Prozess und Philosophie des Helfens

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Danksagung

Viele Freunde und Kollegen haben die Kapitel dieses Buchs in allen Stadien der Bearbeitung gelesen. Das war eine große Hilfe und hat mich dazu gebracht, einiges neu zu überdenken. Mein besonderer Dank geht an Otto Scharmer, Lotte Bailyn, John van Maanen, David Coghlan, Sue Lotz, Mary Jane Kornacki und vor allem an die Lektoren von Berrett-Koehler für ihr ausführliches Feedback. John Gallos und Michael Arthur haben das fertige Manuskript gelesen und mir damit zu einer weiteren Klärung verholfen.

Während ich an diesem Buch arbeitete, ist meine Frau gestorben. Die letzten sechs Monate ihres 25-jährigen Kampfs gegen den Krebs haben mir viele Anstöße zum Nachdenken über Helfen und Pflege gegeben. Ich danke ihr posthum für die 52 wunderbaren Jahre, die wir zusammen verbracht haben, und für die kreative häusliche Atmosphäre, die mir das Schreiben zur Freude statt zur Pflicht gemacht hat.

Edgar H. Schein, Cambridge, MA.

1. Kapitel

Was ist Helfen?*
Hilfreiches und nicht hilfreiches Helfen

Helfen ist ein komplexes Phänomen: Manchmal hilft es, manchmal nicht. Die Unterschiede will ich in diesem Buch herausarbeiten. In meiner beruflichen Laufbahn als Professor und gelegentlicher Berater habe ich oft darüber nachgedacht, was hilft und was nicht, warum manche Seminare gut laufen und andere nicht, warum Coaching und Erfahrungslernen oft erfolgreicher sind als Vorträge und warum es bei der Arbeit mit Klienten aus dem Organisationsbereich besser ist, sich auf die Inhalte statt auf die Prozesse zu konzentrieren, also nicht auf die Frage, was getan, sondern wie es getan wird. In diesem Buch will ich dem Leser die Einsicht vermitteln, die nötig ist, um dort, wo Hilfe gefordert ist oder um Hilfe gebeten wird, tatsächlich zu helfen, und sie dort, wo sie gebraucht und angeboten wird, auch anzunehmen. Beides ist meist schwieriger, als man glaubt.

Vor ein paar Tagen zum Beispiel bat mich ein Freund um Rat, der Probleme mit seiner Frau hatte, aber als ich ihm Vorschläge machte, meinte er unwirsch, das habe er alles schon versucht, und implizierte zudem, solche Vorschläge könne nur ein ausgesprochen unsensibler Mensch machen. Das erinnerte mich an viele ähnliche Erfahrungen, bei denen die Bitte um oder das Angebot von Hilfe erfolglos geblieben war und Unbehagen hinterlassen hatte.

Dann fiel mir ein Beispiel für erfolgreiche Hilfe ein: Eine Frau im Auto hatte mich nach dem Weg zur Autobahn gefragt. Ich fragte, wohin sie denn wolle, und erfuhr, dass sie in die Bostoner Innenstadt wollte. Als ich ihr sagte, dass die Straße, auf der wir waren, direkt in die Innenstadt führe und sie die Autobahn gar nicht brauche, bedankte sie sich sehr herzlich, weil ich sie nicht zu der Autobahn geschickt hatte, nach der sie gefragt hatte.

Nach meiner Erfahrung bleibt Hilfe, ob erbeten oder angeboten, besonders häufig bei Computerproblemen nutzlos. Wenn ich bei einer Hotline anrufe, verstehe ich meist nicht einmal die diagnostischen Fragen, mit denen die Helfer herausfinden wollen, wie sie mir helfen können. Will mich ein Computerfachmann Schritt für Schritt durch ein Problem führen, fällt es mir schwer zu sagen: »Halt! Ich habe den ersten Schritt noch gar nicht verstanden.« Ein Computerlehrer allerdings hat mich zuerst gefragt, wofür ich meinen Computer vor allem benutzen wolle, und als ich ihm sagte, ich brauche ihn hauptsächlich zum Schreiben, hat er mir alle Programme und Hilfsmittel erklärt, die das Schreiben erleichtern. Das war hilfreich. Wenn ich aber meiner Frau beim Computer helfen soll, mache auch ich immer wieder denselben Fehler: Ich sage ihr, was ich tun würde, sie fühlt sich überfordert, und am Ende sind wir beide frustriert.

Freunde, Lektoren, Berater, Lehrer und Coachs haben oft Vorschläge gemacht und Tipps gegeben, die für mein jeweiliges Problem irrelevant waren. Und wenn ich diese dann so freundlich wie möglich ignorierte, machten mich die selbsternannten Helfer in irritiertem Ton darauf aufmerksam, sie hätten mir ja nur helfen wollen, und unterstellten damit, es sei meine Schuld, wenn ich ihre Hilfe nicht annehmen könne.

Eine meiner Töchter bat mich einmal um Hilfe bei einer Mathematikaufgabe. Ich unterbrach meine Arbeit, löste ihr Problem – und dann ging sie schmollend weg, ohne sich auch nur zu bedanken. Was hatte ich falsch gemacht? Als dann eine andere Tochter Hilfe bei einer Hausaufgabe wollte, sagte ich: »Erzähl doch mal …« Dabei stellte sich heraus, dass sie über ein schwieriges soziales Problem an der Schule reden wollte, das mit der Hausaufgabe gar nichts zu tun hatte. Es war ein gutes Gespräch, und hinterher ging es uns beiden besser.

Ärzte, Therapeuten, Sozialarbeiter und Berater aller Art wissen aus Erfahrung, dass Hilfe trotz bester Absichten fehlschlagen kann. Als Consultant und Karrierecoach für Manager in den verschiedensten Organisationen habe ich oft Lösungen für die vorgetragenen Probleme gefunden, nur um später festzustellen, dass mein Rat nicht funktioniert hatte und der Klient meinen Vorschlag nicht umsetzen konnte oder wollte. Und in der Supervision ist es mir oft genug passiert, dass man sich für Interventionen, die auf dysfunktionales Verhalten in der Gruppe zielten, herzlich bedankte, ohne dass sich das Verhalten veränderte.

Hilfe beschränkt sich natürlich nicht auf die Interaktion zwischen Einzelpersonen. Wenn Gruppen- und Teamarbeit ihre Ziele erreichen soll, müssen die Mitglieder ihre Rollen richtig spielen. In der Regel definiert man ein effektives Team nicht unbedingt als Gruppe von Menschen, die in der Lage sind, sich gegenseitig in angemessener Weise zu helfen. Aber genau das ist gute Teamarbeit: erfolgreiche gegenseitige Hilfe. Interessanterweise redet man in der Teamarbeit immer nur dann von »Hilfe«, wenn sie fehlt, wenn also zum Beispiel ein Mitglied zu einem anderen sagt: »Was du da getan hast, war nicht hilfreich«, oder: »Warum hast du mir nicht geholfen?«

Wie man sich im Team hilft, kann man im amerikanischen Football sehen, wo der Ballträger nur durchkommt, wenn ihm die Linemen den Weg freihalten. Viele erfolgreiche Ballträger laden ihre Linemen nach einem gewonnen Spiel als Dank für die Unterstützung zum Essen ein. Und wenn ein Läufer hinter der Linie angegriffen wird, sieht jeder, dass Hilfe gefehlt hat.

Helfen und Hilfe annehmen ist also komplexer, als es auf den ersten Blick scheint. Dieser scheinbar so alltägliche und ausgesprochen notwendige Prozess steckt voller Schwierigkeiten und misslingt häufig. Dieses Buch geht von der Voraussetzung aus, dass Helfen ein wichtiger, aber komplizierter Prozess ist. Es beschäftigt sich mit der Frage, was es wirklich bedeutet, zu helfen oder Hilfe anzunehmen, welche psychologischen, sozialen und kulturellen Fallen sich in diesem Prozess verbergen und wie man sie vermeidet. Die oben angeführten Beispiele zeigen, dass Hilfe weit mehr umfasst als die professionelle Hilfe, die wir von Ärzten, Anwälten, Geistlichen und Sozialarbeitern erwarten. Worum also geht es und wie können wir dafür sorgen, dass Hilfe hilfreich ist?

Die vielfältigen Bedeutungen des Helfens

Helfen ist ein sehr allgemeiner Begriff; er reicht vom Ritter in schimmernder Rüstung, der die Jungfrau vor dem Drachen rettet, bis zum Consultant, der daran arbeitet, die Kultur einer Organisation so zu verändern, dass neue strategische Ziele erreicht und bessere Leistungen möglich werden. Aus der Klientenperspektive beschränkt sich Hilfe nicht nur auf das, was vereinbart wurde, sondern schließt auch das spontane und großzügige Verhalten von Menschen ein, die erkennen, wann Hilfe gebraucht wird, selbst wenn man nicht darum gebeten hat.

Helfen spielt in zahlreichen Situationen im Leben eine Rolle (s. Abb. 1), es geschieht ständig, ob formell oder informell, und viele der in Abbildung 1 beschriebenen Rollen müssen wir in verschiedenen Situationen selbst übernehmen. Geht man noch einen Schritt weiter, lässt sich sagen, dass Helfen Bestandteil jeder Form von organisierter Arbeit ist, denn Organisation bedeutet ja gerade, dass man die Arbeit nicht allein tun kann. Bezahlte Hilfe beschränkt sich keineswegs auf Dienstboten und Pfleger, sondern umfasst alle Angestellten in einer Organisation, die Aufgaben erfüllen, die man selbst nicht erfüllen kann. Entsprechend ist auch pflichtbewusste Arbeit eine Form der Hilfe. Denken Sie an die Spannungen zwischen Abteilungsleitern und Mitarbeitern, wenn letztere ihre Aufgaben nicht gewissenhaft erledigen oder ersterer ihnen die dazu nötige Zeit oder Ressourcen nicht zur Verfügung stellt. Zwischen Mitarbeitern und ihren Vorgesetzten gibt es so etwas wie einen psychologischen Vertrag über die Art der Hilfe, die sie von einander erwarten können.

Die Komplexität dieses Konzepts zeigt sich auch in den vielen verschiedenen Begriffen, die für das Helfen benutzt werden (s. Abb. 2). Haben diese helfenden Prozesse etwas gemeinsam? Gibt es eine grundlegende gemeinsame Bedeutung, die Helfer wie Klienten verstehen müssen, um die Qualität der Hilfe zu verbessern, ob sie nun angeboten, gegeben, erbeten oder angenommen wird? Muss man die vielen Formen des Helfens – physische Assistenz, emotionale Unterstützung, Information, Diagnose, Rat und Empfehlung – exakt voneinander abgrenzen? Worin liegen die Ähnlichkeiten bzw. Unterschiede?

Formelle und informelle Hilfe

Im Alltag versteht man unter Hilfe das Handeln einer Person, mit dem eine andere Person in die Lage versetzt wird, ein Problem zu lösen, etwas zu erreichen oder etwas leichter zu tun. Ob die Person, der geholfen wird, die Aufgabe auch allein bewältigt hätte oder nicht: Helfen impliziert, dass die Aufgabe in irgendeiner Weise erleichtert oder, im Extremfall, überhaupt getan wurde (etwa bei der Rettung eines Ertrinkenden). Helfen ist also die Basis für Kooperation, Kollaboration und Altruismus in all seinen Formen. Ich bezeichne diese Art der Hilfe als informell. Sie ist in allen Kulturen institutionalisiert und wird als selbstverständliche Grundlage einer zivilisierten Gesellschaft verstanden. Wahrscheinlich hat sie eine genetische Basis, weil helfendes Verhalten auch bei anderen Arten als dem Menschen nachgewiesen ist. Helfen gehört zu dem Bereich, den wir als Manieren, d.h. als Regeln zivilisierten Verhaltens und als ethisches und moralisches Handeln bezeichnen. Helfen ist eine ständige, alltägliche Routine. Und eine Bitte um oder ein Angebot zur Hilfe darf nicht ignoriert werden – man muss auf irgendeine Weise damit umgehen, denn sonst kommt es zu Rissen im sozialen Gefüge und zu peinlichen Situationen für alle Beteiligten.

 

Die nächste Ebene der Hilfe könnte man als halbformell bezeichnen. Das betrifft die unterschiedlichen Fachleute für Hilfen im Haus, beim Auto, beim Computer, bei audiovisuellen Geräten u.Ä. Hier wird Hilfe benötigt, damit etwas funktioniert; man ist persönlich nicht besonders beteiligt und zahlt für den Service oder die Information. In diesem Bereich macht man besonders viele frustrierende Erfahrungen, ob als Kunde oder als Helfer, denn wir gehen davon aus, dass Geräte leicht zu bedienen sein sollten, und sträuben uns gegen neue Begrifflichkeiten und Abläufe, etwa beim Computer.

Formelle Hilfe wird bei persönlichen, gesundheitlichen oder emotionalen Problemen gebraucht, bei denen medizinische, rechtliche oder geistige Unterstützung von Menschen benötigt wird, die dazu qualifiziert und approbiert sind. Wir gehen zu Ärzten, Anwälten, Priestern, Beratern, Sozialarbeitern, Psychologen und Psychiatern, um individuelle Unterstützung zu finden. Führungskräfte in Unternehmen und Organisationen lassen sich bei Leitungs- oder Leistungsproblemen beraten. Diese Hilfe ist ein professioneller und formeller Prozess, bei dem Verträge, Terminpläne und der Austausch von Geld oder anderen Wertgegenständen gegen Dienstleistungen eine Rolle spielen. Die meisten Untersuchungen über den Bereich des Helfens beschäftigen sich mit dieser formellen Ebene, obwohl informelle oder halbformelle Hilfen sehr viel häufiger sind und ihr Scheitern schwerwiegendere Folgen hat.

Wir werden untersuchen, ob sich diese formelle Hilfe von der alltäglichen informellen und halbformellen Hilfe unterscheidet. Was macht ausgebildete und approbierte Helfer erfolgreicher bzw. erfolgloser und was können wir von ihnen lernen, um Fertigkeiten in weniger formellen Settings zu verbessern? Genauso wichtig ist die Frage, was die professionellen Helfer von einer genaueren Untersuchung der Dynamik informeller oder halbformeller Hilfe lernen können.

Ein Fremder zeigt dem Touristen den Weg

Ein Vater erledigt die Hausaufgaben seines Kindes

Ein Ehemann berät seine Frau bei der Wahl eines Kleides für die Party

Eine Krankenschwester hilft dem Patienten, die Bettpfanne zu benutzen

Ein Freund ergänzt das Wort, das einem auf der Zunge liegt

Ein Gast bietet an, den Tisch abzuräumen und das Geschirr zu spülen

Ein Lehrer erklärt dem Schüler einen Begriff

Ein Computerexperte begleitet jemanden Schritt für Schritt bei der Lösung eines Problems

Ein Mitarbeiter beim Notruf oder bei der Telefonseelsorge berät einen Menschen in Not

Ein Kind zeigt einem Freund oder seinen Eltern, wie man das neue Telefon benutzt oder ein Videospiel spielt

Ein Berater hilft seinem Klienten, seine Fertigkeiten zu verbessern

Eine Operationsschwester reicht dem Chirurgen das richtige Skalpell im rechten Moment

Ein Footballspieler macht dem Läufer den Weg frei

Ein Coach berät einen Manager beim Umgang mit Untergebenen

Ein Schauspieler gibt beim Improvisationstheater seinem Partner das Stichwort für den Lacher

Ein Mitarbeiter der Arbeitsagentur hilft einem Arbeitslosen, einen neuen Job/einen neuen Beruf zu finden

Ein Fließbandarbeiter fertigt seine Teile so rechtzeitig, dass das

Fließband weiterlaufen kann

Ein Pfleger versorgt einen Kranken

Ein Anwalt berät seinen Klienten in Scheidungsfragen

Ein Sozialarbeiter hilft einer Familie, eine wirtschaftliche Krise zu bewältigen

Ein Psychotherapeut unterstützt seinen Klienten bei der Bewältigung von Verhaltens-oder emotionalen Problemen

Ein Pfarrer hilft einem Gemeindemitglied beim Umgang mit Schuld, Trauer oder Angst

Ein Arzt stellt einem Patienten die Diagnose und verschreibt Medikamente

Ein Beerdigungsunternehmer hilft einer trauernden Familie, mit dem Tod fertig zu werden

Ein Berater bemüht sich, die Abläufe in einer Organisation zu verbessern

Abb. 1: Die vielfältigen Formen der Hilfe

Anbieten / Anleiten / Befähigen

Beistehen / Beraten / Coaching

Consulting / Counseling / Empfehlen

Erklären / Fördern / Geben

Haushalt führen / Katalysieren / Kümmern

Lehren / Liefern / Mentoring

Pflegen / Rat geben / Steuern

Stützen / Überreichen / Verbessern

Verschreiben / Versichern / Aufklären

Abb. 2: Andere Begriffe für Helfen

Helfen ist ein gesellschaftlicher Prozess

Hilfe wird gegeben und angenommen, und deshalb konzentriere ich mich auf die Frage, wie die helfende Beziehung definiert und verstanden werden kann. Dieser Fokus führt wiederum zu einer Diskussion über Beziehung im Allgemeinen. Was bedeutet eine gute Beziehung, in der wechselseitiges Vertrauen und offene Kommunikation möglich sind?

Alle Beziehungen werden von kulturellen Regeln bestimmt, die vorgeben, wie man sich in der Beziehung zu anderen zu verhalten hat, damit es zu einem gefahrlosen und produktiven sozialen Austausch kommt. Wir bezeichnen diese Regeln als gutes Benehmen, Takt und Manieren. Dieser Ebene des offenen Verhaltens liegen feste Regeln zugrunde, die eingehalten werden müssen, wenn die Gesellschaft funktionieren soll. Manche sind situationsabhängig, aber es gibt in jeder Kultur eine Gruppe universeller Regeln, deren Verletzung Ächtung und Isolation zur Folge hat. Ein solcher Verstoß im Laufe einer Interaktion führt dazu, dass wir verletzt, beleidigt, peinlich berührt sind und an der Qualität der Beziehung zweifeln. Der Klient, der das Gefühl hat, keine Hilfe gefunden zu haben, verliert das Vertrauen und ist verletzt, während der Helfer sich ablehnt oder ignoriert fühlt.

Helfen ist also eine Beziehung, aber der Prozess des Anbietens und Annehmens halbformeller oder formeller Hilfe beginnt meist mit einer individuellen Initiative. Das heißt, man muss begreifen, wie aus dem anfänglichen Kontakt zwischen potentiellem Helfer und potentiellem Hilfesuchenden eine Beziehung wird, die zur Hilfe führt. Eine helfende Beziehung entsteht, wenn jemand hilft , Hilfe anbietet oder Hilfe sucht. Ein Teamleiter sucht sich eine Reihe von Leuten und setzt einen Prozess des Aufbaus von Beziehungen in Gang, der dazu führt, dass sich die Mitglieder des Teams gegenseitig helfen. Ein Berater hilft einem Manager, Arbeitseinheiten so zu strukturieren, dass sie sich gegenseitig helfen und die Ziele der Organisation erreicht werden können. Und auch wenn eine Gruppe oder Gemeinschaft erkennt, dass sie kollektiv Hilfe braucht, muss jemand dieses Bedürfnis artikulieren und ins gemeinsame Bewusstsein holen, damit der Prozess einer helfenden Beziehung in Gang kommt.

Wir müssen uns also zunächst auf die Frage konzentrieren, wie aus persönlicher Initiative eine Beziehung entsteht. Wer die Dynamik des Beziehungsaufbaus kennt, kann eine effektivere helfende Beziehung entwickeln.

In den folgenden Kapiteln werde ich einige grundlegende Regeln für Beziehungen und ihre Anwendung auf die helfende Beziehung untersuchen. Wir werden die ungleichen, unklaren Rollen in der helfenden Beziehung betrachten, die verschiedenen möglichen Rollen der Helfer in einer ausgeglichenen und angenehmen Beziehung, den Aufbau einer solchen Beziehung und die Interventionen im Verlauf der Entwicklung der Beziehung zwischen Klient und Helfer.

Anmerkung

* Diese Kapitel ist auf Deutsch in leicht geänderter Form zuerst erschienen in: Profile 17 (2009), 5-9; aus dem Amerikanischen von Irmgard Hölscher.

2. Kapitel

Ökonomie und Theater – Das Wesen der Beziehung

Es gibt zwei kulturelle Grundprinzipien, die wir von klein auf lernen. Das erste und wichtigste lautet: Jede Kommunikation zwischen zwei Parteien ist ein reziproker Prozess, der fair und gerecht sein oder zumindest scheinen muss. Um in der sozialen Welt zu überleben und sich wohl zu fühlen, muss man die Regeln der sozialen Ökonomie kennen. Das beginnt auf der einfachsten Ebene: Kinder lernen, sich für ein Geschenk zu bedanken oder es sonst irgendwie anzuerkennen. Der Dank ist die Gegenleistung, die Erwiderung, die die Kommunikationsschleife schließt und für Fairness und Ausgleich in der Interaktion sorgt. Kinder lernen auch, dass sie der Person, die sie anspricht, Aufmerksamkeit schulden. Das Wort »schulden« verweist darauf, dass die Informationen oder Anweisungen des anderen einen bestimmten Wert haben. Wie wir sehen werden, erwartet man in allen Beziehungen Wechselseitigkeit. Wer sich nicht revanchiert, riskiert, den anderen zu verletzen und die Beziehung scheitern zu lassen.

Das zweite kulturelle Grundprinzip besagt, dass Beziehungen in allen menschlichen Kulturen auf festen Rollen basieren, die sehr früh erlernt und dann so automatisch werden, dass man sich ihrer gar nicht mehr bewusst ist. Man muss seine jeweilige Rolle richtig und der jeweiligen Situation angemessen spielen. Wenn zwei Beteiligte miteinander sprechen, müssen sie entscheiden, wer Akteur (Sprecher) und wer Publikum (Zuhörer) ist. Diese Rollen können sehr rasch wechseln, müssen aber immer komplementär sein, damit soziale Interaktion funktionieren kann. Der ökonomische Wert einer Interaktion wird von diesem Grundprinzip – der Definition der Situation – bestimmt, denn es legt fest, welche Rolle man spielt und welchen Wert man ihr beimisst. Wer durch Tonfall und Verhalten zeigt, dass er etwas Wichtiges zu erzählen hat, definiert damit die Situation, die Rollen und den Austausch. Der andere nimmt automatisch eine aufmerksame Haltung ein; er zeigt mit seinem Verhalten, dass er zuhört. Er erwartet eine wichtige Botschaft und ist beleidigt oder irritiert, wenn er merkt, dass er nur von dem abgelenkt werden soll, was er gerade tut. In diesem Fall hat der Sprecher seine Rolle nicht so gespielt, wie es die von ihm definierte Situation verlangte.

Das normale Alltagsleben besteht aus einer ganzen Reihe solcher Definitionen. Sie geben vor, welche Rolle man spielen soll und was man von anderen erwarten kann. Wir lernen zum Beispiel, dass wir uns gegenüber Menschen mit höherem Status ehrerbietig verhalten müssen. Wenn wir als Vorgesetzte unseren Mitarbeitern begegnen, definiert die Situation das Verhalten, das unserem Status entspricht. Auf diese Weise lernen wir, welchen Wert wir der eigenen und der Rolle der anderen beimessen können. Gerechte, faire Beziehungen erfordern keineswegs den gleichen Status, sondern ein Verhalten, das den jeweiligen Status und die jeweilige Situation berücksichtigt. Die Situation bestimmt, wie viel Wert jeder Beteiligte für sich beanspruchen kann. Werde ich bei einer wichtigen Konferenz als Redner vorgestellt, steigt mein Wert, und das Publikum erwidert das mit größerem Respekt. Treffe ich die Teilnehmer später bei einem Glas Wein, ist mein Status weiterhin höher, aber die Situation verlangt weniger Förmlichkeit. Ich muss also nicht mehr so viel Wert beanspruchen und kann andere zu einem lockeren Austausch ermutigen.

 

In der Umgangssprache bezeichnet man diesen Wert als »Image«. Jeder Beteiligte an einer Interaktion beansprucht ein gewisses Maß an Image, und die Regeln der Gegenseitigkeit erfordern, dass dieser Anspruch von den anderen Beteiligten akzeptiert und bestätigt wird. Mit der Bemerkung: »Ich will dir etwas sagen«, erhebe ich den Anspruch, etwas zu wissen, was meiner Meinung nach für den Gesprächspartner von Wert ist. Damit ist der andere dafür verantwortlich, zuzuhören und den Mund zu halten, er schuldet mir Aufmerksamkeit. Hier kommt wieder das Wort »schulden« ins Spiel. Man spricht auch von »Investitionen« in eine Beziehung, das heißt, man erarbeitet sich soziales Kapital, auf das man später, wenn man zum Beispiel um einen Gefallen bittet, zurückgreifen kann.

Wenn man beschließt, den Anspruch des anderen nicht zu akzeptieren und ihn ignoriert oder in Verlegenheit bringt, beschädigt man sein Image und erweist sich selbst als unhöflich oder aggressiv. So gesehen ist es eine kulturelle Binsenwahrheit, dass durch die mangelnde Anerkennung eines Anspruchs beide Beteiligten ihr Gesicht verlieren. Man kann die Ansprüche des anderen aber auch höflich akzeptieren und gleichzeitig durch kluges Reden oder Verhalten einen höheren Status beanspruchen, d.h. die Anerkennung des eigenen höheren Anspruchs fordern. Soziale Interaktion ist also entweder ein komplizierter Balanceakt im Dienste der wechselseitigen Imagepflege oder eine Möglichkeit, Status zu gewinnen.

Situationsabhängige Rollen und Regeln haben sogar Vorrang vor eigenen formalen Werten. So bringt man zum Beispiel einem Kind nicht nur bei, immer die Wahrheit zu sagen, sondern erklärt ihm auch, dass es die stark übergewichtige Nachbarin trotzdem nicht als »dicke Frau« bezeichnen darf. Es gehört zum Prozess des Heranwachsens, dass man lernt, wann Offenheit und wann Diplomatie angebracht ist und was man am besten übersieht und überhört. Aber eben diese Fähigkeit zur Zurückhaltung und Lüge wirft in Beziehungen die Vertrauensfrage auf. Aufrichtigkeit, Kongruenz und Vertrauenswürdigkeit sind die Maßstäbe, mit denen man beurteilt, wie weit jemand über seine verschiedenen Rollen hinweg als beständig wahrgenommen wird und wie sehr das Image, das er sich nach außen gibt, zu seinen inneren Werten passt.

Im Erwachsenenalter beherrschen wir eine Unzahl verschiedener Rollen und Skripte und können die ganz unterschiedlichen vorgegebenen oder selbst geschaffenen Situationen und Beziehungen, mit denen wir jeden Tag konfrontiert sind, problemlos identifizieren und bewältigen. Diese kulturelle Dynamik spielt, wie wir sehen werden, in der helfenden Situation eine entscheidende Rolle, denn Klient und Helfer begegnen sich mit einem von ihnen selbst festgelegten Maß an Image. Die weitere Entwicklung der helfenden Situation hängt oft von dem Wert ab, den der Klient dem Helfer und der Helfer dem Klienten zubilligt, und das wiederum ist von ihrem wechselseitigen Vertrauen abhängig. Im Folgenden werde ich diese Dynamik näher untersuchen.