Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

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Ag­nes hat­te ihr an je­nem Mor­gen, sehr er­schro­cken, sehr er­regt, aber klar und bar ge­sagt: »Lie­bes Kind, mit dir steht es so und so.« Gut, es war ent­setz­lich! Den­noch hät­te Rosa gern mehr dar­über er­fah­ren. End­lich – ei­nes mor­gens – trat sie, tief er­rö­tend, zu Ag­nes in die Kü­che, schloss die Türe hin­ter sich und ver­an­lass­te ein lan­ges, halb­laut ge­führ­tes Ge­spräch, das ihr vie­les klar­mach­te.

Wun­der­bar blieb es im­mer­hin!

Stun­den­lang saß sie in ih­rer Kam­mer, sah den röt­li­chen Zwei­gen der Kas­ta­nie zu, wie sie sich sach­te auf dem Hin­ter­grun­de des hart­blau­en Him­mels hin und her wieg­ten, und dach­te nach: Also – ganz ein­fach – einen Men­schen soll­te sie zur Welt brin­gen, ein We­sen wie sie selbst, wie jene dort un­ten, de­ren Schrit­te zu ihr her­auf­tön­ten; nur dass die­ses We­sen ihr ge­hö­ren wür­de – ganz ihr, nicht wahr? So gut wie ihre Steck­na­deln und ihr Fin­ger­hut? Selt­sam! Und die­ses Ei­gen­tum wird es­sen und trin­ken und lie­ben und un­glück­lich sein wie sie – wie Am­bro­si­us –? Nein – schlecht und un­glück­lich soll­te es nicht wer­den! Es? – Was? – Wer war das? Ro­sas ar­mes Mäd­chen­hirn stand rat­los vor den großen Fra­gen des Le­bens. Sie schau­er­te in sich zu­sam­men. Sie fürch­te­te sich vor sich selbst! Ge­s­pens­tisch er­schi­en ihr der ei­ge­ne Kör­per, in dem so wun­der­ba­re Din­ge vor sich ge­hen soll­ten – er­schi­en ihr das ei­ge­ne Herz, das plötz­lich et­was zu ver­tei­di­gen und zu lie­ben be­gann, was gar nicht da war – was nie­mand kann­te. Nein, zu be­grei­fen war es nicht! – Sie ließ ih­ren Kopf auf das Fens­ter­brett sin­ken und wein­te.

Aber in dem tie­fen Schmerz, der sie laut und lan­ge schluch­zen ließ, war et­was – kaum ge­ahnt und doch emp­fun­den – et­was wie Trost, et­was, zu dem ihr ver­armt und ver­ödet Le­ben hin­streb­te; et­was Rei­nes, Schö­nes, das ihr viel­leicht wer­den konn­te. So un­ver­stan­den die­ses Ge­fühl auch war, den­noch ließ es Ro­sas Trä­nen sanf­ter rin­nen.

Drittes Buch – Tiglau

Erstes Kapitel

An ei­nem trü­ben Mor­gen – Ende Ja­nu­ar – trat Rosa ihre Rei­se nach Ti­glau an. Ag­nes soll­te sie be­glei­ten, al­les dort ein­rich­ten und wie­der zu­rück­kom­men.

Herr Herz war an die­sem Ab­schieds­mor­gen schweig­sam und tief be­küm­mert. Er konn­te nur im­mer wie­der sein Kind sanft strei­cheln – bald das Haar – bald die Schul­ter – bald den Arm – und un­zäh­li­ge Male »Mein al­tes Kind!« sa­gen.

Als der Wa­gen vor dem Tor hielt und Ag­nes zur Ab­fahrt mahn­te, knie­te Rosa bei ih­rem Va­ter nie­der, ihm noch ein­mal Le­be­wohl zu sa­gen. Er nahm das Ge­sicht, das ihn so lie­bend an­lä­chel­te, wie nur Rosa es konn­te, in sei­ne bei­den zit­tern­den Hän­de, hielt es und schau­te es mit feuch­ten Au­gen an: »Du weißt«, sag­te er, »du und ich, wir ge­hö­ren zu­ein­an­der.« – »Ja – Papa!« – »Na­tür­lich, mein Kind, du – und ich.« Dann küss­te er sei­ne Toch­ter auf den Schei­tel.

Als der Wa­gen fort­roll­te, wein­te der alte Mann un­ge­stört. Es sah ihn ja nie­mand. Frei ließ er die Trä­nen an den fal­ti­gen Wan­gen nie­der­rin­nen und schluchz­te ganz laut. Mög­lich, dass ein al­ter Bür­ger der Stadt so nicht hät­te wei­nen sol­len. La­nin hät­te es nicht ge­tan, hät­te das un­wür­dig ge­nannt. Was hat­te es aber dem ar­men Bal­let­tän­zer genützt, ein wür­di­ger Bür­ger zu sein? Jetzt saß er ein­sam in sei­ner Stu­be und sehn­te sich nach sei­nem Kin­de. Da woll­te er we­nigs­tens so un­bän­dig wei­nen, wie er es zu­wei­len da­mals tat, als er noch ein un­wür­di­ger Bal­let­tän­zer war und Zer­li­ne ihn quäl­te.

Rosa und Ag­nes muss­ten den gan­zen Tag über fah­ren und konn­ten erst mit der Dun­kel­heit in Ti­glau ein­tref­fen. Als sie durch die Stadt fuh­ren, steck­te Ag­nes den Kopf zum Wa­gen­fens­ter hin­aus und murr­te: »Aha! Da schaut die Sal­ly La­nin zum Fens­ter hin­aus. Die ist mir auch die Rech­te! Da geht der flir­ri­ge Apo­the­ker und guckt sich nach uns die Au­gen aus. Guck du nur, du Flid­der! Dich brau­chen wir nicht mehr.« Rosa moch­te nichts se­hen. Sie schloss die Au­gen und lehn­te sich in den Wa­gen zu­rück. Das Bim­bim der Pfer­deglo­cke, das Rat­tern und Schüt­teln des Wa­gens ga­ben ihr den Trost, dass sie fort­ge­tra­gen wer­de von Lan­ins, Klappe­kahl, dem Tröd­ler – fort – fort. Erst als die Stadt hin­ter ihr lag, öff­ne­te sie die Au­gen und blick­te auf das fla­che, leicht mit Schnee über­deck­te Land hin­aus, und ihr ward ums Herz wie dem Schwim­mer, dem es ge­lun­gen ist, sich durch eine schlam­mi­ge Stel­le hin­durch­zu­ar­bei­ten und der nun mit Won­ne wie­der ins kla­re Was­ser kommt. Die wei­ße Ruhe rings­um tat dem Mäd­chen wohl, er­reg­te in ihm das kind­li­che Hin­ge­zo­gen­füh­len zur Na­tur, das un­ent­wi­ckel­te See­len erst emp­fin­den, wenn sie elend sind. Rosa be­nei­de­te die Ne­bel­krä­hen, die breit­bei­nig auf den Fel­dern spa­zie­ren­gin­gen und nach­denk­lich mit den schwar­zen Köp­fen wa­ckel­ten. Sie hüpf­ten gleich­gül­tig be­ru­higt her­um, wie Kin­der im El­tern­hau­se. Wenn der Wa­gen zu nah an ih­nen vor­über­fuhr, stie­ßen sie är­ger­lich knar­ren­de Lau­te aus und flo­gen auf – fort – in den grau­en Win­ter­him­mel hin­ein, ei­nem fer­nen Wald­ran­de zu, wo sie ih­ren Platz hat­ten. »Ja, gut muss es tun, in die­ser stil­len, rei­nen Welt sei­nen Platz zu ha­ben – hier zu Hau­se zu sein!« dach­te Rosa.

An klei­nen Land­schän­ken hielt der Wa­gen, da­mit die Pfer­de sich ver­schnauf­ten. Schmut­zi­ge Kin­der stan­den auf den Trep­pen­stu­fen, hüpf­ten von ei­nem Fuß auf den an­dern und sa­hen die Frem­den neu­gie­rig an. Durch die Hau­stü­re schlug der Rauch des Herd­feu­ers ins Freie hin­aus, und durch die Fens­ter sah man in klei­ne, dunkle Stu­ben hin­ein. – Ge­gen Abend be­gann es zu schnei­en. Aber durch das krau­se Wir­beln der Flo­cken konn­te Rosa doch auf den hel­ler wer­den­den Ho­ri­zont hin­ab­schau­en, ein zart­gold­nes Band und ein Stück durch­sich­tig wei­ßen Him­mels. Ge­gen die­se Hel­lig­keit ho­ben sich ein spit­zer Kirch­turm und die grad­li­ni­gen Mas­sen ei­ni­ger Häu­ser dun­kel ab. Lich­ter er­wach­ten dort, trü­b­ro­te Fun­ken, auf das rei­ne, blas­se Him­mels­gold ge­streut.

»Ist das Ti­glau?« frag­te Rosa. Ag­nes fuhr aus dem Schlaf, in den sie ver­sun­ken war, auf und mein­te, frei­lich sei das Ti­glau.

So hat­te es sich Rosa ge­wünscht, ver­lo­ren im wei­ten, däm­me­ri­gen Lan­de. Hier muss­te man Ruhe fin­den kön­nen.

Die ers­ten Häu­ser des Markt­fle­ckens zeig­ten sich schon, ärm­li­che ein­stö­cki­ge Häu­ser. Durch die Fens­ter ohne Vor­hän­ge sah man im Schein ei­ner Pe­tro­le­um­lam­pe un­ge­kämm­te Kin­der­köp­fe – Frau­en in zer­knit­ter­ten Baum­woll­ja­cken – nack­te Säug­lin­ge auf dem Arm. An den Bret­ter­zäu­nen, die die Stra­ße ein­fass­ten, war­fen sich Bu­ben mit Schnee­bal­len, und wenn der Wa­gen an ih­nen vor­über­fuhr, ho­ben sie rote, er­fro­re­ne Ge­sich­ter zu ihm auf, lach­ten und pfif­fen ihm nach. An den meis­ten Häu­sern be­fan­den sich klei­ne Vor­gär­ten, und dort, zwi­schen den be­schnei­ten Bü­schen, stan­den Män­ner und spra­chen zu dunklen Ge­stal­ten hin­auf, die sich aus dem Fens­ter zu ih­nen nie­der­beug­ten. Die gan­ze enge Gas­se ward von fri­schem Ki­chern, von aus­ge­las­se­nem Krei­schen, von ei­nem ju­gend­lich lus­ti­gen Trei­ben be­lebt, das sich in der Däm­me­rung ge­hen­ließ.

Vor ei­nem dunklen Hau­se mit spit­zem Gie­bel hielt der Wa­gen. Die Haus­tür stand of­fen. »Hier – hier Kind«, sag­te Ag­nes und führ­te Rosa durch den fins­tern Flur. »Ist denn nie­mand zu Hau­se? Hier muss die Türe zur Kü­che sein, das weiß ich noch. Rich­tig, da ist sie.« – Sie tra­ten in einen däm­me­ri­gen Raum. Ein star­ker Gera­ni­um- und Zwie­bel­ge­ruch und ein hef­ti­ger Zug­wind schlu­gen ih­nen ent­ge­gen. Die bei­den Fens­ter des Ge­ma­ches wa­ren ge­öff­net, und in ei­nem je­den der­sel­ben lag je­mand, den Ober­kör­per hin­aus­beu­gend; man un­ter­schied nur zwei fal­ti­ge Mäd­chen­rö­cke und vier un­ru­hi­ge Füße, die sich auf die Spit­zen stell­ten. Ein ge­dämpf­tes Spre­chen – Män­ner- und Frau­en­stim­men klan­gen her­über, zu­wei­len von ei­nem hellauf­pras­seln­den Ge­läch­ter un­ter­bro­chen.

»Das ist doch wirk­lich!« schalt Ag­nes. »Mäd­chen, hört ihr denn nicht?« Nein, die Mäd­chen hör­ten nicht; Ag­nes muss­te kräf­tig an ei­nem der Rö­cke zie­hen, da erst ward es still. Zwei Ge­stal­ten rich­te­ten sich mit lei­sen Schre­ckens­ru­fen auf, und wie sie sich ge­gen den hel­len Ho­ri­zont ab­ho­ben, er­schie­nen sie Rosa selt­sam groß und breit.

»Was macht ihr denn?« zank­te Ag­nes. »Wir ste­hen hier und ru­fen, aber nie­mand hört. Wer­det ihr nicht die Fens­ter schlie­ßen, mein Fräu­lein wird sich er­käl­ten.« Die Mäd­chen ge­horch­ten, aber große Män­ner­hän­de wur­den von au­ßen her­ein­ge­streckt und muss­ten erst zu­rück­ge­scho­ben wer­den.

»Du – Mar­tha – bist die äl­te­re«, kom­man­dier­te Ag­nes wei­ter, »ste­cke die Ker­ze an. Ist die Tan­te nicht da­heim? Habt ihr uns heu­te gar nicht er­war­tet? Ich schrieb doch.«

Mar­tha beug­te sich tief auf das Streich­holz nie­der, mit dem sie das Licht an­ma­ch­te, und er­wi­der­te: Doch, die Tan­te hat­te ge­war­tet. Am Nach­mit­tage aber hat­te die Bäcke­rin nach ihr ge­schickt; sie muss­te gleich wie­der da sein.

»So – so«, mein­te Ag­nes be­sänf­tigt und half Rosa ih­ren Man­tel ab­le­gen: »Zieh dich hier aus, Kind, dann ge­hen wir ins Wohn­zim­mer hin­über. Ge­fro­ren hast du – was? Kommt, Mäd­chen, leuch­tet uns. Ah, hier ist’s warm! Setz dich dort auf den Ses­sel, Kind, lege die Füße auf den Fuß­sche­mel. So! Wenn wir jetzt nur bald et­was War­mes für den Ma­gen hät­ten. Was, darf man euch nicht an­se­hen?«

Die bei­den Mäd­chen stan­den, von ih­ren Gäs­ten ab­ge­wen­det, in der dun­kels­ten Ecke des Zim­mers; erst als Ag­nes sie an­rief, kehr­ten sie Rosa große, lä­cheln­de Ge­sich­ter zu mit ro­ten Wan­gen, run­den, hell­grau­en Au­gen, brei­ten Lip­pen und sehr wei­ßen Zäh­nen. Brau­ne Zöp­fe leg­ten sich um die ku­gel­run­den Köp­fe, und die blau­en Ja­cken wa­ren fest über den ho­hen Bu­sen ge­knöpft. Eine der­be Fri­sche lag über die­sen Mäd­chen, und Rosa muss­te auch lä­cheln, als sie in die­se Ge­sich­ter schau­te, die noch feucht von Schnee­flo­cken wa­ren.

 

»Das sind Mäd­chen, was?« rief Ag­nes be­geis­tert aus. »Wie die Manns­leu­te, wie die Sol­da­ten!«

Stramm und auf­recht stan­den sie da, als trü­gen sie statt der Ja­cken Küras­se, und lie­ßen sich be­trach­ten.

»Du bist Mar­tha«, fuhr Ag­nes fort, »das sah ich schon im Fins­tern, denn du bist die Grö­ße­re. Aber die Gre­the ist auch hübsch in die Höhe ge­gan­gen. Ja – ja, aber wie man Gäs­te emp­fängt, habt ihr doch nicht er­lernt; weiß es Gott! So geht doch, Feu­er in der Kü­che an­ma­chen, dass wir et­was War­mes be­kom­men, hur­tig!«

Die Mäd­chen mach­ten kehrt, dass die Rö­cke saus­ten, und lie­fen hin­aus. Ne­ben­an in der Kü­che hör­te man sie mit schwe­ren Schrit­ten um­her­ge­hen, flüs­tern und ki­chern.

»Vom Lan­de eben!« ent­schul­dig­te Ag­nes und schau­te sich im Zim­mer um. »Recht fein hat sich die Schwes­ter ein­ge­rich­tet, die­se De­cken – die­se Bil­der! Nicht wahr?«

»Ja – sehr fein.«

Das blau ta­pe­zier­te Zim­mer war von Ge­gen­stän­den über­füllt: Drei Kom­mo­den, vie­le braun po­lier­te Stüh­le mit ro­tem Über­zug, ein Sofa, vier Lehn­ses­sel, ein großer und zwei klei­ne Ti­sche. Über­all la­gen wei­ße, aus Baum­wol­le ge­knüpf­te Schutz­de­cken um­her. Klei­ne Fo­to­gra­fi­en in schwar­zen Rah­men hin­gen an den Wän­den – die einen mit Wa­chol­derzwei­gen, an­de­re mit Pa­pier­blu­men be­kränzt. End­lich – in der Ecke am Fens­ter – stand ein Glas­schrank, in dem sich al­ler­hand frem­des, ge­heim­nis­vol­les Gerät be­fand. Ag­nes lob­te die Ses­sel und setz­te sich auf einen der­sel­ben be­quem zu­recht. Der gu­ten See­le tat es wohl, auch ein­mal Gast sein zu dür­fen, und sie rieb sich die Hän­de, was sonst ihre Ge­wohn­heit nicht war.

Plötz­lich ward die Türe hef­tig auf­ge­ris­sen, und eine tie­fe, lau­te Frau­en­stim­me rief atem­los aus dem Flur in das Wohn­zim­mer hin­ein: »Ich sag­te es gleich, so­bald ich fort bin, kom­men sie. Aber die­se Bäcke­rin, die gibt mir kei­ne Ruh. Täg­lich muss sie mich ho­len las­sen, für nichts und wie­der nichts!«

Die klei­ne brei­te Frau Böhk stürm­te ins Zim­mer hin­ein, gehüllt in ein grau­es Um­schlag­tuch, wei­ße Pa­ke­te un­ter bei­den Ar­men. Sie streck­te Ag­nes ihr ro­tes, küh­les Ge­sicht zum Kus­se ent­ge­gen und sprach da­bei wei­ter, im­mer noch in ihr Tuch gehüllt, die Pa­ke­te un­ter den Ar­men. »Gu­ten Abend, Schwes­ter! Wie ge­sagt, nur die Bäcke­rin ist schuld dar­an, dass ich nicht zu Hau­se war. Ich sage dir, die­se Per­son bringt mich um. Eine Mut­ter von fünf Kin­dern, und doch je­des­mal der­sel­be Tanz, sie kennt ih­ren Ter­min nicht. Lässt mich in ei­nem fort ho­len, glaubt, sie stirbt schon. Ah, das ist dein Fräu­lein! Gu­ten Abend, Fräu­lein! Wir wol­len uns schon mit­ein­an­der ver­tra­gen.«

Frau Böhk hat­te viel Ähn­lich­keit mit Ag­nes, nur war sie eine sehr blü­hen­de, in die Brei­te ge­gan­ge­ne Ag­nes. Die Schwes­tern hat­ten gleich graue Au­gen, aber die der Heb­am­me wa­ren runder, tra­ten mehr her­vor und roll­ten un­ter­neh­men­der. Das gan­ze Ge­sicht hat­te ein jün­ge­res, ge­sün­de­res Aus­se­hen und glänz­te, wie von Fir­nis über­zo­gen. Sie ent­le­dig­te sich end­lich ih­res Tu­ches und ih­rer Pa­ke­te, sprach im­mer­zu und be­leb­te das Ge­mach mit ih­ren run­den, has­ti­gen Be­we­gun­gen, und als noch die Mäd­chen her­ein­ka­men und, von der Tan­te ge­schol­ten, hin und her schos­sen, da ward das Trei­ben so bunt und leb­haft, dass es Rosa schwin­del­te.

»Wo sind die Jun­gen?« frag­te Frau Böhk.

»Hans ist in sei­nem Zim­mer und schläft«, be­rich­te­te Mar­tha. »Der On­kel ist aus­ge­gan­gen.«

»Was der auch nie zu Hau­se blei­ben kann.«

»Vi­el­leicht eine Be­stel­lung«, mein­te Gre­the, muss­te aber schnell zur Türe hin­aus, weil ein zu wil­des La­chen in ihr auf stieg.

»Be­stel­lung!« sag­te Frau Böhk ver­ächt­lich. »Wenn die Gre­the doch ein­mal et­was Ver­nünf­ti­ges sa­gen wür­de! Gleich­viel! Mit dem Es­sen wird nicht ge­war­tet!«

Als die Fa­mi­lie sich um die Kalbs­le­ber mit Er­däp­feln ge­schart hat­te, ward Frau Böhk ru­hi­ger, und ihre Nich­ten mach­ten sich mit Ernst über das Es­sen her. Die ro­ten, blan­ken Ge­sich­ter auf die Tel­ler her­ab­ge­beugt, die Arme weit auf den Tisch ge­scho­ben, be­weg­ten sie be­däch­tig die Kinn­ba­cken. Vor der Haus­frau stand ein Bier­krug, aus dem sie sich ein Glas nach dem an­dern voll­schenk­te. »Ja. Fräu­lein«, wand­te sie sich an Rosa, »bei mei­ner Ar­beit muss ich Bier trin­ken, denn ich brau­che Kraft, viel Kraft. Or­dent­lich rin­gen muss ich mit man­chen Frau­en. Wenn Sie mei­nen Arm se­hen wür­den, blau ist er, und hier oben – die Nar­be muss noch da sein –, spä­ter, wenn ich mich aus­klei­de, wer­de ich sie Ih­nen zei­gen – hier hat mich die Jen­ny Wal­ter ge­bis­sen – du weißt, Ag­nes, die Toch­ter von dem Schmied Wal­ter, sie hat­te das Kind von dem Karl Mar­tis, der als Sol­dat fort­muss­te. Die arme Jen­ny also biss mich in den Arm – aber fest, wis­sen Sie, wie die Mar­tha jetzt in den Erd­ap­fel beißt.«

Die Mäd­chen räum­ten das Gerät ab. »Dem Hans«, be­fahl Frau Böhk, »tragt das Es­sen hin­auf. Des Fräu­leins we­gen wird er nicht her­ab­kom­men wol­len.« Und nun setz­te sie sich be­quem zu­recht, nes­tel­te sich die Ja­cke auf, schenk­te ein Bier ein und plau­der­te.

Ach, Rosa wuss­te es ge­wiss nicht, was für eine ge­plag­te Per­son Frau Böhk war, wie soll­te sie auch! Die Fräu­leins in der Stadt dür­fen ja von solch ei­ner Per­son gar nicht spre­chen; das wuss­te Frau Böhk wohl. Aber wenn man Frau Böhk nö­tig hat­te, dann war sie nicht mehr un­an­stän­dig. Sie lach­te ein lau­tes, fet­tes La­chen, das ihr die Trä­nen in die Au­gen trieb. Ach was, ihr war’s gleich, ob man in der Stadt von ihr spre­chen durf­te oder nicht. Was sie von ei­nem je­den ver­nünf­ti­gen Frau­en­zim­mer ver­lang­te, war, dass es sich im großen Au­gen­blick be­nahm, wie es sich ge­hört.

Die Mäd­chen setz­ten sich mit ih­rer Nä­he­rei auch an den Tisch, die Köp­fe so tief in die Ar­beit nie­der­beu­gend, dass man nur das brau­ne Haar und die wei­ßen Schei­tel sah. Zu­wei­len je­doch, wäh­rend die Tan­te ih­ren Vor­trag hielt über das rich­ti­ge Ver­hal­ten ei­ner Frau in der schwe­ren Stun­de, zu­wei­len ho­ben Mar­tha und Gre­the die Köp­fe, sa­hen sich an und drück­ten die Lein­wand, an der sie näh­ten, ge­gen die Lip­pen, um das La­chen zu dämp­fen.

Rosa war müde und schläf­rig, ein sü­ßes Be­ha­gen brei­te­te sich über sie un­ter die­sen der­ben, ge­sun­den Men­schen, die nach Wol­le und fri­scher Win­ter­luft ro­chen. Sie fühl­te sich un­ter ih­nen si­cher ge­bor­gen, und das Le­ben er­schi­en ihr wie­der wie ein ein­fa­ches, selbst­ver­ständ­li­ches Ding, das man ru­hig hin­nimmt und trägt, bis es ei­nem wie­der ge­nom­men wird. Nichts wei­ter.

Frau Böhk wünsch­te Rosa eine sehr gute Nacht; sie um­schlang sie mit bei­den Ar­men und sag­te warm: »Schla­fen Sie recht süß, lie­bes Kind, und las­sen Sie sich et­was Gu­tes träu­men. Sie wis­sen das doch, in un­se­rem Fall muss man von Vö­geln oder Hun­den träu­men; be­son­ders Hun­de sind gut.«

Ro­sas Zim­mer war ein en­ges Gie­bel­stüb­chen, das nach fri­schem Kalk roch. Ein Bett, ein klei­nes schwar­zes Sofa, ein Tisch und Stüh­le stan­den dar­in, an dem Fens­ter hin­gen wei­ße Vor­hän­ge, und ein ver­küm­mer­ter Ro­sen­stock schmück­te das Fens­ter­brett. Rosa schob die Vor­hän­ge zu­rück und schau­te hin­aus. Die Nacht war hell. Im Stern­schein schlie­fen die nied­ri­gen Häu­ser un­ter ih­rer Schnee­de­cke. Mit­ten auf der Stra­ße stand der Nacht­wäch­ter mit sei­ner spit­zen Ka­pu­ze, sei­ner La­ter­ne und schnarr­te – brrr, brrr – eine me­ckern­de, ein­tö­ni­ge Wei­se, wie das Lied ei­ner al­ten Kinds­frau, die schläf­rig an den wei­ßen Kin­der­bet­ten sitzt.

»Mor­gen«, sag­te Ag­nes, »blei­be ich noch bei dir. Dir wird ban­ge sein un­ter den frem­den Leu­ten.«

»Nein!« er­wi­der­te Rosa. »Fahr nur. Der Va­ter blieb so al­lein zu­rück, und mir – mir, glau­be ich, wird nicht ban­ge sein.« –

Zweites Kapitel

Bei Ag­nes’ Abrei­se wein­te Rosa doch. Die Trä­nen und Se­gens­wün­sche der al­ten Frau be­weg­ten ihr das Herz. Nun saß sie un­ten im Wohn­zim­mer und fühl­te sich ver­las­sen. Frau Böhk mach­te einen Ge­schäfts­gang. Die Mäd­chen wu­schen ne­ben­an den Fuß­bo­den der Kü­che, ihr La­chen und das Klat­schen der nas­sen Tü­cher tön­ten zu Rosa her­über. Drau­ßen schmolz der hel­le Son­nen­schein den Schnee und hing stark leuch­ten­de Trop­fen an die Dä­cher. Im Hof flim­mer­ten die Was­ser­la­chen. Stroh, Dün­ger, grau ge­wor­de­ner Schnee la­gen dort. Ei­ni­ge Hüh­ner schüt­tel­ten ihre nas­sen Fe­dern und gin­gen lang­sam auf und ab. Durch die of­fe­ne Stall­tü­re sah man die brau­nen Hin­ter­fü­ße und ein Stück des blan­ken Rückens ei­ner Kuh, wäh­rend auf der an­de­ren Sei­te ein Schwein ver­geb­lich sei­nen Rüs­sel durch die Stä­be des Ver­schla­ges zu zwän­gen ver­such­te. Und zwi­schen dem Stall und dem Spei­cher konn­te Rosa auf das Land hin­aus­se­hen. Ein fer­nes Bir­ken­wäld­chen war die ein­zi­ge Un­ter­bre­chung der ein­för­mi­gen Wei­se. Die zar­ten Stäm­me stan­den auf dem Schnee wie dün­ne Stri­che auf ei­nem Bo­gen Pa­pier.

Plötz­lich ward die Türe auf­ge­ris­sen, und Mar­tha er­schi­en. Sie trug nur ein Hemd und ein kur­z­es Röck­chen. Füße und Bei­ne wa­ren nackt, die Är­mel des Hem­des bis über die El­len­bo­gen auf­ge­streift, das Ge­sicht rot und la­chend. In der rech­ten Hand trug sie einen Was­serei­mer, wäh­rend sie den lin­ken Arm ge­ra­de von sich streck­te, um das Gleich­ge­wicht zu hal­ten. Lus­tig stampf­ten die nack­ten Füße durch die Pfüt­zen. Im Vor­über­ge­hen stieß Mar­tha wie ein über­mü­ti­ger Bube mit dem Fuß ge­gen den Rüs­sel des Schwei­nes und schob die Kuh, die ihr den Weg ver­stell­te, kräf­tig mit den Ar­men zur Sei­te.

Rosa, die trüb­se­lig vor sich hin­ge­träumt hat­te, fühl­te ihr Herz vor die­sem le­ben­strot­zen­den, halb­nack­ten Mäd­chen warm wer­den. Gern wäre auch sie la­chend und sorg­los in den Tag hin­aus­ge­lau­fen. Sie be­gann Mar­tha mit je­ner nei­di­schen Lie­be zu lie­ben, mit der sich oft ein kran­kes, un­glück­li­ches Kind an ein schö­nes, glück­li­ches zu hän­gen pflegt.

Rosa ging in die Kü­che hin­aus; sie woll­te mit Mar­tha und Gre­the jung und lus­tig sein. Die Mäd­chen knie­ten in der Kü­che und rie­ben die Flie­sen, Schweiß­trop­fen auf der Stirn, die Haa­re wirr über den Rücken nie­der­fal­lend. Sie blick­ten auf, als Rosa ein­trat, senk­ten aber so­gleich die Köp­fe und ki­cher­ten.

»Ich woll­te se­hen, was Sie tun«, sag­te Rosa be­fan­gen. »Es muss lus­tig sein, so zu wa­schen, nicht?« Die Mäd­chen lach­ten.

»Ich wür­de Ih­nen gern hel­fen«, fuhr Rosa fort. Eine wil­de Lust er­griff sie, sich aus­zu­klei­den, auf den Bo­den nie­der­zu­wer­fen und mit den Mäd­chen zu ar­bei­ten. »Das kann das Fräu­lein wohl nicht«, mein­te Mar­tha und zwang sich, ernst aus­zu­se­hen. »Wa­rum?« frag­te Rosa zö­gernd; dann schwieg sie. Eif­rig ar­bei­te­ten die Mäd­chen fort, war­fen sich flüch­ti­ge Bli­cke zu und bis­sen sich auf die Lip­pen. – »Sie ma­chen’s wie wir, wenn Fräu­lein Schank da war«, dach­te Rosa und ging seuf­zend in das Wohn­zim­mer zu­rück. Sie war es nicht ge­wohnt, als stren­ges Fräu­lein be­han­delt zu wer­den, vor dem man sich schämt und über das man hin­ten­nach lacht. Sie hät­te lie­ber mit­ge­scheu­ert und mit­ge­lacht. Nie­der­ge­schla­gen setz­te sie sich an das Fens­ter und fühl­te sich alt. Ja! Mar­tha und Gre­the wa­ren die glück­li­chen Kin­der, die sich in der Däm­mer­stun­de ihre Liebs­ten ans Fens­ter be­stell­ten und vom Le­ben al­les Schö­ne er­war­te­ten. Sie aber war das arme Fräu­lein, das Un­glück ge­habt hat­te. Sie ge­hör­te nicht mehr zur fro­hen Gil­de der Jun­gen, die über die äl­te­ren Leu­te und de­ren Er­fah­run­gen spot­ten. – Sie woll­te in ihr Zim­mer hin­auf­ge­hen und die Hemd­chen und Jäck­chen nä­hen, die Ag­nes ihr zu­ge­schnit­ten hat­te. Das war die ein­zig pas­sen­de Be­schäf­ti­gung für ein ar­mes Fräu­lein, das Un­glück ge­habt hat. Als sie sich der Türe zu­wand­te, sah sie einen Herrn mit­ten im Zim­mer ste­hen. Er rieb sich die Hän­de, die El­len­bo­gen fest an den Leib ge­drückt, und lä­chel­te. In sei­nem kno­chi­gen, brau­nen Ge­sicht sa­ßen zwei blan­ke Au­gen. Der Bart um Lip­pen und Kinn so­wie das stark ge­lock­te, spär­li­che Haupt­haar wa­ren tief­schwarz, und die klei­ne schmäch­ti­ge Ge­stalt im ab­ge­tra­ge­nen brau­nen Som­mer­an­zug ver­kroch sich lin­kisch in sich selbst.

 

»Ich woll­te Sie bit­ten, Fräu­lein«, be­gann er mit ei­ner dün­nen, ho­hen Stim­me, »mich zu ent­schul­di­gen, weil ich Sie ges­tern nicht emp­fan­gen konn­te. Ich mach­te ge­ra­de einen Ge­schäfts­gang. Ich bin näm­lich der Haus­herr. Bit­te, neh­men Sie doch Platz, Fräu­lein.« Sei­ne Hand woll­te mit ei­ner edeln Be­we­gung auf einen Stuhl deu­ten, be­sann sich je­doch un­ter­wegs und fuhr un­be­hol­fen in die Ho­sen­ta­sche. »Oder woll­ten Sie fort­ge­hen?«

»O nein!« er­wi­der­te Rosa. »Ich habe ja nichts zu tun.« Sie setz­te sich und mach­te ein Ge­sicht wie ein sehr jun­ges Mäd­chen, das ernst­haf­te Kon­ver­sa­ti­on ma­chen soll. Herr Böhk rück­te einen Stuhl her­an, lä­chel­te, leck­te sich die Lip­pen. »Das kann ich mir den­ken«, sag­te er, »solch ein Fräu­lein braucht nichts zu ar­bei­ten, das weiß ich auch. Ja – wie ge­sagt, es ist mir sehr un­an­ge­nehm, dass ich ges­tern nicht hier war – sehr un­an­ge­nehm.«

»Aber da Sie Ge­schäf­te hat­ten«, wand­te Rosa ein.

»Ach was! Ich hät­te es sein las­sen sol­len. Es war un­höf­lich von mir. Ge­wiss! Ich weiß auch, was sich schickt. Hat die Al… mei­ne Frau Sie we­nigs­tens gut auf­ge­nom­men?«

»Ja – sehr gut.«

»So – so.« Herr Böhk zwir­bel­te be­däch­tig sei­nen Bart. »Ja, auf die Wirt­schaft ver­steht sie sich recht gut. Ich über­las­se ihr auch ganz die Wirt­schaft. Wir Män­ner ha­ben kei­ne Zeit dazu, wis­sen Sie, Fräu­lein.«

»Na­tür­lich.«

»Ja! – Na – aber doch schwe­re Zei­ten!«

»Wirk­lich?« frag­te Rosa er­staunt.

»Ja«, mein­te Herr Böhk, »we­nig zu tun! Ich bit­te Sie, Fräu­lein, in ei­nem Nest wie Ti­glau, was soll da ein Uhr­ma­cher zu tun ha­ben? Lä­cher­lich! Ich habe das an­ders ge­kannt.«

»Sie wa­ren frü­her in ei­ner grö­ße­ren Stadt?«

»Ei­ner?« – Er lach­te: »In vie­len – in al­len Städ­ten fast. Gott, wo bin ich nicht al­les ge­we­sen! Dort über­all her­um.« Er wies mit dem Dau­men über Stall und Spei­cher hin­aus. »Stu­die­ren woll­te ich auch – auf der Uni­ver­si­tät, wis­sen Sie.«

»So?«

»Ja, ja; das Ku­rie­ren woll­te ich ler­nen.«

»Arzt woll­ten Sie wer­den?«

»Ja – für das Vieh – wis­sen Sie. Wie das nun heißt. Aber es wur­de nichts dar­aus; und bei mir, se­hen Sie, Fräu­lein, war auch die Lie­be an al­lem schuld. Mei­ner Seel! Ich hat­te da eine Flam­me – nicht mei­ne jet­zi­ge Frau, nein – das war ein schö­nes und fei­nes Mäd­chen; Pe­tro­nel­la hieß sie. Da sieht man schon; gleich­viel, was für eine heißt nicht Pe­tro­nel­la, nicht wahr? Sie zog fort und ich ihr nach, wie das schon so geht. Mit dem Vieh­dok­tor wur­de es aber nichts. Üb­ri­gens, mei­ne jet­zi­ge Alte ist auch brav. Ein we­nig vor­schnell, aber tüch­tig. Sie wer­den ja se­hen. Wenn Sie ein­mal mit der Ver­pfle­gung nicht zu­frie­den sind, sa­gen Sie’s nur mir, ich wer­de schon Ord­nung schaf­fen.« Er beug­te den Kopf her­ab, und wäh­rend er nach­dach­te, wie er die Un­ter­hal­tung fort­set­zen soll­te, wie­der­hol­te er lang­sam: »Mit dem Vieh­dok­tor war’s nichts.« Dann blick­te er schnell auf. Vi­el­leicht ver­ach­te­te ihn Rosa des­halb? Sie hat­te so et­was wie ein Lä­cheln auf den Lip­pen und um die Au­gen. »Spä­ter hab ich noch vie­les ge­lernt«, sag­te er. »Die Uhr­ma­che­rei ist nicht leicht, wis­sen Sie, Fräu­lein. – Ich spie­le auch die Gei­ge. Hö­ren Sie gern die Gei­ge?«

»Ja – sehr!«

»Oh, dann spie­le ich Ih­nen et­was vor. Mei­ne Alte ist fort­ge­gan­gen. Nicht, als ob die Alte Mu­sik nicht mag. Aber sie will, dass, wenn sie heim­kommt, das Feu­er im Ofen an­ge­macht ist. Dazu kam ich her­ein; es hat je­doch kei­ne Eile.« Sei­ne spit­zen Ba­cken­kno­chen wur­den rot, und in der has­ti­gen Be­weg­lich­keit, mit der er einen Vio­lin­kas­ten un­ter dem Sofa her­vor­zog, lag eine kna­ben­haf­te Aus­ge­las­sen­heit, die Rosa la­chen mach­te. »Sie ver­ste­hen nicht die Gei­ge zu strei­chen?« frag­te er, wäh­rend er das In­stru­ment aus­pack­te.

»Es ist auch nicht so leicht, wie es aus­sieht.« Er setz­te sich auf sei­nem Stuhl zu­recht, streck­te das rech­te Bein von sich, stemm­te die Gei­ge un­ter das Kinn und stimm­te sie. »Se­hen Sie, ich habe mit der Mu­sik schon als Kind an­ge­fan­gen, da geht es schon. Was wün­schen Sie? Et­was Sü­ßes, das lie­ben die Fräu­leins.« Er wur­de ernst, drück­te die Au­gen­li­der zu­sam­men und spitz­te den Mund; ab und zu nur warf er blan­ke, ver­him­mel­te Bli­cke auf Rosa. Er spiel­te eine ver­schol­le­ne zärt­li­che Me­lo­die; ein gleich­mä­ßi­ges Auf- und Nie­der­stei­gen der Töne, ein re­gel­mä­ßig wie­der­keh­ren­der lang­ge­zo­ge­ner Auf­schrei als Re­frain, bei dem Herr Böhk je­des­mal lei­den­schaft­lich die Schul­tern hob. Drau­ßen in der Kü­che be­gan­nen die Mäd­chen zu sin­gen, ver­ei­nig­ten ihre her­ben Stim­men mit dem ab­ge­stan­de­nen nä­seln­den Ton der al­ten Gei­ge. Die Wor­te des Lie­des ver­stand Rosa nicht, nur bei dem ge­fühl­vol­len Auf­schluch­zen der Schlus­stak­te klang es her­über wie: »Sie hat sich ver­liebt in ein’ an­dern – ein’ an­dern – ein’ an­dern.« – – –

Rosa hör­te zu und wieg­te sach­te ih­ren Kopf. Auf ihr Herz war so viel ein­ge­stürmt, dass es selt­sam reiz­bar und emp­find­sam ge­wor­den war. Ein zärt­li­ches Wort, ein kla­gen­der Ton be­reg­ten es schon fast schmerz­haft. Auch jetzt stan­den ihre Au­gen vol­ler Trä­nen. Herr Böhk sah das und ließ die Gei­ge sin­ken: »Sie dür­fen nicht wei­nen, Fräu­lein!«

»Ich wei­ne nicht«, ant­wor­te­te Rosa, wand­te ihr Ge­sicht ab und lä­chel­te: »Bit­te – spie­len Sie wei­ter.«

»Doch – Sie ha­ben ge­weint«, be­haup­te­te Herr Böhk und droh­te mit dem Vio­lin­bo­gen. »Aber wis­sen Sie, Fräu­lein, mir geht es oft auch so. Bei die­sem Lie­de kom­men mir die Trä­nen, das macht eben die Mu­sik. Die­ses Lied sang frü­her eine Min­na, die ich kann­te; ach, eine sel­te­ne Min­na. Jetzt spiel ich Ih­nen et­was Lus­ti­ge­res vor. Nicht wahr?« Er spiel­te nun eine hüp­fen­de, krei­schen­de Wei­se; Mar­tha und Gre­the fie­len ju­belnd ein, und Herr Böhk konn­te sich nicht ent­hal­ten, mit­zu­sin­gen:

»Was hilft mir das Gra­sen,

Wenn die Si­chel nicht schneidt;

Was hilft mir mein Schätz­chen,

Wenn’s bei mir nicht bleibt.«

Frau Böhk war un­be­merkt in das Zim­mer ge­tre­ten, stand, in ihr grau­es Um­schlag­tuch gehüllt, wei­ße Pa­ke­te un­ter den Ar­men, da und schöpf­te tief Atem. »Was ist denn heu­te für ein Fei­er­tag?« brach sie plötz­lich los. In der Kü­che wur­de es mäus­chen­still. Herr Böhk er­rö­te­te, stell­te die Gei­ge an die Wand und schob sich, ein ge­zwun­ge­nes Lä­cheln auf den Lip­pen, zum Ofen hin. Ohne ih­ren Mann an­zu­se­hen, warf die Heb­am­me ihre Pa­ke­te auf einen Stuhl und wand­te Rosa ihr er­hitz­tes, glän­zen­des Ge­sicht zu – den Mund ein we­nig in die Brei­te zie­hend, um freund­lich aus­zu­se­hen: »Was ma­chen denn Sie, lie­bes Fräu­lein? Die da ha­ben Ih­nen einen Hei­den­lärm vor­ge­macht. Nein – nein, sa­gen Sie nichts, un­ten auf der Gas­se hab ich’s ge­hört. Gott, bin ich müde!«

Herr Böhk kau­er­te vor dem Ofen und füll­te ihn mit Holz­schei­ten, den Kopf fast in das Ofen­loch ste­ckend. »So«, be­gann Frau Böhk wie­der, nach­dem sie eine Wei­le still zu­ge­se­hen hat­te, »also nicht ein­mal ein­hei­zen konn­test du? Du muss­test Kon­zer­te ge­ben. Und wenn das frem­de Fräu­lein sich ver­kühlt, wes­sen Schuld wird es dann sein? Wirst du die Vor­wür­fe zu hö­ren be­kom­men? Was? Nicht eine Mi­nu­te kann man fort sein, ohne dass die Kin­der was an­ge­ben!«