinem Bibliothekar einen selbstbewußten, verständnisinnigen Blick zu.

Dem guten Pigault fiel die Epistel, auf welche der König anspielte, heiß auf die Seele. Jeden Tag konnte die Antwort eintreffen; der Bibliothekar verhehlte sich nicht, daß diese Aussicht einen höchst beklemmenden Einfluß auf seine Lebensgeister ausübte.

In diesem Augenblick ertönte im Vorzimmer ein lebhafter Wortwechsel.

Befremdet horchte man auf.

»Ich habe die gemessensten Befehle …« sagte einer der königlichen Hofjäger.

»Und ich habe noch gemessenere,« entgegnete eine kräftige Stimme. »Machen Sie keine Umstände! Im Namen Seiner Majestät des Kaisers der Franzosen, lassen Sie mich vor!«

Jérôme erbleichte. Pigault-Lebrun griff nach dem Glase, um seine Verwirrung zu verbergen.

»So erlauben Sie wenigstens, daß ich Seine westphälische Majestät zuvor benachrichtige,« stotterte der Kammerjäger. »Wen darf ich anmelden?«

»Den Gouverneur von Danzig!« lautete die Antwort.

Eine halbe Minute später öffnete sich die Thür des blauen Salons, und der Gouverneur, begleitet von einem Gardeofficier, betrat das Allerheiligste.

Alles war sprachlos.

Der Botschafter des Imperators verneigte sich voll ritterlicher Anmuth und wandte sich dann an den König.

»Sire,« sagte er, »ich habe mich eines höchst unangenehmen Auftrags zu entledigen.«

Jérôme ward fahl wie der Kalk an der Wand. Pigault-Lebrun saß da wie ein armer Sünder und nestelte an seinen Manschetten.

»Ich habe diesen Auftrag,« fuhr der Gouverneur fort, »von Ihrem erhabenen Bruder, dem Kaiser der Franzosen. Ich verließ Seine Majestät in einem Zustande der Erregtheit und des Zornes, den ich nicht zu schildern vermag …«

»Aber ich bitte, mein Herr,« rief Fürstenberg, indem er die Arme vor der Brust kreuzte, »dies ist weder die Zeit noch der Ort, solche Aufträge auszurichten.«

»Ich bedaure,« entgegnete der Angeredete kalt, »daß ich so unglücklich bin, Ihre geselligen Freuden zu unterbrechen, allein ich handle nach dem ausdrücklichen Befehl meines hohen Gebieters.«

Der König war so vollständig außer Fassung gerathen, daß er vergaß dem Gouverneur einen Stuhl, geschweige denn ein Glas Wein anzubieten. Statt dessen hatte er selbst den Becher ergriffen und einen kräftigen Schluck der Verzweiflung gewagt.

Winzingerode schleuderte dem fremden Eindringling finstere Blicke zu.

Die kleine Heberti betrachtete bald den Gouverneur, bald ihren königlichen Gönner. Ein spöttisches Lächeln zuckte um ihre rosigen Lippen.

»Sire,« fuhr der Gesandte fort, »ich hoffe, Sie werden den Botschafter nicht die Unannehmlichkeiten der Botschaft entgelten lassen … und mir verzeihen, wenn ich Ihnen hier, laut den gestrengen Instructionen, die ich empfangen habe, folgenden eigenhändig geschriebenen Cabinetsbefehl des Kaisers vorlese …«

»O, durchaus nicht,« stammelte Jérôme in höchster Seelenangst; »das heißt … Sie wissen … Könnten wir nicht dort in das Zimmer treten?«

»Ich bedaure, Sire … Die Anordnungen Seiner Majestät sind sehr formell. Sie müssen schon gestatten, daß diese Herrschaften unfreiwillige Zeugen einer Scene sind, die mir ebenso fatal ist, als Ihnen selbst, Sire.«

Der König senkte das Haupt, wie Einer, der entschlossen ist, alles ohne Widerstand über sich ergehen zu lassen.

»Aber das ist unerhört,« sagte Fürstenberg.

Der Gouverneur zuckte die Achseln. »Ich wiederhole Ihnen, es ist nicht meine Schuld,« entgegnete er. »Das Decret lautet wie folgt:

»›Cabinetsbefehl des Kaisers. Unser Aide-de-Camp, der General Rapp, Gouverneur von Danzig, wird sofort nach Cassel abreisen und daselbst den Obersten Müller, Kommandanten der königlichen Garden, zu sich citiren. Er wird mit besagtem Müller unverzüglich zum König gehen und Seine Majestät diesem Officier zur Bewachung übergeben. Der König wird achtundvierzig Stunden im Arrest bleiben. Pigault-Lebrun, der Verfasser des flegelhaften Briefes, den unser Bruder uns geschrieben hat, wird zwei Monate lang ins Gefängnis gesteckt und dann unter sicherer Bedeckung nach Frankreich transportirt werden. Wir ertheilen unserm Aide-de-Camp Generalvollmacht, die westphälischen Truppen in Anspruch zu nehmen, falls man sich in wahnwitziger Verblendung der Ausführung unserer Befehle widersetzen sollte. Gezeichnet: Napoleon.‹«

Jérôme sank vernichtet in seinen Fauteuil zurück. Pigault-Lebrun runzelte die Brauen und ballte die Fäuste. Fürstenberg und Winzingerode sperrten Mund und Nase auf. Melanie weinte. Die kleine Heberti warf einen Blick der grenzenlosesten Verachtung auf ihren Liebhaber und erhob sich stolz aus dem Sessel.

»So haben wir hier weiter nichts zu suchen!« sagte sie kalt. »Herr Commandant, thun Sie Ihre Pflicht.«

Der Aide-de-Camp des Kaisers verabschiedete sich, und Jérôme schwankte in Begleitung des Obersten Müller nach seinen Gemächern, um sie erst nach abgebüßter Strafe wieder zu verlassen. Die Ermächtigung, die der Kaiser dem General Rapp ertheilt hatte, im Nothfalle Truppen zu requiriren, war eine überflüssige Maßregel. Der gute Jérôme parirte wie ein wohlerzogenes Kind; seine friedliche Seele war himmelweit entfernt von jener ›wahnwitzigen Verblendung‹, die das allerhöchste Decret vorsehen zu müssen glaubte. Ah, hätten die ehrfurchtsvollen Unterthanen des Königs von dem unerhörten Schauspiele, dessen Theater der königliche Palast, dessen leidender Held ihr vielgeliebter Jérôme war, eine dämmernde Ahnung gehabt! Es ist doch gut, daß der Pöbel nicht in alle Geheimnisse der Diplomatie eingeweiht wird!

 

Pigault-Lebrun wurde in den Kerker geworfen. Eine nachträgliche Ordre des Kaisers verbot dem gesammten Hofpersonal, den Gefangenen zu besuchen. Der König schrieb seinem gestrengen Bruder einen demüthigen Brief, in welchem er hundertmal um Verzeihung bat und um die Freilassung seines Vertrauten flehte. Umsonst. Der Kaiser ließ ihm antworten, Pigault werde seine zwei Monate absitzen und alsdann unverzüglich das Land verlassen. Nach langem Betteln gestattete er dem König, den Bibliothekar bei sich zu behalten, falls derselbe gesonnen sei, einen weitern Monat hindurch im Gefängnis zu schmachten. Pigault war mit Freuden bereit. Das Leben am westphälischen Hofe bedünkte ihm jedes Opfers werth.

Am 22. November 1810 war seine Marterzeit vorüber. Blaß und abgemagert trat er vor seinen Gebieter und lächelte ein schmerzliches Lächeln.

»Nicht wahr, Sire,« sagte er, »künftighin besinnen wir uns zweimal, ehe wir einen Brief zur Post geben?«

Jérôme seufzte.

»Du hast schwer gebüßt, mein Freund,« flüsterte er niedergeschlagen; »aber auch mich traf ein trübes Verhängnis …«

»Ah, Sire, die achtundvierzig Stunden …?«

Der König schritt nach seinem Pulte und nahm ein rosenrothes Billet heraus.

»Da, lies!« sagte er. »Das schrieb mir die liebste, die reizendste, die treueste meiner Freundinnen am Tage nach deiner Verhaftung.«

Pigault las. Das Billet lautete:

»Sire,

Ich verlasse Sie und Ihr Land für immer. Ich habe mich aufs Kläglichste in Ihnen getäuscht. Wenn ich die Pflichten, die uns die Selbstachtung und die Rücksicht auf das öffentliche Urtheil auferlegt, mit Füßen trat; wenn ich bei einem Ihrer Höflinge Sclavendienste that: so geschah dies nur, weil ich Sie liebte – so wahr und glühend wie nur ein Weib zu lieben vermag! Dies Bekenntnis wird mich in Ihren Augen, wenn nicht rechtfertigen, so doch entschuldigen. Aber ich kannte Sie nicht. Ich hielt Sie für edel, für stolz, für ritterlich. Ich habe mich vom Gegentheil überzeugt. Ich verachte Sie.

Elise Heberti.«

Pigault-Lebrun versetzte kein Wort. Gesenkten Blickes gab er dem König das Schreiben zurück.

Jérôme schloß es wieder ein und sagte dann tonlos zu seinem Bibliothekar:

»Es läßt sich halt nicht gegen den Strom schwimmen! Dein Sprüchwort: ›Wurst wider Wurst‹ mag für unsere hessischen Bauern passen, aber nicht für die Familie Bonaparte.«

Sprach's, ging hin, und blieb ein gehorsamer Bruder.

Die Feuerspritze

Erstes Kapitel

Das Städtchen Clatou, einige Meilen von St. Quentin gelegen, erfreute sich unter dem milden Scepter seines Bürgermeister seit undenklichen Zeiten eines blühenden Wohlstandes und einer Höhe der geistigen Cultur, um die es von der Gemeinde Ulrichstein im hessischen Vogelsberge ohnstreitig glühend beneidet worden wäre, wenn sich der Ruf von seiner Existenz überhaupt bis über die Grenzen des Departements verbreitet hätte. Aber die Clatounesen waren von der Giltigkeit jener altgriechischen These, die den Ruhm für eitel Wind erklärt, so aufrichtig überzeugt, daß sie in keiner Weise nach irdischem Glanze haschten, sondern schlicht und recht in den Tag hinein lebten; wiewohl ihre Verhältnisse ihnen reichlich gestattet hätten, alle vier Wochen eine lobende Erwähnung im »Figaro« zu bezahlen. Still und zurückgezogen pflagen sie ihrer Privatangelegenheiten und kümmerten sich weder um die aufregenden Dispute des Pariser Corps Législatif, noch um die politischen Schachzüge Beust's und Bismarck's. Der Name Jules Favre's war kaum jemals über die Lippen eines Clatounesen gekommen, und von der Neugestaltung Deutschlands hatte nur Herr Clamard, der Maire, eine chaotisch dämmernde Vorstellung. Kurz, Clatou, das weise und gerechte Städtchen unweit von St. Quentin, trug keine Schuld an dem schändlichen Friedensbruch, den Frankreich so theuer bezahlen sollte …

Im Laufe der sechziger Jahre zweigte sich von Clatou eine kleine Colonie ab.

Die neue Gründung nannte sich Gressinet. Sie blieb zwar mit der Mutterstadt in regem Wechselverkehr, allein schon nach kurzer Frist entwickelten sich im Schooße der Tochter jene Emancipationsgelüste, die vor einem Jahrhundert auf der westlichen Erdhälfte die Losreißung Nordamerika's von England zur Folge hatten …

Ahmte indessen Gressinet das glorreiche Beispiel der Union nach, so befolgte Clatou – und insbesondere Herr Clamard, der Bürgermeister – die Haltung Großbritanniens und verweigerte den Rebellen jegliches Zugeständnis.

Vor allem bestritt der Maire ihnen das Recht, sich eine Gemeinde zu nennen.

»Ihr gehört zu unsrer Gemeinde,« hieß es in seinen amtlichen Manifesten, – »ihr seid mir zinspflichtig, und jede gegentheilige Bestrebung ist als ein Akt der Insurrection und des Hochverraths zu betrachten.«

Die Gressineter protestirten. Einer der ihrigen, Jules Pierrot, der ein Jahr lang als Handlungsdiener in Paris gewesen, verfaßte ein Gegenmanifest, in welchem das Selbstbestimmungsrecht der Nationen nachdrücklich betont und das Axiom ausgesprochen war, daß man im neunzehnten Jahrhundert nach anderen Grundsätzen regieren müsse, als im fünfzehnten.

Diese Phrase vom neunzehnten Jahrhundert mußte den Maire in der tiefsten Tiefe seines amtlichen Bewußtseins verletzt haben, denn er antwortete in einem neuen Erlaß, es komme hier durchaus nicht auf den Unterschied zwischen dem Mittelalter und der Neuzeit an, wie von gewisser Seite heuchlerischer Weise behauptet werde, sondern auf die Frage, ob die Verfassung gehalten oder gebrochen werden solle. Er, der Maire, werde dem Gesetze die gebührende Achtung verschaffen und jedermann, der es übertrete, ohne Ansehen der Person vor die Schranken der Tribunale citiren.

Die Gressineter schäumten vor Wuth. Ließ sich von jetzt ab ein Clatounese in Gressinet blicken, so wurde er von den beleidigten Patrioten dergestalt mißhandelt, daß er für die nächsten drei Wochen arbeitsunfähig war. Zur Revanche überfielen die Clatounesen eines schönen Tages den Haupträdelsführer der Gressineter, den Handlungsdiener Jules Pierrot, mit Steinwürfen. Pierrot rettete sich nur durch die schleunigste Flucht. Ganz außer Athem, von Schweiß triefend wie ein gehetzter Eber, mit Staub bedeckt und am Hinterhaupte nicht unbedeutend verletzt, langte er in Gressinet an, – eine lebendige Aufforderung zum Kreuzzug gegen die freveltrotzigen Clatounesen.

Sofort eilte er zu seinem Busenfreunde, dem Schulmeister …

Henri Jérôme Croquepeu, den die Gressineter – dem Maire von Clatou zum Trotz – aus eigenen Mitteln bezahlten, war nächst Pierrot der eifrigste und angesehenste Vertreter der Selbstständigkeitsidee.

Er empfing den Gesinnungsgenossen mit den Zeichen der höchsten Verwunderung.

»Ist's möglich, Jules? Sie haben es gewagt …? Aber das ist ja himmelschreiend, diabolisch, infernalisch, kymmerisch!«

»Croquepeu,« erwiderte Jules mit halberstickter Stimme, indem er sich das Taschentuch auf die Wunde legte, »Croquepeu, – sieh her! Dieses Blut heischt eine furchtbare Rache! – Sprich, Schulmeister, hast du je geliebt …?«

»Wie so?«

»Hast du nie anbetend vor einem Wesen gekniet, dessen Lächeln … dessen Blicke …«

»Ah, so! Jetzt erst begreife ich, was du sagen willst. Du meinst, ob niemals Eros mein Herz berührt …? Du mußt dich deutlicher ausdrücken.«

»Nun denn … antworte mir! Wenn deine Brust niemals in heiligen Flammen stand, so fehlt dir das Verständnis für den Schmerz, der mir siedend durch alle Adern geht … Sprich, Kindertyrann!«

»Ja, Jules! Ich war achtzehn Jahre alt, – da liebte ich Eugenien, die Tochter des Dorfschmieds … Ich darf wohl sagen: auch ich war ihr nicht gleichgiltig, – aber ach! Du weißt! Die Verhältnisse … Die Umstände … Sie hat einen anderen geheirathet …«

»Gut! So wirst du erfassen, welch ein wahnsinniger Zorn meine empfindsamen Nerven durchtobt. Höre mich an! Ich liebe …«

»Nicht möglich? Seit wann …?«

»Seit vier Wochen. Sie ist ein Engel …! Ach, Schulmeister, ich sage dir, wenn sie einen mit ihren großen, himmelblauen Augen so über die Achsel ansieht, – das Herz möchte einem zerspringen wie eine reife Kastanienschale! Aber leider, leider giebt es nichts Vollkommenes auf der Welt!«

»Schielt sie?«

»Du bist verrückt.«

»So findest du keine Gegenliebe?«

»Croquepeu, du wirst beleidigend …«

»Je nun, so erkläre dich näher … Überhaupt weiß ich nicht, was deine Liebe mit dem clatounesischen Attentat zu thun hat.«

»Schulmeister! Meine Geliebte vereinigt alle guten Eigenschaften des Leibs und der Seele … aber sie ist eine Clatouneserin!«

»Heiliger Antonius Paduensis! Das ist allerdings ein bedenklicher Übelstand! Und wer ist's, Pierrot? Wohl gar Louison, die Tochter des Notars? Herr Brassou ist ein glühender Feind unserer Autonomie; er haßt dich als den gefährlichsten Verfechter unserer municipalen Rechte: nie und nimmer wird er einwilligen, daß seine Louison …«

»So laß mich doch nur zum Worte kommen, geschwätziger Ruthenfürst! Louison ist mir so gleichgiltig wie dem Heiden der Sonntag. Meine Angebetete heißt Marion Leclerc.«

»Alle Götter der Ober- und Unterwelt! Die Mündel des Bürgermeisters? Pierrot, bist du bei Troste? Da wäre noch eher daran zu denken, daß der Notar dir seine Louison gäbe!«

»Vorläufig handelt es sich gar nicht um Geben oder Nichtgeben. Alles das wird sich später finden. Marion liebt mich. Im Nothfall entführe ich sie …«

»Himmel! Das wird einen saubern Skandal absetzen!«

»Mir gleich. Zunächst aber gilt es, meine Ehre wieder herzustellen. Denke dir, Croquepeu: die Geliebte meines Herzens war Zeuge des entsetzlichen Auftrittes! … Sie sah, wie ich fliehen mußte! O, ich hätte vor Wuth und Scham bersten mögen! – Aber die Steinwürfe ließen mir keine Wahl; sie würden mich zu Brei zermalmt haben. Begreifst du, Knaben-Despot, was es heißt, vor den Augen seiner Geliebten die Rolle eines Feiglings spielen zu müssen?«

»Ah, ich weiß es nur zu gut! Unter uns gesagt, Pierrot, – du erzählst es nicht weiter – ich bin überzeugt, Eugenie heirathete nur darum den Epicier, weil er mich einst vor ihren Blicken ohrfeigte, ohne daß ich meinerseits … Du verstehst! Es fehlt mir im allgemeinen nicht an Courage, aber Raoul war ein baumlanger Kerl, und so dachte ich, besser eine geringe Injurie einstecken, als sich einer tödtlichen Körperverletzung aussetzen. Aber, wie gesagt, das beklemmende Gefühl von damals ist mir noch sehr wohl erinnerlich … Haben sie dich auch geohrfeigt?«

»Das nicht. Allein ich mußte Fersengeld geben, wie ein Äpfeldieb, und das Hohngelächter der Clatouneserinnen verfolgte mich bis an die Grenze des Weichbildes. Man macht eine erbärmliche Figur, Croquepeu, wenn man so durch die Straßen sprengt und von den ungezogenen Gamins mit Pflaumen und Chausseesteinen geworfen wird! Ich bedarf einer glänzenden Genugthuung, sonst bin ich in den Augen Marion's für allezeit discreditirt. Willst du mir beistehen?«

»Was kann ich thun?«

»Berufe die angesehensten Bürger für heute Abend in die Scheune des alten Grimmont! Ich werde ihnen den Fall vortragen und ihre Unterstützung in Anspruch nehmen.«

»Gut. Auf sieben Uhr.«

»Und nun begleite mich in die Weinstube; ich verdurste bald. Um halb zwei muß ich ins Geschäft; also laß uns die Frist benutzen! Du wirst deine Einladungen dringlicher vorbringen, wenn du erst ein paar Tropfen Rebenblut in den Adern spürst.«

Sie gingen zur Schenke und leerten einige Gläser auf das Wohl Gressinet's. Dann verfügte sich Jules Pierrot, der Handlungsdiener, in sein bescheidenes Magazin, während Croquepeu von Haus zu Haus wanderte und die Bürger zu einer wichtigen Berathung nach der Scheune entbot.