Kala war die ganze Zeit über mit ihrem angenommenen Kinde auf dem mächtigen Baume geblieben, aber Kerschak rief sie mit den anderen herunter, und da seine Stimme keinen Zorn verriet, ließ sie sich leicht von einem Ast auf den anderen herunter und gesellte sich zu den anderen auf den Heimweg.
Wenn einzelne versuchten, Kalas merkwürdiges Kind zu besehen, so zeigte sie ihnen knurrend die Zähne und stieß sie warnend zurück.
Als sie aber versicherten, dass sie dem Kinde kein Leid antun wollten, erlaubte Kala ihnen, näherzukommen, aber niemand durfte es anrühren.
Kala schien zu wissen, dass ihr Säugling zart und gebrechlich sei, und sie fürchtete, dass die rauen Hände ihrer Kameraden das kleine Wesen verletzen könnten. Sie dachte an den Tod ihres eigenen Jungen, und um nicht auch ihr neues Kind zu verlieren, drückte sie dieses auf dem Marsche fest an sich, sodass der Weg für sie natürlich sehr beschwerlich war.
Die anderen Jungen ritten auf den Rücken ihrer Mütter, wobei sie die kleinen Arme fest um den haarigen Hals legten, während ihre Beine sich unter den Achselhöhlen der Mutter festhielten.
Der kleine Lord Greystoke war an der Brust seiner neuen Mutter besser geborgen, und seine Händchen spielten mit den langen schwarzen Haaren ihres Busens.
Kala pflegte ihren kleinen Findling zärtlich, wunderte sich indessen im Stillen, warum er nicht so kräftig und so gewandt wurde, wie die kleinen Affen der anderen Mütter. Es war nun beinahe ein Jahr, das der kleine Schelm in ihren Besitz gelangte, und doch konnte er kaum allein gehen, und was gar das Klettern betraf, — o du meine Güte! wie dumm war er dabei!
Manchmal unterhielt sich Kala mit den anderen Weibchen über ihr hoffnungsvolles Kind, aber sie konnten nicht verstehen, dass ein Kind so langsam für sich selbst sorgen lernte. Schon mehr als zwölf Monate waren vergangen, seit Kala das Junge mitgebracht hatte, und es konnte noch nicht einmal allein Futter suchen.
Hätten sie gar gewusst, dass das Kind schon dreizehn Monate alt war, als es in Kalas Besitz kam, so hätten sie den Fall als völlig hoffnungslos angesehen, denn die kleinen Affen ihres Stammes waren in zwei bis drei Monaten derart fortgeschritten, wie dieser Findling in fünfundzwanzig Monaten. Tublat, Kalas Ehemann, war sehr ärgerlich, und wenn das Weibchen nicht so wachsam und besorgt gewesen wäre, hätte er das Junge beiseite geschafft.
Er wird niemals ein großer Affe werden, sagte er. Immer wirst du ihn zu tragen und zu beschützen haben. Was kann er dem Stamme nützen? Nichts! Er wird nur eine Last sein! Wir wollen ihn in das hohe Gras legen und ihn dort ruhig einschlafen lassen. Dann kannst du Mutter anderer, stärkerer, junger Affen werden, die uns in unsern alten Tagen pflegen können.
Niemals, gebrochene Nase, antwortete Kala, ich behalte ihn, und wenn ich ihn mein ganzes Leben lang tragen müsste.
Und dann ging Tublat zu Kerschak und drängte ihn, seine Autorität bei Kala geltend zu machen, dass sie Tarzan aufgeben sollte; so nannten sie nämlich den kleinen Lord Greystoke: Tarzan, das heißt Weißhaut.
Als aber Kerschak mit Kala darüber sprach, drohte sie, vom Stamme wegzulaufen, wenn man sie mit dem Kinde nicht in Ruhe ließe. Da das Fortlaufen eines der unveräußerlichen Rechte des Dschungelvolks ist, sobald ein Mitglied mit den Angehörigen unzufrieden ist, so plagte man Kala weiter nicht mehr damit, denn sie war ein wohlgebautes, junges Weib und man mochte sie nicht verlieren.
Als Tarzan heranwuchs, machte er schnellere Fortschritte, sodass er mit zehn Jahren ein vorzüglicher Kletterer war, und auf der Erde konnte er so wundervolle Dinge ausführen, wie sie seine kleinen Brüder und Schwestern nicht fertig bekamen. In manchen Dingen unterschied er sich von ihnen, und sie staunten oft über seine überragende Geschicklichkeit, aber in Bezug auf Kräfte und Wachstum war er sehr zurückgeblieben, denn mit zehn Jahren waren die großen Menschenaffen voll erwachsen; manche von ihnen waren über sechs Fuß hoch, während der kleine Tarzan erst ein halberwachsener Knabe war.
Und doch — was für ein Junge war er!
Von frühester Jugend an hatte er seine Hände darin geübt, sich nach dem Beispiel seiner Riesenmutter von Ast zu Ast zu schwingen, und als er größer wurde, verbrachte er ganze Stunden damit, mit seinen Brüdern und Schwestern von einer Baumkrone zur anderen zu klettern.
Er konnte in der schwindelnden Höhe der Baumkronen zwanzig Fuß weit springen und mit unfehlbarer Genauigkeit einen vom Wirbelsturm bewegten Ast ergreifen.
Er konnte sich zwanzig Fuß tief in raschem Abstieg von Ast zu Ast herunterfallen lassen, und er konnte den höchsten Gipfel des stolzesten tropischen Riesen mit der Schnelligkeit eines Eichhörnchens erklettern. Obschon er erst zehn Jahre zählte, war er kräftig wie ein Durchschnittsmensch von dreißig Jahren und behänder als die meisten geübten Athleten es je werden. Und seine Kräfte wuchsen von Tag zu Tag.
Sein Leben unter diesen wilden Affen war glücklich, denn in seiner Erinnerung gab es kein anderes Leben; auch wusste er nicht, dass es im Weltall außer diesem Wald und den Dschungeltieren, mit denen er vertraut war, noch etwas anderes gab.
Er war schon fast zehn Jahre alt, als er anfing, zu erkennen, dass ein Unterschied zwischen ihm und seinen Kameraden bestand. Sein kleiner, von der Sonne gebräunter Körper verursachte ihm plötzlich ein tiefes Schamgefühl, denn er erkannte, dass er vollständig unbehaart war, wie eine Schnecke oder ein Reptil.
Er versuchte diesem Übelstand abzuhelfen, indem er sich von Kopf bis zu den Füßen mit Lehm bekleidete, aber dieser trocknete und fiel ab. Außerdem fühlte er sich so unbehaglich dabei, dass er sich lieber schämte, als die Unbequemlichkeit weiter auf sich zu nehmen.
In dem höher gelegenen Landstrich, in dem sich sein Stamm aufhielt, war ein kleiner See und in dessen klaren stillen Wasser sah Tarzan zuerst sein Spiegelbild.
An einem schwülen Tag der trockenen Jahreszeit ging er mit einem seiner Vettern an das Ufer, um zu trinken. Als sie sich hinüberbeugten, spiegelte die ruhige Fläche beider Gesichter wieder: die wilden, schrecklichen Gesichtszüge des Affen, neben denen des aristokratischen Sprösslings eines alten englischen Hauses.
Tarzan war entsetzt. Es war schon schlimm genug, unbehaart zu sein, aber wie konnte er nur eine solche Gesichtsbildung haben! Er wunderte sich, dass die anderen Affen ihn überhaupt noch ansahen.
Dieser kleine Schlitz von einem Mund und diese winzigen, kleinen Zähne! Wie kümmerlich sahen diese aus neben den mächtigen Lippen und den gewaltigen Fängen seiner glücklicheren Brüder! Und diese kleine, schmale Nase, so dünn, dass sie halb verkümmert aussah. Er errötete, als er sie mit den schönen, breiten Nüstern seines Gefährten verglich. Welche großartige Nase! Sie bedeckte ja das halbe Gesicht. Es muss doch gewiss schön sein, so stattlich auszusehen, dachte der arme kleine Tarzan.
Aber als er in seine eigenen Augen sah, da war er noch mehr entsetzt: ein brauner Fleck, ein grauer Kreis, und dann reines Weiß! Fürchterlich! Die Schlangen hatten nicht einmal so hässliche Augen wie er.
Er war so sehr in die Betrachtung seiner Gesichtszüge vertieft, dass er nicht hörte, wie das hohe Gras sich hinter ihm teilte und ein großer Körper sich verstohlen durch den Dschungel schlich. Auch sein Kamerad, der Affe, hörte nichts, denn er trank, und das Geräusch seiner saugenden Lippen und das Gurgeln übertönten die leisen Schritte des Eindringlings.
Keine dreißig Schritte hinter den beiden duckte sich Sabor, die Riesen-Löwin, indem sie den Schwanz hin und her warf. Vorsichtig bewegte sie ihre große Tatze vorwärts, und sie setzte sie geräuschlos nieder, ehe sie die andere hob. So schlich sie näher. Ihr Bauch berührte fast den Boden. Sie glich ganz einer großen Katze, die den Sprung auf ihre Beute vorbereitet.
Jetzt war sie bis auf etwa zehn Fuß an die zwei kleinen, ahnungslosen Spielkameraden herangekommen. Sorgfältig zog sie ihre Hinterfüße unter ihren Körper, während die starken Muskeln sich sichtlich unter dem herrlichen Fell bewegten.
Sie lag fast flach auf der Erde. Nur die obere Krümmung des glänzenden Rückens war sichtbar, als sie sich zum Sprunge anschickte.
Nun wedelte sie nicht mehr mit dem Schweife; ruhig und gerade lag er hinter ihr.
Einen Augenblick hielt sie inne, als ob sie in Stein verwandelt wäre, und dann sprang sie mit einem schrecklichen Schrei auf. Nun hätte man denken können, das wäre von ihr unklug gehandelt, denn ohne diesen Schrei hätte sie sicherer über ihre Opfer herfallen können. Aber Sabor, die Löwin, war eine kluge Jägerin. Sie kannte das unglaublich feine Gehör und die erstaunliche Schnelligkeit des jungen Dschungelvolkes, und sie wusste, dass sie den mächtigen Sprung nicht ohne Geräusch ausführen konnte. Der wilde Schrei aber sollte nicht eine Warnung sein, sondern die armen Opfer vor Schrecken lähmen, wenn auch nur für eine Sekunde, die ihr genügte, um ihre gewaltigen Krallen in das weiche Fleisch zu schlagen und sie am Entfliehen zu verhindern.
Was den Affen betraf, so war ihr Kunstgriff richtig. Der kleine Kerl duckte sich einen Augenblick zitternd, und dieser Augenblick wurde zu seinem Verderben.
Anders war es mit Tarzan, dem Menschenkind. Sein Leben inmitten der Gefahren des Dschungels hatte ihn gelehrt, unerwarteten Vorfällen mit Selbstvertrauen zu begegnen, und die Folge seiner höheren Geisteskräfte war ein schnelles Denken, das weit über den Fähigkeiten der Affen stand.
So regte der Schrei der Löwin das Hirn und die Muskeln des kleinen Tarzan zum augenblicklichen Handeln an.
Vor ihm lag das tiefe Wasser des Sees, hinter ihm der sichere Tod, ein grausamer Tod unter den Klauen und zwischen den Fängen der Löwin.
Tarzan hatte einen Abscheu vor dem Wasser, soweit es nicht dazu diente, seinen Durst zu stillen. Seine wilde Mutter hatte ihn auch gelehrt, das tiefe Wasser des Sees zu meiden, und hatte er nicht erst vor einigen Wochen die kleine Reeta unter der glatten Fläche versinken sehen, sodass sie nie wieder zu ihrem Stamm zurückkehrte?
Aber von zwei Übeln wählte Tarzan rasch entschlossen das kleinere, und noch ehe Sabors Schrei an das Ende des stillen Dschungels gedrungen war und noch bevor das Tier seinen Sprung halb ausgeführt hatte, war Tarzan in das kalte Wasser gesprungen, das über seinem Kopfe zusammenschlug. Er konnte nicht schwimmen, und das Wasser war sehr tief, aber er verlor auch nicht einen Augenblick das Selbstvertrauen und seine Findigkeit, die Kennzeichen eines höheren Wesens waren.
Bei dem Versuch, auf die Oberfläche zu gelangen, bewegte er schnell Hände und Beine, und wahrscheinlich mehr durch Zufall als durch Absicht ahmte er die Stöße eines schwimmenden Hundes nach, sodass er in ein paar Sekunden die Nase über Wasser hatte. So fand er, dass, wenn er sich weiter so bewegte, er weiter im Wasser fortkam.
Er war freudig überrascht über diese neue Fähigkeit, die er sich so schnell angeeignet hatte, wenn er auch keine Zeit hatte, weiter darüber nachzudenken.
Jetzt schwamm er am Ufer entlang, und dort sah er das wilde Tier, das ihm nachstellte, über den leblosen Körper seines kleinen Spielgenossen geduckt.
Die Löwin beobachtete Tarzan gespannt; sie erwartete offenbar, dass er ans Land zurückkehrte.
Der Knabe hütete sich aber wohl davor. Er erhob vielmehr seine Stimme zu dem Hilfe- und Warnruf, der bei den Affen üblich war.
Gleich darauf kam eine Antwort aus der Ferne, und in wenigen Minuten schwangen sich vierzig bis fünfzig große Affen schnell und majestätisch durch die Bäume, dem tragischen Schauplatz entgegen.
Allen voran war Kala, denn sie hatte die Stimme ihres lieben Kindes erkannt, und bei ihr war die Mutter des kleinen Affen, der jetzt tot unter der schrecklichen Sabor lag.
Obschon die Löwin mächtiger und besser zum Kampfe ausgerüstet war als die Affen, so hatte sie doch keine Lust, es mit einer ganzen Schar dieser wütenden großen Tiere aufzunehmen, und mit einem ärgerlichen Knurren sprang sie schnell in das Gebüsch und verschwand.
Tarzan schwamm jetzt ans Ufer und kletterte schnell aufs Land. Er fühlte sich so erfrischt und so behaglich zu Mute, dass er fortan keine Gelegenheit versäumte, täglich im See, im Fluss oder im Meer zu baden.
Lange konnte Kala sich nicht an diesen Anblick gewöhnen, denn obschon ihr Volk schwimmen konnte, wenn es dazu gezwungen war, so ging ein Affe doch nur ungern und nie freiwillig ins Wasser.
Das Erlebnis mit der Löwin hatte übrigens eine Abwechslung in Tarzans eintöniges Dasein gebracht, das nur in der stumpfsinnigen Wiederholung des Futtersuchens, Essens und Schlafens bestand.
Der Stamm, zu dem er gehörte, durchstreifte eine Strecke von annähernd fünfundzwanzig Meilen längs der Küste und etwa fünfzig Meilen ins Binnenland hinein. In dieser Gegend zogen die Affen fast ohne größere Unterbrechung hin und her; doch blieben sie gelegentlich auch monatelang an einem Ort. Sobald sie aber die schnelle Wanderung von Baumkrone zu Baumkrone aufnahmen, durchmaßen sie das ganze Gebiet in wenigen Tagen.
Viel hing von der Futterversorgung, der Witterung und der Bedrohung durch Raubtiere ab. Kerschak führte seinen Stamm oft auf weite Märsche, bloß weil es ihn langweilte, an ein und derselben Stelle auszuhalten.
Nachts schliefen die Affen auf der Erde, wo die Dunkelheit sie gerade überfiel. Manchmal bedeckten sie den Kopf, selten den übrigen Körper, mit den großen Blättern des Elefantenohrs. Wenn die Nächte kalt waren, lagen sie zu zweit oder dritt aneinandergeschmiegt, um sich gegenseitig zu wärmen, und so schlief Tarzan alle diese Jahre hindurch in Kalas Armen. Dass das riesige wilde Tier dieses Kind einer anderen Rasse liebte, ist nicht zu bezweifeln, und auch er liebte dieses große, haarige Tier, wie er seine junge Mutter geliebt hätte, wenn sie am Leben geblieben wäre.
War er unfolgsam, so knuffte sie ihn allerdings, aber sie war nie grausam gegen ihn, und sie liebkoste ihn häufiger als sie ihn strafte.
Tublat, ihr Gatte, hasste ihn, und mehr als einmal war er nahe daran, seinem jungen Leben ein Ende zu bereiten. Tarzan ließ seinerseits nie eine Gelegenheit vorübergehen, seinem Pflegevater zu zeigen, dass er seine Gefühle voll erwiderte. Und wenn er, geborgen in seiner Mutter Arme oder von den schlanken Ästen hoher Bäume, ihn ärgern, ihm Gesichter schneiden oder Schimpfworte zurufen konnte, so tat er es.
Dank seiner höheren Intelligenz und seiner Geschicklichkeit konnte er tausend lose Streiche ersinnen, die Tublat das Leben sauer machten.
Früh in seiner Kindheit hatte er gelernt, aus langen Gräsern, die er drehte und aneinander knüpfte, Stricke zu formen, und diese brachte er so an, dass Tublat darüber stolperte, wenn er nicht gar von einem überhängenden Aste aus versuchte, ihm den Strick um den Hals zu legen.
Beim Spielen und durch allerlei Versuche lernte er kräftige Knoten und Fangschlingen knüpfen, und mit diesen spielten er und die jüngeren Affen. Auch diese versuchten seine Kunst nachzuahmen, aber keiner von ihnen war so erfinderisch wie er. Eines Tages hatte Tarzan beim Spielen einem fliehenden Kameraden seinen Strick nachgeworfen, indem er das Ende in der Hand behielt. Durch Zufall fiel die Schlinge um den Hals des laufenden Affen, sodass dieser gezwungen war, stehen zu bleiben.
Tarzan war über diese Wirkung verwundert. Das ist ein neues, schönes Spiel, dachte er, und er versuchte das Kunststück noch einmal. So lernte er durch fortgesetzte Übung die Kunst des Schlingenwerfens.
Von nun an war das Leben Tublats ein stetes Alpdrücken. Im Schlaf, auf dem Marsche, bei Tag und bei Nacht, immer musste er damit rechnen, dass der boshafte Junge ihm heimlich eine Schlinge um den Hals zu legen und ihn damit zu erwürgen versuchte.
Kala strafte Tarzan zwar, und Tublat schwor ihm schreckliche Rache. Auch der alte Kerschak nahm sich der Sache an, warnte und drohte, aber alles war vergebens.
Tarzan trotzte ihnen allen, und die dünne, starke Schlinge legte sich auch ferner um Tublats Hals, wenn er es am wenigsten vermutete.
Die anderen Affen hatten ihre Freude daran, denn Tublat war ein unangenehmer, alter Patron, den niemand leiden mochte. In Tarzans klugen, kleinen Geist drehten sich manche Gedanken, und hinter diesen war die göttliche Macht des Verstandes.
Tarzan sagte sich, wenn er mit einer solchen Schlinge einen Affen fangen konnte, weshalb nicht auch Sabor, die Löwin? Es war der Keim eines Gedankens, der vorläufig nur in seinem Unterbewusstsein lebte, bis er in späteren Jahren zur Vollendung gedieh.
Auf seinen Wanderungen kam der Stamm oft in die Nähe der stillen, verschlossenen Hütte an der kleinen Bucht. Tarzan hätte gar zu gerne gewusst, welches Geheimnis darin verborgen war.
Er versuchte zwar, durch die Fenster zu schauen, aber sie waren verhängt. Dann dachte er daran, auf das Dach zu klettern, um durch den Kamin hinunterzukommen, vielleicht könnte er auf diese Weise erfahren, welche Wunder innerhalb dieser Wände verborgen waren.
In seiner kindlichen Einbildung stellte er sich allerlei merkwürdige Dinge vor, die darin enthalten sein müssten, und je mehr er einsah, dass er nicht ohne weiteres hineingelangen könne, desto lebhafter wurde sein Wunsch, das Rätsel zu lösen.
Er kletterte stundenlang um das Dach und die Fenster herum, um ein Mittel zu entdecken, sich Eingang zu verschaffen, aber auf die Tür achtete er nur wenig, denn sie schien ihm ebenso fest zu sein, wie die Wände der Hütte.
Kurz nachdem er das Abenteuer mit Sabor erlebt hatte, kam er wieder in die Nähe der Hütte. Da schien es ihm, als ob die Tür ein unabhängiger Teil der Wand sei, in die sie eingesetzt war, und zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass dies der Weg sei, ins Innere zu gelangen, nach dem er so lange vergeblich gesucht hatte.
Er war allein, wie schon so oft, wenn er die Hütte aufsuchte, denn die Affen hatten eine Abneigung dagegen. Die Geschichte von dem Donnerstock hatte in diesen zehn Jahren nichts an Schrecken verloren, und sie umgab noch immer die verlassene Wohnung des weißen Mannes mit einer für die Affen unheimlichen Atmosphäre.
Niemand hatte Tarzan erzählt, in welcher Beziehung er selbst zu der Hütte stand. Die Sprache der Affen ist so wortarm, dass sie nur wenig darüber berichten konnten, was sie in der Hütte gesehen. Sie hatten auch keine Worte, um die seltsamen Leute und ihre Sachen zu beschreiben, und so kam es, dass, als Tarzan alt genug war, um zu verstehen, die Sache längst vom Stamm vergessen war.
Nur in einer ganz unklaren und unbestimmten Weise hatte Kala ihm erklärt, dass sein Vater ein seltsamer, weißer Affe gewesen sei, aber er wusste nicht, dass Kala nicht seine Mutter war.
An diesem Tage nun ging er sofort auf die Tür zu, untersuchte sie stundenlang und machte sich an den Scharnieren, am Knopf und an der Klinke zu schaffen. Schließlich fand er den richtigen Griff, und vor seinen erstaunten Augen sprang die Tür knarrend auf.
Zuerst wagte er sich nicht hinein, aber als seine Augen sich allmählich an das Halbdunkel im Innern gewöhnt hatten, betrat er langsam und vorsichtig den Raum.
In der Mitte lag ein Skelett auf dem Boden. Das Fleisch war von den Knochen vollständig verschwunden; nur die vermoderten Überreste der Kleider hingen noch daran. Auf dem Bette lag ein ähnliches, grauenhaftes, schmäleres Gerippe, während daneben in einer Wiege ein drittes, winziges Skelett lag.
Tarzan warf nur einen flüchtigen Blick auf diese Zeugen einer furchtbaren Tragödie. Sein wildes Dschungelleben hatte ihn an den Anblick toter und sterbender Tiere gewöhnt. Auch wenn er gewusst hätte, dass er auf die Überreste seiner Eltern blickte, so wäre er nicht gerührter gewesen.
Die Möbel und der übrige Inhalt des Raumes fesselten seine Aufmerksamkeit mehr. Er besichtigte manche Dinge minutenlang, das fremdartige Handwerkszeug, die Waffen, die Bücher, Papier und Kleider, die den Verheerungen der Zeit in der feuchten Luft der Dschungelhütte nur wenig widerstanden hatten.
Er öffnete Kasten und Schränke, die ihm völlig neu waren, und in diesen fand er den Inhalt viel bester erhalten. Unter anderem entdeckte er ein scharfes Jagdmesser, mit dem er sich schon gleich in den Finger schnitt. Das hinderte ihn aber nicht, weitere Versuche damit anzustellen, und er fand, dass er mit seinem neuen Spielzeug Holzsplitter vom Tisch und von den Stühlen abschneiden konnte. Das amüsierte ihn eine ganze Weile, aber schließlich wurde er dessen überdrüssig, und er setzte seine Nachforschungen fort.
In einem mit Büchern gefüllten Schrank fand er eine Kinderfibel mit schönen farbigen Bildern, die seine Neugier aufs höchste erregten.
Da gab es mancherlei Affen, die ein ähnliches Gesicht hatten, wie er, und gleich beim ersten Buchstaben A fand er auch kleine Affen, wie er sie täglich im Urwalde auf den Bäumen umherklettern sah. Aber nirgends fand er im Buch ein Bild von seinem eigenen Volk, kein Bild von Kerschak, Tublat oder Kala.
Zuerst versuchte er, die kleinen Figuren von den Blättern wegzunehmen, aber bald sah er, dass sie nicht lebend waren, obschon er nicht wusste, was sie eigentlich seien und er auch keine Worte hatte, sie zu beschreiben.
Die Schiffe und Eisenbahnzüge, die Kühe und Pferde, die er im Buch sah, waren ganz sinnlos für ihn, da er sich nicht vorstellen konnte, was das sein mochte, aber noch viel weniger konnte er begreifen, was die Buchstaben sein sollten, diese kleinen Dinger, die sich unter und zwischen den farbigen Bildern befanden. Er dachte, es könnte eine seltene Art Käfer sein, denn viele von ihnen hatten Beine, obgleich nirgends Augen oder ein Mund zu sehen war.
Das war also Tarzans erste Bekanntschaft mit den Buchstaben des Alphabets, und dabei war er schon über zehn Jahre alt! Natürlich hatte er nie etwas Gedrucktes gesehen, hatte auch nie mit einem lebenden Wesen gesprochen, das etwas von dem Vorhandensein einer geschriebenen Sprache wusste. Auch hatte er noch nie jemand lesen gesehen.
Es war also kein Wunder, dass der Junge den Sinn der seltsamen Figuren nicht erraten konnte.
Gegen die Mitte des Buches fand er seine alte Feindin, die Löwin Sabor, und weiter sah er Histah, die Schlange, sich winden.
O, das war sehr interessant! Niemals in all diesen Jahren hatte er sich über etwas so gefreut. Er war so vertieft in die Betrachtung der Bilder, dass er nicht bemerkte, wie die Dunkelheit hereinbrach, bis er die Figuren nicht mehr deutlich unterscheiden konnte.
Er legte das Buch in den Schrank zurück und schloss die Tür, denn er wollte nicht, dass sonst jemand seine Schätze finden und zerstören sollte. Als er in die Abenddämmerung hinausging, schloss er die Tür der Hütte so hinter sich zu, wie sie war, ehe er das Geheimnis der Hütte entdeckt hatte. Zuvor aber hatte er noch das Jagdmesser vom Boden aufgehoben, um es seinen Kameraden zu zeigen.
Er war noch kaum zwölf Schritte gegangen, als sich aus dem Schatten eines Gebüsches vor ihm eine große Gestalt erhob. Zuerst dachte er, es sei einer von seinem eigenen Volke, aber dann erkannte er plötzlich Volgani, den Riesen-Gorilla.
Er war so nahe, dass sich ihm keine Aussicht zur Flucht bot. Der kleine Tarzan wusste, dass er für sein Leben zu kämpfen hatte, denn die großen Tiere waren die Todfeinde seines Stammes.
Wäre Tarzan ein voll erwachsener Affe gewesen, da hätte er den Kampf mit dem Gorilla schon ausgenommen, aber er war nur ein kleiner englischer Junge, wenn auch sehr muskulös für sein Alter. Wenn er auch seinem grausamen Feind nicht gewachsen war, so floss in seinen Adern doch das Blut einer mächtigen Kämpferrasse, und dazu kam, dass er sich während seiner kurzen Lebenszeit unter diesem wilden Dschungelvolke ordentlich trainiert hatte.
Er kannte keine Furcht, obgleich sein Herz schneller schlug, wenn er ein Abenteuer erlebte. Wohl hätte er versucht, zu entkommen, weil er sich sagte, dass er dem großen Gorilla nicht gewachsen war, aber da er einsah, dass die Flucht unmöglich war, trat er ihm tapfer entgegen, ohne auch nur mit einem Muskel zu zucken.
Er kam dem wilden Tier sogar bei seinem Angriff halbwegs entgegen. Mit den Fäusten schlug er auf das Ungetüm ein, und wenn das auch an und für sich so unnütz gewesen wäre wie der Kampf einer Fliege gegen einen Elefanten, so hielt er doch noch in der einen Hand das Messer, das er in der Hütte gefunden hatte, und als das Tier sich ihm schlagend und beißend näherte, richtete er die Spitze des Messers zufällig gegen dessen haarige Brust. Als es sich nun tief in den Körper hineinbohrte, schrie der Gorilla vor Schmerz und Wut auf.
In dieser kurzen Sekunde lernte der Knabe sein scharfes glänzendes Spielzeug als Waffe gebrauchen, und als das Tier ihn zu Boden schlug, um ihn zu zerreißen, stieß er ihm die Klinge wiederholt bis ans Heft in die Brust.
Der Gorilla, der auf seine Art kämpfte, versetzte dem Knaben schreckliche Schläge mit seiner Hand und riss ihm mit seinen gewaltigen Händen das Fleisch von Hals und Brust.
Einen Augenblick lang wälzten sich die beiden in wildem Kampf auf dem Boden. Die Stöße, die der Junge mit seinem blutigen, zerfleischten Arme ausführte, wurden immer schwächer, und endlich erstarben die Bewegungen mit einem krampfhaften Ruck: Tarzan, der junge Lord Greystoke, rollte wie leblos auf die abgestorbene Pflanzendecke des Dschungelbodens.
Eine Meile weit im Walde hatte der Stamm den wilden Angriffsschrei des Gorillas gehört. Kerschak hatte die Gewohnheit, seine Angehörigen zusammenzurufen, wenn Gefahr drohte, teils um sich gegenseitig gegen einen gemeinsamen Feind zu schützen, teils um sich zu überzeugen, ob auch noch alle Mitglieder seines Stammes vorhanden waren.
Das tat er denn auch diesmal, zumal man nicht wissen konnte, ob jener Gorilla vielleicht nur einer von mehreren war. So merkte man, dass Tarzan fehlte. Tublat wehrte sich aber heftig dagegen, ihm zu Hilfe zu eilen. Kerschak selbst mochte den kleinen fremden Findling auch nicht ordentlich leiden, und so ließ er sich von Tublat überreden, mit einem Achselzucken kehrte er zu der Stelle zurück, wo er sich auf einem Haufen Blätter sein Lager bereitet hatte.
Kala dachte aber anders. Kaum hatte sie bemerkt, dass Tarzan fehlte, als sie schleunigst durch die Äste hindurchbrach und zwar in der Richtung, von wo die Schreie des Gorillas noch immer deutlich herkamen.
Die Dunkelheit war nun völlig hereingebrochen, und der früh aufsteigende Mond warf mit seinem schwachen Lichte seltsame Schatten in das dichte Laubwerk des Waldes.
Hier und dort drangen die silberhellen Strahlen auf die Erde, aber sie trugen nur dazu bei, die Dunkelheit der Dschungelwildnis noch stärker hervortreten zu lassen.
Wie ein riesiges Gespenst schwang Kala sich geräuschlos von einem Baum zum anderen; bald glitt sie flink an einem großen Ast entlang, bald schwang sie sich von einem Ast auf einen weiteren Baum, um möglichst schnell an den Ort der Katastrophe zu kommen, denn ihre Kenntnis des Dschungellebens ließ sie erraten, was vorgefallen sein mochte.
Die Schreie des Gorillas verkündeten, dass er sich im Kampf auf Leben und Tod mit einem anderen Bewohner des wilden Waldes befand. Plötzlich hörte das Geschrei auf und eine Todesstille herrschte im Dschungel.