Die lange Reise zurück

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Die lange Reise zurück
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Edgar Platzer

Die lange

Reise zurück

Die Geschichte meines Schädel-Hirn-Traumas


Was ist der Körper,

wenn das Haupt ihm fehlt?

William Shakespeare

Im Andenken

an meine Mutter

(1944–2016)

Edgar Platzer wurde 1962 in Bretten geboren. Er besuchte die Dr. Johannes Faust Schule in Knittlingen. Der gelernte Industriekaufmann zog 1994 nach Australien wo er bis heute lebt.

Lindemanns Bibliothek, Band 249

herausgegeben von Thomas Lindemann

Fotos: S. 143: Heidi Platzer;

Titel: iStock by Getty Images, Benny Marty

© 2016 · Info Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck ohne Genehmigung

des Verlages nicht gestattet.

ISBN 978-3-88190-916-7

www.infoverlag.de

Vorwort

Dies ist die Geschichte meines zweiten Lebens. Sie beginnt mit einem Schädel-Hirn-Trauma, das ich mir bei einem Motorradunfall zugezogen habe. Es ist die Geschichte von Diagnosen und Prognosen und von meiner Genesung oder dem, was ich heute als solche empfinde. Ich bin gelernter Industriekaufmann, kein Schriftsteller. Die Zeilen, die ich verfasst habe, sind einfach geschrieben. Ich hatte vor, sie komplett überarbeiten zu lassen, habe dann aber doch davon abgesehen, um vor allem mir zu zeigen, dass ich zu solchen Aufzeichnungen nach diesem Trauma noch in der Lage bin.

Wenn diese Erinnerungen eine Hilfe für alle jene sind, die Ähnliches erlebt haben, wenn sie für deren Angehörige einen kleinen Einblick in die Situation von Betroffenen bieten und Hoffnung machen, dann habe ich mit den folgenden Seiten erreicht, was ich damit erreichen wollte.

Ich danke allen, die mir während dieser schweren Zeit geholfen haben, die mich immer wieder aufgefordert haben, zumindest manches über „den langen Weg zurück“ niederzuschreiben, und natürlich denen, die es schließlich zwischen zwei Buchdeckel gepackt haben.

Der größte Dank geht an Heidi, meine Frau. Ohne sie wäre dieses Buch nicht zustandegekommen und ich nicht so weit, wie ich gekommen bin: zurück ins Leben.

Als Schädel-Hirn-Trauma (SHT; trauma = altgriechisch für Wunde) bezeichnet man jede Verletzung des Schädels mit Hirnbeteiligung, aber keine reinen Schädelfrakturen oder Kopfplatzwunden. Wegen der Gefahr von Hirnblutungen oder anderer Komplikationen wird bei allen Patienten mit SHT (auch bei bloßen Gehirnerschütterungen) die Beobachtung im Krankenhaus empfohlen. Menschen erleiden Kopfverletzungen bei Unfällen, häufig Arbeitsunfällen, Haushalts- und Sport- sowie Verkehrsunfällen. Schutzhelme können das Verletzungsrisiko mindern.

Man unterteilt das Schädel-Hirn-Trauma nach der Glasgow-Koma-Skala (GCS) u.a. in leichtes, mittelschweres und schweres SHT. Dieses in der Notfallmedizin und beim Rettungsdienst verbreitete Bewertungsschema zur Beschreibung der Bewusstseinslage wurde 1974 von Neurochirurgen an der Universität Glasgow entwickelt. Es gibt drei Rubriken, für die jeweils Punkte vergeben werden: Augenöffnung, verbale Kommunikation und motorische Reaktion. Für jede dieser Rubriken werden Punkte vergeben und diese anschließend addiert. Die maximale Punktzahl ist 15 (bei vollem Bewusstsein), die minimale 3 Punkte (bei tiefem Koma). Bei 8 oder weniger Punkten ist von einer schweren Funktionsstörung des Gehirns auszugehen. Ich wurde eingestuft bei 5.

Prolog

Ich bin im Kraichgau aufgewachsen, in der kleinen Stadt Knittlingen. Dort habe ich bis zu meinem 32. Lebensjahr auch immer gewohnt. Seit ich 16 wurde, war das Motorradfahren meine große Leidenschaft. Aus Tagesausflügen wurden bald Urlaubsreisen durch ganz Europa, die Türkei und Marokko. Wann immer es ging saß ich auf meinem Motorrad. Fernreisen waren eine andere Leidenschaft, der ich nachging, so oft es möglich war. Während dieser Jahre auf dem Land und in der Welt habe ich viele Freundschaften geschlossen. Bis heute bin ich mit all diesen Freunden Kontakt, worauf ich sehr stolz bin.

1993 habe ich meine Frau Heidi kennengelernt. Sie ist Australierin und nach einer Reise um die Welt blieb sie für einige Jahre in Freudenstein, einem Nachbarort, hängen und betrieb dort zusammen mit ihrer Freundin Gabi das Gasthaus „Zum Rößle“. Dort haben wir uns kennengelernt.

Da ich ein wenig schwer von Begriff war, hat es allerdings einige Zeit gedauert, bis wir ein Paar wurden. Bereits an unserem ersten Abend teilte Heidi mir mit, dass sie wieder zurück in ihre Heimat will. Spontan sicherte ich ihr zu, dass ich mitkommen würde. Als mein damaliger Chef, Senator Henry Ehrenberg, Inhaber der Firma Neumo in Knittlingen, mich nach dem Grund meiner Kündigung fragte und ich ihm diesen mitteilte, bot er mir völlig überraschend an, in Australien für ihn zu arbeiten.

Meine Tätigkeit im Verkauf hatte mir immer großen Spaß gemacht, und natürlich sagte ich zu.

Am 23. Dezember 1994 ging es los, und am zweiten Weihnachtsfeiertag kamen wir in Australien an. Wir trafen Heidis Eltern und einige ihrer Freunde, unter anderem die Zwillinge Vicky und Michelle, die sie seit ihrer Studienzeit kannte.

Nach einer herzlichen Begrüßung fuhren wir mit Heidis Eltern zu ihrer Schwester nach Bendigo. Dort erwartete uns bereits ein verspätetes Weihnachtsbüffet bei ihrer Schwester Stephanie und ihrem Mann Tom sowie den Kindern Megan und Mitchell.

Bereits nach wenigen Tagen, vielleicht sogar Stunden, war ich Teil der Familie. Die ersten sechs Monate lang wohnten wir in einer Mietwohnung in einem nördlichen Vorort von Melbourne, ganz in der Nähe von Heidis Freunden – die für mich in diesem fremden Land zu dieser Zeit die einzigen Menschen waren, die ich kannte. Auch hier wurde ich herzlich aufgenommen. Bereits nach sechs Monaten wurde es mir in dieser großen Stadt jedoch zu eng.

Wir kauften uns ein Haus in Broadford, 100 Kilometer nördlich von Melbourne. Schnell lebten wir uns ein, Heidi und ihre Mutter dekorierten innerhalb kürzester Zeit unser Heim nach unserem Geschmack. Von Anfang an hatten wir viele Besucher, Heidis Familie, Freunde, bald auch Freunde von Freunden. Über die nächsten Sommer war unser Haus mehr Jugendherberge als Privatdomizil. Neue Bekanntschaften auch unter den Gästen wurden geschlossen.

Auch meine Eltern waren, zusammen mir meiner Patentante und ihrem Mann, einmal zu Gast. Bereits im ersten Sommer besuchte uns auch Gabi, die inzwischen mit Uwe Krauss aus Freudenstein verheiratet war.

Motorradfahren war immer noch meine Leidenschaft. Eines hatten Freunde von mir eingepackt und nach Australien geschickt. Auch Heidi wurde angesteckt, machte den Führerschein und kaufte sich schließlich eine Honda XR 250 fürs Gelände und bald darauf eine VFR 400 für die Straße. Dann lernten wir Geoff und seine Frau Debbie kennen, den Motorradhändler in Broadford, und über ihn Richard und Barbara. Die beiden waren nicht nur auf der Straße mit dem Motorrad unterwegs, sondern fuhren auch viel mit ihren Enduros durch den Wald.

Auch große Touren über mehrere Nächte unternahmen wir, teilweise mit Rucksäcken und Zelt. Auch Heidi war schnell begeistert, so konnte man viel mehr von der Natur sehen und sonst nur schwer zugängliche Stellen in den Bergen und Wäldern aufsuchen. Bald war die Garage voll: Straßenmotorräder, Geländemaschinen – und dazu eine kleine Werkstatt. Immer wieder fuhren wir ins Herz der Australischen Alpen, ins etwa 330 Kilometer nordöstlich von Melbourne gelegene Bright. Oft träumten wir davon, hier zu leben, sagten uns immer wieder den alten Satz vor: „Hier ziehen wir mal her, wenn wir in Rente gehen“. 2001 waren wir zu meinem 39. Geburtstag wieder einmal in Bright. Eine Ausfahrt mit den Straßenmotorrädern. Als ich morgens aufwachte, sagte ich zu Heidi: „Warum warten bis zur Rente? Warum nicht jetzt?“ Innerhalb der nächsten sechs Monate brachen wir unsere Zelte in Broadford ab und zogen nach Myrtleford. Dort beginnt diese Geschichte.

Havilah, 2003

Seit zwei Jahren wohnten Heidi und ich in Havilah im Nordosten des Bundesstaates Victoria. Hier haben wir uns 20 Kilometer vom nächsten größeren Ort, in Myrtleford, ein kleines Haus gekauft.

Nachdem wir nach Australien ausgewandert waren, wohnten wir zunächst sechs Jahre in der Nähe von Melbourne, wollten dann aber raus aus dem direkten Einzugsgebiet der Großstadt. Einige Wochen hat uns ein Makler vergeblich jede Menge Häuser gezeigt, keines davon war das richtige. Er hatte nichts mehr anzubieten außer einem, ziemlich außerhalb.

Am späten Nachmittag finden wir es. Seit einem Jahr unbewohnt und in desolatem Zustand. Das Grundstück ist mit Brombeeren überwuchert. Als wir in der einbrechenden Dämmerung auf der Terrasse stehen und den angrenzenden Bach rauschen hören, wissen wir: Hier werden wir leben. Auf der dreistündigen Rückfahrt sprechen wir darüber, wie unser neues Zuhause mit seinem wunderschönen Garten einmal aussehen wird.

Schon wenig später haben wir uns in Myrtleford ein kleines Motorrad- und Landmaschinen-Geschäft mit Werkstatt aufgebaut, das langsam in die Gänge kam und das unseren vollen Einsatz forderte. Haus und Garten mussten oft zurückstehen. Nur an den Wochenenden blieb Zeit für Renovierung und Botanik. Heidis Eltern kamen oft vom über 300 Kilometer entfernten Bendigo und haben viel geholfen. Freunde von uns, Richard und Barbara samt ihren Söhnen Niklas und Daniel, gesellten sich an vielen Wochenenden dazu, um beim Entfernen der hartnäckigen Brombeerhecken zu helfen.

 

Neun Monate nachdem wir das Geschäft eröffnet hatten, brannte das Nachbargebäude der Doppelhaushälfte aus. Das Feuer bahnte sich über den Dachstuhl den Weg zu uns, wodurch Laden und Inventar beschädigt wurden, Waren und Motorräder im Wert von rund 30000 Dollar. Es ergab sich die Gelegenheit, dass wir den bisher gemieteten Laden mit Werkstatt und Lager in diesem Zustand günstig erwerben konnten. Wir renovierten das Geschäft und planten, nach nebenan zu expandieren. Nach nur weniger als einem Jahr Selbstständigkeit war dies ein ziemlich großes finanzielles Risiko. Aber Miete habe ich noch nie gerne bezahlt. Wir kauften die beiden Gewerbebauten.

Ende des Jahres erkrankte Heidis Mutter. Weihnachten im Krankenhaus sind nicht wirklich besinnliche Tage. Im Januar sollte sie 70 Jahre alt werden. Wir planten ein großes Fest, da wir alle wussten, dass dies ihr letzter Geburtstag sein würde.

Schon Tage davor reisten Verwandte und Bekannte bei ihr in Bendigo an. Uns war das leider nicht möglich, da unsere Gegend gerade einmal mehr von einem Waldbrand heimgesucht wurde. Heidi blieb von der Arbeit zu Hause, um glühende Blätter und kleine Äste, die laufend auf unserem Grundstück landeten, sofort zu löschen.

Donnerstagabends fuhr sie dann alleine nach Bendigo, um Zeit mit ihren Eltern und den Verwandten zu verbringen.

Tags darauf sah ich das orangene Glühen des Feuers über den Hügeln vor unserem Haus. Unser Nachbar John Treloar stand mit seinem Sohn in seinem Garten und betrachtete die bedrohliche Szenerie voller Sorge. Wir beschlossen, mit dem Geländewagen auf die Kammlinie zu fahren, um mehr sehen zu können. Der Mount Buffalo auf der anderen Seite des Tals stand bereits in hellen Flammen. Das Feuer, angefacht von starken Winden, raste mit großer Geschwindigkeit das Tal hinauf. Entsetzt betrachteten wir das zerstörerische Schauspiel der Natur. Ich erzählte John, dass Heidi in Bendigo sei. Er sagte mir, dass er übers Wochenende zu Hause sei und ein Auge auf unser Haus haben könne.

Also fuhr ich Samstagnachmittag ebenfalls nach Bendigo, um Geburtstag zu feiern. Sonntags, am frühen Abend, machten wir uns auf den Weg nach Hause. Wir wussten nicht wirklich, was uns dort erwarten würde, aber kurz nach meiner Abreise hatte sich der Wind sowohl gelegt als auch gedreht.

Die Monate danach fuhren wir, so oft es ging, nach Bendigo. Mitte Mai hatten wir Gewissheit, dass Mutter nicht mehr lang zu leben hatte. Heidi fuhr sonntags wieder hinauf, um sie zu besuchen. Mitte der Woche rief sie an und teilte mir mit, dass sie nicht gleich wieder nach Hause kommen könne. Donnerstagabend wieder ein Anruf. Freitagmorgen klärte ich auf dem Weg noch ein paar Dinge in der Firma und machte mich ebenfalls auf den Weg nach Bendigo.

Ich war der Letzte der Familie, der eintraf. Alle saßen auf der Terrasse. Heidis Schwester mit Mann und Kindern, Heidis Cousin Fred mit seiner Frau Alison, die schon seit Wochen da war und Heidis Mutter gepflegt hat. Cousine Heidi mit Klaus aus Sydney. Nach einer kurzen Begrüßung ging ich zu Heidis Mutter ins Zimmer. Obwohl ich gewarnt wurde, erschrak ich über ihren geschwächten Zustand. Ich setzte mich zu ihr und nahm ihre Hand in meine. Ich saß da und redete mit ihr, obwohl sie zu schlafen schien. Sie schlug die Augen auf und ich bemerkte, dass sie wusste, dass ich da war. Ich konnte ganz leicht fühlen, wie sie meine Hand drückte, und versuchte zu sprechen. Ich glaube, sie fragte nach ihrem Mann George. Ich drückte sanft ihre Hand und ging zurück auf die Terrasse. Ohne dass ich etwas sagte, erhob sich George und ging ins Haus.

Wenige Minuten später kehrte er zurück. Ursula war gestorben. Wir saßen an diesem Abend noch lange zusammen und redeten über die schöne gemeinsame Zeit, die wir mit ihr verlebt hatten.

Montag machte ich mich auf den Heimweg. Mittwoch zurück zur Trauerfeier. Alle waren noch da. Und einige mehr. Im Anschluss gingen wir zu Heidis Schwester nach Hause. Viele Leute kamen vorbei. Es wurde ein sehr langer Abend.

Wir besuchten George oft in den kommenden Wochen und Monaten, Stefanie und Tom versorgten ihn jedoch gut. Wir hatten Bedenken, dass er in ein Loch fallen würde, aber unsere Sorgen waren nahezu unbegründet. Nach wenigen Wochen verbrachte er mit uns sogar ein Wochenende in Philipp Island und betätigte sich dort als Boxenhelfer an einem Renntag.

Jetzt ist es Anfang Oktober. Wir sitzen am Bach am unteren Ende unseres Grundstücks. Wir haben ein kleines Lagerfeuer gemacht. Mit einem Glas Wein in der Hand schauen wir

ins Feuer. Wir sprechen über unseren Hund, den wir vor einer Woche einschläfern lassen mussten, dann über die Arbeit für nächste Woche. Wir machen Pläne für den Rest des Jahres.

Es ist Frühling in Australien. Das Geschäft läuft langsam wieder rund. Inzwischen haben wir sogar mehr Freizeit. Viel davon verbringen wir in unserem Garten. Aber auch für unser großes Hobby, Motorradfahren auf der Straße und im Gelände, finden wir wieder mehr Zeit. Für Mittwoch habe ich mir vorgenommen, mit zwei Freunden ins nächste Tal zu fahren. Als sie mich abholen, kann ich meine Lederklamotten nicht finden. Kurzerhand ziehe ich die Lederkombi und den Helm an, die ich normalerweise nur auf der Rennstrecke trage. Eine kurze Rast, ein Kaffee und ein kleines Mittagessen. Auf dem Heimweg noch schnell ein Stopp auf einem der grandiosen Aussichtspunkte, Tawonga Gap. Auf den Bergen in der Ferne kann man noch den letzten Schnee sehen. Dann geht es zurück zur Arbeit.

Alfred Hospital

Viele fremde Menschen, viele fremde Geräusche. Grelle Lichter, ist es Tag oder Nacht? Wo bin ich? Alpträume jagen mich. Auf dem Rücken liegend sind alles, was ich wahrnehme, die grellen Lichter ringsum. Warum fahre ich immer wieder durch diesen Tunnel?

Alle wollen mit mir reden. Warum kommen und gehen so viele Leute? Wieder werde ich wach und sehe noch mehr Leute um mich herum. Ich meine, dass ich sie kenne, kann aber nichts und niemanden wirklich einordnen. Es ist eine Traumschleife. Wann hört das endlich auf? Der eine Traum ist vorbei, der nächste fängt an. Diesmal sehe ich viele Freunde und Verwandte, immer nur für Minuten! Immer wieder nicke ich ein.

Ich versuche, Fragen zu stellen, auf mich aufmerksam zu machen. Aber all die Fragen bleiben unbeantwortet. Ich habe Durst und frage nach etwas zu trinken. Alle benehmen sich, als ob ich gar nicht da wäre. Ich sehe Heidis Vater, George, ihren Schwager Thomas. Aber alle sind sie weit weg.

Dann piept die Faxmaschine. Endlich. Ich bin bei der Arbeit. Keiner kümmert sich darum. Ich werde unruhig. Wo bin ich? Ich versuche, mich zu drehen, aber es geht nicht. Heidi steht direkt neben dem Piepen. All die Leute und keinen kümmert es, dass die Maschine andauernd piept. Träume ich wieder? Mein Schwager unterhält sich angeregt mit fremden Leuten. Was macht er hier? Er wohnt doch über 300 Kilometer von uns entfernt. Black out.

Wieder sehe ich viele Leute, am anderen Ende des Raums. Das müssen meine Arbeiter sein. Sie unterhalten sich. Haben sie nichts zu tun? Ich will rüber zu ihnen und sie auffordern, zurück an die Arbeit zu gehen. Warum fällt mir das so schwer? Plötzlich unvorstellbare Schmerzen. Ich wusste noch nicht, dass mein „Mitbewohner“ nur Besuch hatte, dachte mir, die Leute da seien meine Arbeiter und die säßen da nur rum. Dass das Piepen des Faxapparates von jener Maschine stammt, die mir meine Schmerzmittel verabreichte, erschloss sich mir nicht. Ich verspüre unsagbaren Durst. Warum gibt mir keiner etwas zu trinken. Ich will fragen, will mich bemerkbar machen ... so viele Leute und keiner nimmt Notiz von mir.

Dann sehe ich Amanda. Ich weiß, sie liebt die Formel 1. Ich erinnere mich, dass Michael Schumacher gerade Weltmeister geworden ist. Sie und Heidi erzählen mir später, dass das erste Wort, das ich gekrächzt habe, „Schumacher“ war. Amanda hat darauf nur abgewinkt und gesagt: „Der wird schon wieder“.

Immer wieder sehe ich nur Lichter, unter denen ich durchrase. Und danach diese Schmerzen. Wann werde ich endlich aufwachen und Heidi liegt neben mir und der Traum ist zu Ende?

Dann wieder eine Wachstrecke, ich liege auf einer Matratze in einem weißen Raum auf dem Boden. Neben mir Heidi. Auf einmal fühle ich mich geborgen, will mich verständlich machen und schlafe erschöpft wieder ein. Als ich aufwache, bin ich wieder allein in dem weißen Raum.

Viel Licht, ganz alleine. Wo bin ich, wieder ein Alptraum?

Heidi kommt wieder, legt sich zu mir. Ich sage ihren Namen und schaue sie an. Mit brüchiger Stimme sagt sie mir, dass ich im „The Alfred“-Krankenhaus in Melbourne liege. Einen Motorradunfall hätte ich gehabt. Sie beginnt zu weinen und drückt mich vorsichtig.

Als ich das nächste Mal aufwache, weiß ich wieder nicht, wo ich bin. Neben mir sitzt eine Frau auf einem Stuhl. Sie kann mich hören. Ich frage nach Heidi, bestehe darauf, dass ich mit ihr telefonieren will. Sie sagt, es sei mitten in der Nacht.

Heidi kommt. Ich spreche sie an, sie lächelt, beugt sich zu mir, sitzt neben der Matratze auf den Boden und streichelt mein Haar.

Dann kommen wieder viele Leute, aber niemand, den ich kenne. Viele Fragen werden mir gestellt, deren Sinn ich nicht verstehe. Ob ich Schmerzen hier oder dort habe. Träume ich wieder? Warum stellen sie mir solche Fragen? Warum kann ich gar nichts fühlen? Warum nehme ich alles so verschwommen wahr?

Heidi ist wieder da. Einige Leute helfen ihr, mich auf einen Krankenstuhl zu legen. Der sieht aus wie eine Sonnenliege auf einem Gestell mit Rädern. Endlich liege ich nicht mehr auf dem Boden, bin auf Augenhöhe mit den Personen um mich herum. Ich fühle mich einiges klarer. Weiß, dass ich im Krankenhaus bin, aber wo?

Warum kann ich mich nicht bewegen? Träume ich wieder?

Heidi sagt mir, sie habe die Erlaubnis, mich in dem Stuhl herumzufahren. Immer wieder streichelt sie zärtlich mein Gesicht. Ich sage ihr, ich will nach draußen.

Sie schiebt mich durch Flure zu einem Aufzug. Als sich die Tür öffnet, habe ich einen herrlichen Blick auf zahllose Segelyachten. Endlich frische Luft: Ich fühle mich besser. Ich bemerke, dass ich nicht träume. Ich kann reden und Fragen stellen und Heidi hört mir zu und antwortet.

Immer wieder frage ich die gleichen Dinge, ich höre ihre Antworten, aber sie kommen irgendwie nicht in meinem Gehirn an. Auch sie stellt viele Fragen. Sie fragt mich, was ich sehe. Ich sage ihr, all die bunten Segel der Yachten ganz weit weg und im Dunst des Meeres.

Ich wundere mich, wie es gelang, in den Fahrstuhl des Krankenhauses einzusteigen und Sekunden später an einem Yachthafen anzukommen.

Sie sagt mir, wir seien auf der Dachterrasse des Krankenhauses und was ich sehe, seien die Hochhäuser der Stadt.

Endlich kann ich fragen, was los ist mit mir, warum ich mich nicht bewegen kann.

Ich sehe, dass mein rechtes Bein im Gips ist. Ich frage Heidi, was da los ist, und sie sagt mir, dass ich einige Knochen in meinem Fuß gebrochen habe.

„Warum?“, frage ich, und sie erklärt mir, ich sei vom Motorrad gefallen und unter ein entgegenkommendes Auto gerutscht. Vor 13 Tagen.

Wir genießen die Zeit auf der Terrasse. Heidi ist oft den Tränen nahe und ich versichere ihr, dass es nur ein Beinbruch ist und ich bestimmt ab nächster Woche wieder im Betrieb bin und Schreibtischarbeiten erledigen kann.

Dann bin ich furchtbar müde und frage Heidi, ob wir jetzt nach Hause gehen können. Sie schiebt mich zurück in mein Zimmer, man hilft ihr, mich aus meinem Stuhl zu heben und mich wieder auf den Boden zu legen.

Sie legt sich zu mir und erschöpft schlafe ich ein.

Heidi teilt mir mit, dass ich am nächsten Tag verlegt werde.

Ich denke: Alles ist gut. Der Traum ist beendet. Wenn ich aufwache, ist alles vorbei und ich fahre nach Hause. Ich weiß wieder nicht, wo ich bin, und Heidi sagt mir, ich werde in eine Rehaklinik verlegt.

Heidis Tagebuch

Das Folgende stammt aus Heidis Tagebuch. Ich habe es Wort für Wort übernommen. Eine Krankenschwester auf der Intensivstation hat ihr zugeredet, als sie an meinem Bett saß, ihre Gedanken festzuhalten. Sie hat dies alles für mich aufgeschrieben. Sechs Jahre nach dem Unfall hat sie es mir das erste Mal gezeigt. Es war mir damals nicht möglich, mehr als die ersten Seiten zu lesen. Heute lese ich ihre Aufzeichnungen zum ersten Mal ganz und schreibe ihre Worte hier nieder.

15. Oktober 2003

Edgar ist nun seit 24 Stunden im Alfred-Hospital auf der Intensivstation, sein Zustand ist kritisch, aber stabil. – Gestern hattest du einen Motorradunfall. Einen Frontalzusammenstoß mit einem Auto. Details sind noch nicht bekannt. Tom Harper (Heidis Schwager, der bei der Polizei arbeitet) bemüht sich gerade, etwas mehr herauszufinden.

 

Gleich nachdem ich von deinem Unfall erfahren habe, fuhr mich Robin nach Hause. Benommen habe ich eine Tasche mit Kleidung für dich gepackt. Ich habe meine Schwester Stephanie angerufen (sie arbeitet in der Notrufzentrale der Krankenwagen), um ihr mitzuteilen, was passiert ist. Zu dieser Zeit wusste ich noch überhaupt nichts über deinen Zustand. Niemand wusste irgendwas. Kurz darauf hat Stephanie zurückgerufen. Sie hatte einige wenige Information über ihre Arbeit herausgefunden. Du wurdest gegen 15 Uhr mit dem Rettungshubschrauber abgeholt. Vor dem Transport musstest du stabilisiert werden. Ich wurde von deinem Doktor, Timothy, informiert, dass du vor dem Flug reanimiert wurdest. Es musste einiges getan werden, damit du den Transport überleben würdest.

Stephanie sagte mir, welche Verletzungen du hast, und ich beruhigte mich ein wenig. Ich wusste zu dem Zeitpunkt nicht, was ich jetzt weiß, ansonsten wäre ich nicht in der Lage gewesen, selbst zu Richard und Barbara nach Broadford zu fahren, von wo aus ich im Krankenhaus anrief.

Das Krankenhaus teilte mir nur mit, dass du gerade in den OP geschoben wirst. Richard fuhr unser Auto von Broadford zu Vicky und Michelle, ich folgte mit Barbara in deren Auto. Von da fuhren wir alle zusammen zum The Alfred.

Wir trafen gegen 20.30 Uhr dort ein. Wir warteten kurz an der Rezeption und wurden dann zur Intensivstation begleitet, wo wir gegen 22 Uhr einen Bericht erhalten sollten.

Krankenschwester Rowena informierte uns über deine Sammlung an gebrochenen Knochen, aber über nicht viel mehr. Wir warteten alle zusammen. Öfter gingen wir raus, um uns im Zigarettenqualm zu beruhigen. Einmal blieben Richard und Barbara oben. Während dieser Zeit kam eine andere Krankenschwester und gab ihnen detailliertere Informationen. Sie sagte, dass es sehr ernst sei und dass du wahrscheinlich die Nacht nicht überlebst. Als ich zurückkam, zögerten sie. Ich müsse mich auf das Schlimmste gefasst machen. Ich begann zu begreifen, dass es keinen Grund zur Beruhigung gab.

Früher am Tag

Das erste Mal, dass ich fühlte, dass etwas nicht stimmte, war, als ich am Telefon mit einem Kunden sprach und ein Notarztwagen mit Sirene und Blaulicht an mir vorbeifuhr. Ich bekam ein komisches Gefühl im Bauch und mir wurde übel. Ich sagte zu dem Kunden: „Edgar hatte einen Unfall. Ich weiß es.“ Er erwiderte, dass es irgendjemand sein könnte. Dann kam eine Frau in den Laden, die etwas bestellt hatte. Während ich die Sachen holte, kam ein Rettungssanitäter herein. Ich wurde fast ohnmächtig, als ich ihn sah. Ich dachte, er wolle mir sagen, dass du in einen Unfall verwickelt warst. Aber er wollte nur ein paar Dinge in unserem Erste-Hilfe-Schrank auffüllen, die bei der letzten Prüfung fehlten. Aber ich wusste einfach, dass etwas Schlimmes passiert war. Von da an konnte ich nicht mehr richtig arbeiten. Nach einer Weile kam Robyn und ich fragte sie, ob sie mich ins Krankenhaus fahren würde, falls etwas mit Dir passiert sei.

Plötzlich fuhr Gerard vor den Laden vor. Ich ging hinaus. Er lief auf mich zu und schüttelte den Kopf. Er sagte mir, dass du einen Unfall hattest, er weiß nicht, wie es passiert sei, aber du seist mit einem Auto zusammengeprallt und es sähe nicht gut aus. Er wusste, dass du mit einem Rettungshubschrauber zum Alfred-Krankenhaus geflogen wurdest.

16. Oktober 2003

Michelle hat mich bis in die Innenstadt mitgenommen. Von dort bin ich mit der Straßenbahn zum Krankenhaus gefahren. Etwa um 10 Uhr war ich dort. Krankenschwester Amy informiert mich darüber, was in der Nacht los war. Keine große Veränderung, seit ich gestern Nacht das Hospital verlassen habe. Sie haben die Betäubungsmittel ein wenig zurückgenommen, damit dein Schlaf nicht mehr so tief ist, sie wollen aber nicht, dass du aufwachst, weil du am Samstag operiert werden sollst.

Immer wieder kommt ein Doktor oder eine Schwester und rufen deinen Namen, öffnen deine Augen. Nach drei oder vier Malen blinzelst du, wenn sie dich rufen. Aber nur für eine Sekunde. Ich weiß nicht, ob du etwas sehen kannst.

Ich gehe mir einen Kaffee holen. Als ich zurückkomme, lässt man mich nicht in dein Zimmer, da man dich auf die Seite drehen will. Man braucht drei Leute, um das zu tun, und es passt dir überhaupt nicht; du versuchst, dich zu wehren. Ich war gestern dabei, als das gemacht wurde. Dabei hast du deine Augen ganz weit aufgerissen, aber keinen Ton von dir gegeben.

Sie haben jetzt die Beatmungsmaschine heruntergeschaltet, sie unterstützt dein Atmen jetzt nur noch. Das meiste machst du selbst, aber immer wieder vergisst du wohl, Luft zu holen, und die Maschine setzt ihre Arbeit mit einem beunruhigenden Piepen fort. Du hast etwa zehn bis dreizehn Atemzüge pro Minute, aber manchmal geht es runter auf sieben. Ich sage dir, du sollst weiteratmen. Du tust es.

Während ich im Wartezimmer sitze, kann ich deine Verletzungen aufschreiben. Ich fang oben an: gebrochenes Schlüsselbein (gleiche Seite, an der du es schon mal gebrochen hattest), gebrochene Schulterblätter (beide), gebrochene Rippen, beide Seiten, auch die oberste, die eigentlich nur sehr schwer zu brechen ist. Die Lungen sind durchbohrt. Blutende Verletzungen dort am Herzen. Gebrochenes Becken, rechts mit einer offenen Wunde mit starkem Blutverlust. Gebrochene linke Hand (wie schon einmal), ebenfalls der kleine Finger. Rechter Fuß gebrochen mit Kompartmentsyndrom, starke Schwellungen, sodass die Durchblutung unterbrochen war. Der Fuß musste sofort an zwei Stellen aufgeschnitten werden, um den Druck zu entfernen. Gebrochene Zehen am rechten Fuß. Prellungen an Armen, Beinen und Hüfte.

Deine Hand und die Schultern wurden geröntgt, in Vorbereitung auf die Operation. Ich wurde hinausgeschickt, während man dich dafür vorbereitete. Sie haben alle Schläuche und Luftschläuche abgezogen und an einen fahrbaren Ständer angeschlossen. Zusammen mit dir in deinem Bett wird alles weggeschoben. Das alles dauert ziemlich lange und so gehe ich nach unten, um etwas zu essen zu kaufen. Judith kam auf einen Sprung. Sie hatte einen Termin in Melbourne. Kurz darauf auch Vicky.

Wir mussten draußen warten.

Ich hab’ mir langsam Sorgen gemacht, warum das alles so lange dauert. Ich fand dann heraus, dass man vergessen hatte, uns zu rufen und zu sagen, dass alles fertig ist. Warum denkt man immer gleich an das Schlimmste?

Heute hat ein Lieferant von uns einen großen Blumenstrauß vorbeigebracht. Vicky hat ihn mit nach Hause genommen, da du keine Blumen im Zimmer haben darfst. Später am Tag hat man dich gewaschen. Deine Krankenschwester heute ist Amy und sie bevorzugt es, dass ich den Raum verlasse, während sie dich wäscht. Ich ging mit Vicky runter in die Cafeteria, um einen Kaffee zu trinken. Kurz darauf kam Michelle.

Als wir zurückkamen, teilte Amy uns mit, dass es nun sicher ist, dass du keine Wirbelsäulenverletzung hast. Was für eine Erleichterung, das endlich zu wissen. Jetzt warten wir darauf zu erfahren, was mit dem Gehirn ist. Die Betäubung wurde abgeschaltet. Das wurde gemacht, teilte uns der Oberarzt mit, weil er denkt, dass du dazu bereit bist. Das Morphin wurde auf ein Milligramm reduziert. Amy hat gerade versucht, dich aufzuwecken. Sie reibt hart auf deinem Brustkorb und schreit dich an: „Edgar, öffne deine Augen!“

Und du öffnest sie.

Deine Reaktionen sind nicht gut. Sie schiebt einen Kugelschreiber unter deine Fingernägel. Du sollst eine Hand zurückziehen, was du aber nicht machst. Early days yet. Später am Abend scheinst du mehr wahrzunehmen, du stöhnst, aber du bewegst nur deinen linken Arm und dein linkes Bein.

Der Schlauch in deiner Kehle ist festgemacht, aber instinktiv versuchst du, ihn herauszuziehen. Wieder bewegst du deinen linken Arm.

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