Agnes hatte ihr an jenem Morgen, sehr erschrocken, sehr erregt, aber klar und bar gesagt: »Liebes Kind, mit dir steht es so und so.« Gut, es war entsetzlich! Dennoch hätte Rosa gern mehr darüber erfahren. Endlich – eines morgens – trat sie, tief errötend, zu Agnes in die Küche, schloss die Türe hinter sich und veranlasste ein langes, halblaut geführtes Gespräch, das ihr vieles klarmachte.
Wunderbar blieb es immerhin!
Stundenlang saß sie in ihrer Kammer, sah den rötlichen Zweigen der Kastanie zu, wie sie sich sachte auf dem Hintergrunde des hartblauen Himmels hin und her wiegten, und dachte nach: Also – ganz einfach – einen Menschen sollte sie zur Welt bringen, ein Wesen wie sie selbst, wie jene dort unten, deren Schritte zu ihr herauftönten; nur dass dieses Wesen ihr gehören würde – ganz ihr, nicht wahr? So gut wie ihre Stecknadeln und ihr Fingerhut? Seltsam! Und dieses Eigentum wird essen und trinken und lieben und unglücklich sein wie sie – wie Ambrosius –? Nein – schlecht und unglücklich sollte es nicht werden! Es? – Was? – Wer war das? Rosas armes Mädchenhirn stand ratlos vor den großen Fragen des Lebens. Sie schauerte in sich zusammen. Sie fürchtete sich vor sich selbst! Gespenstisch erschien ihr der eigene Körper, in dem so wunderbare Dinge vor sich gehen sollten – erschien ihr das eigene Herz, das plötzlich etwas zu verteidigen und zu lieben begann, was gar nicht da war – was niemand kannte. Nein, zu begreifen war es nicht! – Sie ließ ihren Kopf auf das Fensterbrett sinken und weinte.
Aber in dem tiefen Schmerz, der sie laut und lange schluchzen ließ, war etwas – kaum geahnt und doch empfunden – etwas wie Trost, etwas, zu dem ihr verarmt und verödet Leben hinstrebte; etwas Reines, Schönes, das ihr vielleicht werden konnte. So unverstanden dieses Gefühl auch war, dennoch ließ es Rosas Tränen sanfter rinnen.
An einem trüben Morgen – Ende Januar – trat Rosa ihre Reise nach Tiglau an. Agnes sollte sie begleiten, alles dort einrichten und wieder zurückkommen.
Herr Herz war an diesem Abschiedsmorgen schweigsam und tief bekümmert. Er konnte nur immer wieder sein Kind sanft streicheln – bald das Haar – bald die Schulter – bald den Arm – und unzählige Male »Mein altes Kind!« sagen.
Als der Wagen vor dem Tor hielt und Agnes zur Abfahrt mahnte, kniete Rosa bei ihrem Vater nieder, ihm noch einmal Lebewohl zu sagen. Er nahm das Gesicht, das ihn so liebend anlächelte, wie nur Rosa es konnte, in seine beiden zitternden Hände, hielt es und schaute es mit feuchten Augen an: »Du weißt«, sagte er, »du und ich, wir gehören zueinander.« – »Ja – Papa!« – »Natürlich, mein Kind, du – und ich.« Dann küsste er seine Tochter auf den Scheitel.
Als der Wagen fortrollte, weinte der alte Mann ungestört. Es sah ihn ja niemand. Frei ließ er die Tränen an den faltigen Wangen niederrinnen und schluchzte ganz laut. Möglich, dass ein alter Bürger der Stadt so nicht hätte weinen sollen. Lanin hätte es nicht getan, hätte das unwürdig genannt. Was hatte es aber dem armen Ballettänzer genützt, ein würdiger Bürger zu sein? Jetzt saß er einsam in seiner Stube und sehnte sich nach seinem Kinde. Da wollte er wenigstens so unbändig weinen, wie er es zuweilen damals tat, als er noch ein unwürdiger Ballettänzer war und Zerline ihn quälte.
Rosa und Agnes mussten den ganzen Tag über fahren und konnten erst mit der Dunkelheit in Tiglau eintreffen. Als sie durch die Stadt fuhren, steckte Agnes den Kopf zum Wagenfenster hinaus und murrte: »Aha! Da schaut die Sally Lanin zum Fenster hinaus. Die ist mir auch die Rechte! Da geht der flirrige Apotheker und guckt sich nach uns die Augen aus. Guck du nur, du Flidder! Dich brauchen wir nicht mehr.« Rosa mochte nichts sehen. Sie schloss die Augen und lehnte sich in den Wagen zurück. Das Bimbim der Pferdeglocke, das Rattern und Schütteln des Wagens gaben ihr den Trost, dass sie fortgetragen werde von Lanins, Klappekahl, dem Trödler – fort – fort. Erst als die Stadt hinter ihr lag, öffnete sie die Augen und blickte auf das flache, leicht mit Schnee überdeckte Land hinaus, und ihr ward ums Herz wie dem Schwimmer, dem es gelungen ist, sich durch eine schlammige Stelle hindurchzuarbeiten und der nun mit Wonne wieder ins klare Wasser kommt. Die weiße Ruhe ringsum tat dem Mädchen wohl, erregte in ihm das kindliche Hingezogenfühlen zur Natur, das unentwickelte Seelen erst empfinden, wenn sie elend sind. Rosa beneidete die Nebelkrähen, die breitbeinig auf den Feldern spazierengingen und nachdenklich mit den schwarzen Köpfen wackelten. Sie hüpften gleichgültig beruhigt herum, wie Kinder im Elternhause. Wenn der Wagen zu nah an ihnen vorüberfuhr, stießen sie ärgerlich knarrende Laute aus und flogen auf – fort – in den grauen Winterhimmel hinein, einem fernen Waldrande zu, wo sie ihren Platz hatten. »Ja, gut muss es tun, in dieser stillen, reinen Welt seinen Platz zu haben – hier zu Hause zu sein!« dachte Rosa.
An kleinen Landschänken hielt der Wagen, damit die Pferde sich verschnauften. Schmutzige Kinder standen auf den Treppenstufen, hüpften von einem Fuß auf den andern und sahen die Fremden neugierig an. Durch die Haustüre schlug der Rauch des Herdfeuers ins Freie hinaus, und durch die Fenster sah man in kleine, dunkle Stuben hinein. – Gegen Abend begann es zu schneien. Aber durch das krause Wirbeln der Flocken konnte Rosa doch auf den heller werdenden Horizont hinabschauen, ein zartgoldnes Band und ein Stück durchsichtig weißen Himmels. Gegen diese Helligkeit hoben sich ein spitzer Kirchturm und die gradlinigen Massen einiger Häuser dunkel ab. Lichter erwachten dort, trübrote Funken, auf das reine, blasse Himmelsgold gestreut.
»Ist das Tiglau?« fragte Rosa. Agnes fuhr aus dem Schlaf, in den sie versunken war, auf und meinte, freilich sei das Tiglau.
So hatte es sich Rosa gewünscht, verloren im weiten, dämmerigen Lande. Hier musste man Ruhe finden können.
Die ersten Häuser des Marktfleckens zeigten sich schon, ärmliche einstöckige Häuser. Durch die Fenster ohne Vorhänge sah man im Schein einer Petroleumlampe ungekämmte Kinderköpfe – Frauen in zerknitterten Baumwolljacken – nackte Säuglinge auf dem Arm. An den Bretterzäunen, die die Straße einfassten, warfen sich Buben mit Schneeballen, und wenn der Wagen an ihnen vorüberfuhr, hoben sie rote, erfrorene Gesichter zu ihm auf, lachten und pfiffen ihm nach. An den meisten Häusern befanden sich kleine Vorgärten, und dort, zwischen den beschneiten Büschen, standen Männer und sprachen zu dunklen Gestalten hinauf, die sich aus dem Fenster zu ihnen niederbeugten. Die ganze enge Gasse ward von frischem Kichern, von ausgelassenem Kreischen, von einem jugendlich lustigen Treiben belebt, das sich in der Dämmerung gehenließ.
Vor einem dunklen Hause mit spitzem Giebel hielt der Wagen. Die Haustür stand offen. »Hier – hier Kind«, sagte Agnes und führte Rosa durch den finstern Flur. »Ist denn niemand zu Hause? Hier muss die Türe zur Küche sein, das weiß ich noch. Richtig, da ist sie.« – Sie traten in einen dämmerigen Raum. Ein starker Geranium- und Zwiebelgeruch und ein heftiger Zugwind schlugen ihnen entgegen. Die beiden Fenster des Gemaches waren geöffnet, und in einem jeden derselben lag jemand, den Oberkörper hinausbeugend; man unterschied nur zwei faltige Mädchenröcke und vier unruhige Füße, die sich auf die Spitzen stellten. Ein gedämpftes Sprechen – Männer- und Frauenstimmen klangen herüber, zuweilen von einem hellaufprasselnden Gelächter unterbrochen.
»Das ist doch wirklich!« schalt Agnes. »Mädchen, hört ihr denn nicht?« Nein, die Mädchen hörten nicht; Agnes musste kräftig an einem der Röcke ziehen, da erst ward es still. Zwei Gestalten richteten sich mit leisen Schreckensrufen auf, und wie sie sich gegen den hellen Horizont abhoben, erschienen sie Rosa seltsam groß und breit.
»Was macht ihr denn?« zankte Agnes. »Wir stehen hier und rufen, aber niemand hört. Werdet ihr nicht die Fenster schließen, mein Fräulein wird sich erkälten.« Die Mädchen gehorchten, aber große Männerhände wurden von außen hereingestreckt und mussten erst zurückgeschoben werden.
»Du – Martha – bist die ältere«, kommandierte Agnes weiter, »stecke die Kerze an. Ist die Tante nicht daheim? Habt ihr uns heute gar nicht erwartet? Ich schrieb doch.«
Martha beugte sich tief auf das Streichholz nieder, mit dem sie das Licht anmachte, und erwiderte: Doch, die Tante hatte gewartet. Am Nachmittage aber hatte die Bäckerin nach ihr geschickt; sie musste gleich wieder da sein.
»So – so«, meinte Agnes besänftigt und half Rosa ihren Mantel ablegen: »Zieh dich hier aus, Kind, dann gehen wir ins Wohnzimmer hinüber. Gefroren hast du – was? Kommt, Mädchen, leuchtet uns. Ah, hier ist’s warm! Setz dich dort auf den Sessel, Kind, lege die Füße auf den Fußschemel. So! Wenn wir jetzt nur bald etwas Warmes für den Magen hätten. Was, darf man euch nicht ansehen?«
Die beiden Mädchen standen, von ihren Gästen abgewendet, in der dunkelsten Ecke des Zimmers; erst als Agnes sie anrief, kehrten sie Rosa große, lächelnde Gesichter zu mit roten Wangen, runden, hellgrauen Augen, breiten Lippen und sehr weißen Zähnen. Braune Zöpfe legten sich um die kugelrunden Köpfe, und die blauen Jacken waren fest über den hohen Busen geknöpft. Eine derbe Frische lag über diesen Mädchen, und Rosa musste auch lächeln, als sie in diese Gesichter schaute, die noch feucht von Schneeflocken waren.
»Das sind Mädchen, was?« rief Agnes begeistert aus. »Wie die Mannsleute, wie die Soldaten!«
Stramm und aufrecht standen sie da, als trügen sie statt der Jacken Kürasse, und ließen sich betrachten.
»Du bist Martha«, fuhr Agnes fort, »das sah ich schon im Finstern, denn du bist die Größere. Aber die Grethe ist auch hübsch in die Höhe gegangen. Ja – ja, aber wie man Gäste empfängt, habt ihr doch nicht erlernt; weiß es Gott! So geht doch, Feuer in der Küche anmachen, dass wir etwas Warmes bekommen, hurtig!«
Die Mädchen machten kehrt, dass die Röcke sausten, und liefen hinaus. Nebenan in der Küche hörte man sie mit schweren Schritten umhergehen, flüstern und kichern.
»Vom Lande eben!« entschuldigte Agnes und schaute sich im Zimmer um. »Recht fein hat sich die Schwester eingerichtet, diese Decken – diese Bilder! Nicht wahr?«
»Ja – sehr fein.«
Das blau tapezierte Zimmer war von Gegenständen überfüllt: Drei Kommoden, viele braun polierte Stühle mit rotem Überzug, ein Sofa, vier Lehnsessel, ein großer und zwei kleine Tische. Überall lagen weiße, aus Baumwolle geknüpfte Schutzdecken umher. Kleine Fotografien in schwarzen Rahmen hingen an den Wänden – die einen mit Wacholderzweigen, andere mit Papierblumen bekränzt. Endlich – in der Ecke am Fenster – stand ein Glasschrank, in dem sich allerhand fremdes, geheimnisvolles Gerät befand. Agnes lobte die Sessel und setzte sich auf einen derselben bequem zurecht. Der guten Seele tat es wohl, auch einmal Gast sein zu dürfen, und sie rieb sich die Hände, was sonst ihre Gewohnheit nicht war.
Plötzlich ward die Türe heftig aufgerissen, und eine tiefe, laute Frauenstimme rief atemlos aus dem Flur in das Wohnzimmer hinein: »Ich sagte es gleich, sobald ich fort bin, kommen sie. Aber diese Bäckerin, die gibt mir keine Ruh. Täglich muss sie mich holen lassen, für nichts und wieder nichts!«
Die kleine breite Frau Böhk stürmte ins Zimmer hinein, gehüllt in ein graues Umschlagtuch, weiße Pakete unter beiden Armen. Sie streckte Agnes ihr rotes, kühles Gesicht zum Kusse entgegen und sprach dabei weiter, immer noch in ihr Tuch gehüllt, die Pakete unter den Armen. »Guten Abend, Schwester! Wie gesagt, nur die Bäckerin ist schuld daran, dass ich nicht zu Hause war. Ich sage dir, diese Person bringt mich um. Eine Mutter von fünf Kindern, und doch jedesmal derselbe Tanz, sie kennt ihren Termin nicht. Lässt mich in einem fort holen, glaubt, sie stirbt schon. Ah, das ist dein Fräulein! Guten Abend, Fräulein! Wir wollen uns schon miteinander vertragen.«
Frau Böhk hatte viel Ähnlichkeit mit Agnes, nur war sie eine sehr blühende, in die Breite gegangene Agnes. Die Schwestern hatten gleich graue Augen, aber die der Hebamme waren runder, traten mehr hervor und rollten unternehmender. Das ganze Gesicht hatte ein jüngeres, gesünderes Aussehen und glänzte, wie von Firnis überzogen. Sie entledigte sich endlich ihres Tuches und ihrer Pakete, sprach immerzu und belebte das Gemach mit ihren runden, hastigen Bewegungen, und als noch die Mädchen hereinkamen und, von der Tante gescholten, hin und her schossen, da ward das Treiben so bunt und lebhaft, dass es Rosa schwindelte.
»Wo sind die Jungen?« fragte Frau Böhk.
»Hans ist in seinem Zimmer und schläft«, berichtete Martha. »Der Onkel ist ausgegangen.«
»Was der auch nie zu Hause bleiben kann.«
»Vielleicht eine Bestellung«, meinte Grethe, musste aber schnell zur Türe hinaus, weil ein zu wildes Lachen in ihr auf stieg.
»Bestellung!« sagte Frau Böhk verächtlich. »Wenn die Grethe doch einmal etwas Vernünftiges sagen würde! Gleichviel! Mit dem Essen wird nicht gewartet!«
Als die Familie sich um die Kalbsleber mit Erdäpfeln geschart hatte, ward Frau Böhk ruhiger, und ihre Nichten machten sich mit Ernst über das Essen her. Die roten, blanken Gesichter auf die Teller herabgebeugt, die Arme weit auf den Tisch geschoben, bewegten sie bedächtig die Kinnbacken. Vor der Hausfrau stand ein Bierkrug, aus dem sie sich ein Glas nach dem andern vollschenkte. »Ja. Fräulein«, wandte sie sich an Rosa, »bei meiner Arbeit muss ich Bier trinken, denn ich brauche Kraft, viel Kraft. Ordentlich ringen muss ich mit manchen Frauen. Wenn Sie meinen Arm sehen würden, blau ist er, und hier oben – die Narbe muss noch da sein –, später, wenn ich mich auskleide, werde ich sie Ihnen zeigen – hier hat mich die Jenny Walter gebissen – du weißt, Agnes, die Tochter von dem Schmied Walter, sie hatte das Kind von dem Karl Martis, der als Soldat fortmusste. Die arme Jenny also biss mich in den Arm – aber fest, wissen Sie, wie die Martha jetzt in den Erdapfel beißt.«
Die Mädchen räumten das Gerät ab. »Dem Hans«, befahl Frau Böhk, »tragt das Essen hinauf. Des Fräuleins wegen wird er nicht herabkommen wollen.« Und nun setzte sie sich bequem zurecht, nestelte sich die Jacke auf, schenkte ein Bier ein und plauderte.
Ach, Rosa wusste es gewiss nicht, was für eine geplagte Person Frau Böhk war, wie sollte sie auch! Die Fräuleins in der Stadt dürfen ja von solch einer Person gar nicht sprechen; das wusste Frau Böhk wohl. Aber wenn man Frau Böhk nötig hatte, dann war sie nicht mehr unanständig. Sie lachte ein lautes, fettes Lachen, das ihr die Tränen in die Augen trieb. Ach was, ihr war’s gleich, ob man in der Stadt von ihr sprechen durfte oder nicht. Was sie von einem jeden vernünftigen Frauenzimmer verlangte, war, dass es sich im großen Augenblick benahm, wie es sich gehört.
Die Mädchen setzten sich mit ihrer Näherei auch an den Tisch, die Köpfe so tief in die Arbeit niederbeugend, dass man nur das braune Haar und die weißen Scheitel sah. Zuweilen jedoch, während die Tante ihren Vortrag hielt über das richtige Verhalten einer Frau in der schweren Stunde, zuweilen hoben Martha und Grethe die Köpfe, sahen sich an und drückten die Leinwand, an der sie nähten, gegen die Lippen, um das Lachen zu dämpfen.
Rosa war müde und schläfrig, ein süßes Behagen breitete sich über sie unter diesen derben, gesunden Menschen, die nach Wolle und frischer Winterluft rochen. Sie fühlte sich unter ihnen sicher geborgen, und das Leben erschien ihr wieder wie ein einfaches, selbstverständliches Ding, das man ruhig hinnimmt und trägt, bis es einem wieder genommen wird. Nichts weiter.
Frau Böhk wünschte Rosa eine sehr gute Nacht; sie umschlang sie mit beiden Armen und sagte warm: »Schlafen Sie recht süß, liebes Kind, und lassen Sie sich etwas Gutes träumen. Sie wissen das doch, in unserem Fall muss man von Vögeln oder Hunden träumen; besonders Hunde sind gut.«
Rosas Zimmer war ein enges Giebelstübchen, das nach frischem Kalk roch. Ein Bett, ein kleines schwarzes Sofa, ein Tisch und Stühle standen darin, an dem Fenster hingen weiße Vorhänge, und ein verkümmerter Rosenstock schmückte das Fensterbrett. Rosa schob die Vorhänge zurück und schaute hinaus. Die Nacht war hell. Im Sternschein schliefen die niedrigen Häuser unter ihrer Schneedecke. Mitten auf der Straße stand der Nachtwächter mit seiner spitzen Kapuze, seiner Laterne und schnarrte – brrr, brrr – eine meckernde, eintönige Weise, wie das Lied einer alten Kindsfrau, die schläfrig an den weißen Kinderbetten sitzt.
»Morgen«, sagte Agnes, »bleibe ich noch bei dir. Dir wird bange sein unter den fremden Leuten.«
»Nein!« erwiderte Rosa. »Fahr nur. Der Vater blieb so allein zurück, und mir – mir, glaube ich, wird nicht bange sein.« –
Bei Agnes’ Abreise weinte Rosa doch. Die Tränen und Segenswünsche der alten Frau bewegten ihr das Herz. Nun saß sie unten im Wohnzimmer und fühlte sich verlassen. Frau Böhk machte einen Geschäftsgang. Die Mädchen wuschen nebenan den Fußboden der Küche, ihr Lachen und das Klatschen der nassen Tücher tönten zu Rosa herüber. Draußen schmolz der helle Sonnenschein den Schnee und hing stark leuchtende Tropfen an die Dächer. Im Hof flimmerten die Wasserlachen. Stroh, Dünger, grau gewordener Schnee lagen dort. Einige Hühner schüttelten ihre nassen Federn und gingen langsam auf und ab. Durch die offene Stalltüre sah man die braunen Hinterfüße und ein Stück des blanken Rückens einer Kuh, während auf der anderen Seite ein Schwein vergeblich seinen Rüssel durch die Stäbe des Verschlages zu zwängen versuchte. Und zwischen dem Stall und dem Speicher konnte Rosa auf das Land hinaussehen. Ein fernes Birkenwäldchen war die einzige Unterbrechung der einförmigen Weise. Die zarten Stämme standen auf dem Schnee wie dünne Striche auf einem Bogen Papier.
Plötzlich ward die Türe aufgerissen, und Martha erschien. Sie trug nur ein Hemd und ein kurzes Röckchen. Füße und Beine waren nackt, die Ärmel des Hemdes bis über die Ellenbogen aufgestreift, das Gesicht rot und lachend. In der rechten Hand trug sie einen Wassereimer, während sie den linken Arm gerade von sich streckte, um das Gleichgewicht zu halten. Lustig stampften die nackten Füße durch die Pfützen. Im Vorübergehen stieß Martha wie ein übermütiger Bube mit dem Fuß gegen den Rüssel des Schweines und schob die Kuh, die ihr den Weg verstellte, kräftig mit den Armen zur Seite.
Rosa, die trübselig vor sich hingeträumt hatte, fühlte ihr Herz vor diesem lebenstrotzenden, halbnackten Mädchen warm werden. Gern wäre auch sie lachend und sorglos in den Tag hinausgelaufen. Sie begann Martha mit jener neidischen Liebe zu lieben, mit der sich oft ein krankes, unglückliches Kind an ein schönes, glückliches zu hängen pflegt.
Rosa ging in die Küche hinaus; sie wollte mit Martha und Grethe jung und lustig sein. Die Mädchen knieten in der Küche und rieben die Fliesen, Schweißtropfen auf der Stirn, die Haare wirr über den Rücken niederfallend. Sie blickten auf, als Rosa eintrat, senkten aber sogleich die Köpfe und kicherten.
»Ich wollte sehen, was Sie tun«, sagte Rosa befangen. »Es muss lustig sein, so zu waschen, nicht?« Die Mädchen lachten.
»Ich würde Ihnen gern helfen«, fuhr Rosa fort. Eine wilde Lust ergriff sie, sich auszukleiden, auf den Boden niederzuwerfen und mit den Mädchen zu arbeiten. »Das kann das Fräulein wohl nicht«, meinte Martha und zwang sich, ernst auszusehen. »Warum?« fragte Rosa zögernd; dann schwieg sie. Eifrig arbeiteten die Mädchen fort, warfen sich flüchtige Blicke zu und bissen sich auf die Lippen. – »Sie machen’s wie wir, wenn Fräulein Schank da war«, dachte Rosa und ging seufzend in das Wohnzimmer zurück. Sie war es nicht gewohnt, als strenges Fräulein behandelt zu werden, vor dem man sich schämt und über das man hintennach lacht. Sie hätte lieber mitgescheuert und mitgelacht. Niedergeschlagen setzte sie sich an das Fenster und fühlte sich alt. Ja! Martha und Grethe waren die glücklichen Kinder, die sich in der Dämmerstunde ihre Liebsten ans Fenster bestellten und vom Leben alles Schöne erwarteten. Sie aber war das arme Fräulein, das Unglück gehabt hatte. Sie gehörte nicht mehr zur frohen Gilde der Jungen, die über die älteren Leute und deren Erfahrungen spotten. – Sie wollte in ihr Zimmer hinaufgehen und die Hemdchen und Jäckchen nähen, die Agnes ihr zugeschnitten hatte. Das war die einzig passende Beschäftigung für ein armes Fräulein, das Unglück gehabt hat. Als sie sich der Türe zuwandte, sah sie einen Herrn mitten im Zimmer stehen. Er rieb sich die Hände, die Ellenbogen fest an den Leib gedrückt, und lächelte. In seinem knochigen, braunen Gesicht saßen zwei blanke Augen. Der Bart um Lippen und Kinn sowie das stark gelockte, spärliche Haupthaar waren tiefschwarz, und die kleine schmächtige Gestalt im abgetragenen braunen Sommeranzug verkroch sich linkisch in sich selbst.
»Ich wollte Sie bitten, Fräulein«, begann er mit einer dünnen, hohen Stimme, »mich zu entschuldigen, weil ich Sie gestern nicht empfangen konnte. Ich machte gerade einen Geschäftsgang. Ich bin nämlich der Hausherr. Bitte, nehmen Sie doch Platz, Fräulein.« Seine Hand wollte mit einer edeln Bewegung auf einen Stuhl deuten, besann sich jedoch unterwegs und fuhr unbeholfen in die Hosentasche. »Oder wollten Sie fortgehen?«
»O nein!« erwiderte Rosa. »Ich habe ja nichts zu tun.« Sie setzte sich und machte ein Gesicht wie ein sehr junges Mädchen, das ernsthafte Konversation machen soll. Herr Böhk rückte einen Stuhl heran, lächelte, leckte sich die Lippen. »Das kann ich mir denken«, sagte er, »solch ein Fräulein braucht nichts zu arbeiten, das weiß ich auch. Ja – wie gesagt, es ist mir sehr unangenehm, dass ich gestern nicht hier war – sehr unangenehm.«
»Aber da Sie Geschäfte hatten«, wandte Rosa ein.
»Ach was! Ich hätte es sein lassen sollen. Es war unhöflich von mir. Gewiss! Ich weiß auch, was sich schickt. Hat die Al… meine Frau Sie wenigstens gut aufgenommen?«
»Ja – sehr gut.«
»So – so.« Herr Böhk zwirbelte bedächtig seinen Bart. »Ja, auf die Wirtschaft versteht sie sich recht gut. Ich überlasse ihr auch ganz die Wirtschaft. Wir Männer haben keine Zeit dazu, wissen Sie, Fräulein.«
»Natürlich.«
»Ja! – Na – aber doch schwere Zeiten!«
»Wirklich?« fragte Rosa erstaunt.
»Ja«, meinte Herr Böhk, »wenig zu tun! Ich bitte Sie, Fräulein, in einem Nest wie Tiglau, was soll da ein Uhrmacher zu tun haben? Lächerlich! Ich habe das anders gekannt.«
»Sie waren früher in einer größeren Stadt?«
»Einer?« – Er lachte: »In vielen – in allen Städten fast. Gott, wo bin ich nicht alles gewesen! Dort überall herum.« Er wies mit dem Daumen über Stall und Speicher hinaus. »Studieren wollte ich auch – auf der Universität, wissen Sie.«
»So?«
»Ja, ja; das Kurieren wollte ich lernen.«
»Arzt wollten Sie werden?«
»Ja – für das Vieh – wissen Sie. Wie das nun heißt. Aber es wurde nichts daraus; und bei mir, sehen Sie, Fräulein, war auch die Liebe an allem schuld. Meiner Seel! Ich hatte da eine Flamme – nicht meine jetzige Frau, nein – das war ein schönes und feines Mädchen; Petronella hieß sie. Da sieht man schon; gleichviel, was für eine heißt nicht Petronella, nicht wahr? Sie zog fort und ich ihr nach, wie das schon so geht. Mit dem Viehdoktor wurde es aber nichts. Übrigens, meine jetzige Alte ist auch brav. Ein wenig vorschnell, aber tüchtig. Sie werden ja sehen. Wenn Sie einmal mit der Verpflegung nicht zufrieden sind, sagen Sie’s nur mir, ich werde schon Ordnung schaffen.« Er beugte den Kopf herab, und während er nachdachte, wie er die Unterhaltung fortsetzen sollte, wiederholte er langsam: »Mit dem Viehdoktor war’s nichts.« Dann blickte er schnell auf. Vielleicht verachtete ihn Rosa deshalb? Sie hatte so etwas wie ein Lächeln auf den Lippen und um die Augen. »Später hab ich noch vieles gelernt«, sagte er. »Die Uhrmacherei ist nicht leicht, wissen Sie, Fräulein. – Ich spiele auch die Geige. Hören Sie gern die Geige?«
»Ja – sehr!«
»Oh, dann spiele ich Ihnen etwas vor. Meine Alte ist fortgegangen. Nicht, als ob die Alte Musik nicht mag. Aber sie will, dass, wenn sie heimkommt, das Feuer im Ofen angemacht ist. Dazu kam ich herein; es hat jedoch keine Eile.« Seine spitzen Backenknochen wurden rot, und in der hastigen Beweglichkeit, mit der er einen Violinkasten unter dem Sofa hervorzog, lag eine knabenhafte Ausgelassenheit, die Rosa lachen machte. »Sie verstehen nicht die Geige zu streichen?« fragte er, während er das Instrument auspackte.
»Es ist auch nicht so leicht, wie es aussieht.« Er setzte sich auf seinem Stuhl zurecht, streckte das rechte Bein von sich, stemmte die Geige unter das Kinn und stimmte sie. »Sehen Sie, ich habe mit der Musik schon als Kind angefangen, da geht es schon. Was wünschen Sie? Etwas Süßes, das lieben die Fräuleins.« Er wurde ernst, drückte die Augenlider zusammen und spitzte den Mund; ab und zu nur warf er blanke, verhimmelte Blicke auf Rosa. Er spielte eine verschollene zärtliche Melodie; ein gleichmäßiges Auf- und Niedersteigen der Töne, ein regelmäßig wiederkehrender langgezogener Aufschrei als Refrain, bei dem Herr Böhk jedesmal leidenschaftlich die Schultern hob. Draußen in der Küche begannen die Mädchen zu singen, vereinigten ihre herben Stimmen mit dem abgestandenen näselnden Ton der alten Geige. Die Worte des Liedes verstand Rosa nicht, nur bei dem gefühlvollen Aufschluchzen der Schlusstakte klang es herüber wie: »Sie hat sich verliebt in ein’ andern – ein’ andern – ein’ andern.« – – –
Rosa hörte zu und wiegte sachte ihren Kopf. Auf ihr Herz war so viel eingestürmt, dass es seltsam reizbar und empfindsam geworden war. Ein zärtliches Wort, ein klagender Ton beregten es schon fast schmerzhaft. Auch jetzt standen ihre Augen voller Tränen. Herr Böhk sah das und ließ die Geige sinken: »Sie dürfen nicht weinen, Fräulein!«
»Ich weine nicht«, antwortete Rosa, wandte ihr Gesicht ab und lächelte: »Bitte – spielen Sie weiter.«
»Doch – Sie haben geweint«, behauptete Herr Böhk und drohte mit dem Violinbogen. »Aber wissen Sie, Fräulein, mir geht es oft auch so. Bei diesem Liede kommen mir die Tränen, das macht eben die Musik. Dieses Lied sang früher eine Minna, die ich kannte; ach, eine seltene Minna. Jetzt spiel ich Ihnen etwas Lustigeres vor. Nicht wahr?« Er spielte nun eine hüpfende, kreischende Weise; Martha und Grethe fielen jubelnd ein, und Herr Böhk konnte sich nicht enthalten, mitzusingen:
»Was hilft mir das Grasen,
Wenn die Sichel nicht schneidt;
Was hilft mir mein Schätzchen,
Wenn’s bei mir nicht bleibt.«
Frau Böhk war unbemerkt in das Zimmer getreten, stand, in ihr graues Umschlagtuch gehüllt, weiße Pakete unter den Armen, da und schöpfte tief Atem. »Was ist denn heute für ein Feiertag?« brach sie plötzlich los. In der Küche wurde es mäuschenstill. Herr Böhk errötete, stellte die Geige an die Wand und schob sich, ein gezwungenes Lächeln auf den Lippen, zum Ofen hin. Ohne ihren Mann anzusehen, warf die Hebamme ihre Pakete auf einen Stuhl und wandte Rosa ihr erhitztes, glänzendes Gesicht zu – den Mund ein wenig in die Breite ziehend, um freundlich auszusehen: »Was machen denn Sie, liebes Fräulein? Die da haben Ihnen einen Heidenlärm vorgemacht. Nein – nein, sagen Sie nichts, unten auf der Gasse hab ich’s gehört. Gott, bin ich müde!«
Herr Böhk kauerte vor dem Ofen und füllte ihn mit Holzscheiten, den Kopf fast in das Ofenloch steckend. »So«, begann Frau Böhk wieder, nachdem sie eine Weile still zugesehen hatte, »also nicht einmal einheizen konntest du? Du musstest Konzerte geben. Und wenn das fremde Fräulein sich verkühlt, wessen Schuld wird es dann sein? Wirst du die Vorwürfe zu hören bekommen? Was? Nicht eine Minute kann man fort sein, ohne dass die Kinder was angeben!«