Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

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Herr Herz schöpf­te die Sup­pe vor und zer­leg­te sehr ge­wandt den Bra­ten, da­bei war er eif­rig um die Un­ter­hal­tung be­müht. »Heu­te«, sag­te er und leg­te Rosa ein Stück Bra­ten auf den Tel­ler, »wäh­rend ich drau­ßen im Hof Un­ter­richt er­teil­te, sah ich eine ver­deck­te Kut­sche den Weg hin­ab­fah­ren. Du hast wohl nichts ge­hört?«

»Nein. Je­mand vom Lan­de?« be­merk­te Rosa.

Herr Herz schüt­tel­te un­gläu­big den Kopf: »Um die­se Zeit! Weiß es Gott! Ich muss spä­ter zu Klappe­kahl hin­über, der wird es wis­sen.«

Rosa war schweig­sam. Ihr Va­ter be­merk­te das wohl und frag­te nach der Ver­an­las­sung, aber Rosa er­wi­der­te, es sei nichts; sie däch­te über die Kut­sche nach. »Ja, merk­wür­dig!« plau­der­te Herr Herz fort. »Wie ich aus der Schu­le kom­me, be­geg­net mir La­nin.« Herr Herz schau­te sei­ne Toch­ter er­war­tungs­voll an, als müss­te die­se Nach­richt Ein­druck auf sie ma­chen; Rosa je­doch be­merk­te nur tro­cken: »So! Sprach er von sei­ner dum­men Toch­ter?«

»Dum­men Toch­ter! Rosa, wie du sprichst!« Herr Herz lach­te, als wäre das ein gu­ter Witz ge­we­sen. »Nein«, fuhr er dann fort, »er teil­te mir aber mit, dass nächs­tens ein jun­ger Mensch, ein Ver­wand­ter von ihm, in das Ge­schäft kommt.«

»Noch ei­ner? Hat er denn mit dem Ko­rin­then-Kon­rad nicht ge­nug?«

»Mit die­sem hat es sei­ne Be­wandt­nis. Der jun­ge Herr scheint ein we­nig wild ge­we­sen zu sein…«

»Ah, was hat er ge­tan?«

»Gott, in der Ju­gend, da kommt man­ches vor! Ge­nug, er soll hier ge­bes­sert wer­den. Als ich vor­hin dort am Fens­ter stand, dach­te ich dar­über nach, ob La­nin bei der gan­zen Ge­schich­te nicht et­was für sei­ne Toch­ter im Sinn hat, für die Sal­ly.«

»Die!« rief Rosa und lach­te, weil je­dem jun­gen Mäd­chen je­der Hei­rats­plan au­ßer ih­rem ei­ge­nen lä­cher­lich er­scheint. »Du ver­gisst, Va­ter, dass Sal­ly schielt.«

»Pah!« mein­te Herr Herz, »ich habe man­che Schön­heit ge­kannt, die schiel­te. Vie­le lie­ben das so­gar.«

»Es wäre ein Glück für die arme Sal­ly; aber ich zweifle…« sag­te Rosa und hob die Ta­fel auf. Wäh­rend sie vor­an in das Wohn­ge­mach schritt, wand­te sie sich in der Türe um und frag­te mit ei­nem gleich­gül­ti­gen Zu­cken der Au­gen­brau­en: »Va­ter! Wie soll denn die­ser neue Ko­rin­then-Kon­rad hei­ßen?«

»Am­bro­si­us Tel­le­r­at. Er ist ein Bru­der­sohn von ihr – der La­nin. Die Frau La­nin ist eine ge­bo­re­ne Tel­le­r­at, wie du weißt.«

»Ach ja!«

Als Va­ter und Toch­ter im Wohn­ge­mach auf den brei­ten Ses­seln ne­ben­ein­an­der sa­ßen, be­merk­te Rosa nach­denk­lich: »Ich glau­be nicht, dass die­ser – Am­bro­si­us sie nimmt.« – »Ja, ja«, er­wi­der­te Herr Herz dar­auf, ohne dass es schi­en, als däch­te er sich et­was da­bei. Be­quem rück­te er sei­nen Kopf auf der Leh­ne des Ses­sels zu­recht und schloss die Au­gen zu sei­nem Nach­mit­tags­schlum­mer. Die Son­ne ba­de­te das klei­ne Ge­sicht des al­ten Man­nes in gel­bem Feu­er, ent­zün­de­te in den grei­sen Au­gen­brau­en leuch­ten­de Pünkt­chen und wärm­te die ein­ge­fal­le­nen Wan­gen, dass sie zu glü­hen be­gan­nen wie die Wan­gen ei­nes schla­fen­den Kin­des. Die Flie­gen trie­ben im Ge­mach ihr lau­tes We­sen und stie­ßen är­ger­lich sum­mend ge­gen die Fens­ter­schei­ben. Lan­ge Staub­säu­len zo­gen ihre trü­ben Bän­der durch das Zim­mer.

Rosa lag in ih­rem Ses­sel zu­rück­ge­lehnt da, ganz über­deckt von ste­ti­gen Licht­fun­ken, die der Son­nen­strahl in ih­rem Haar, ih­ren Au­gen­brau­en und Wim­pern er­weck­te. Die Au­gen halb ge­schlos­sen, träum­te sie ih­ren alt­ge­wohn­ten Traum.

Er war mit ihr her­an­ge­wach­sen. Je­den Mor­gen er­wach­te er mit ihr, um ihr neu­ge­stärkt zu fol­gen. Er ging mit ihr in die Schu­le, misch­te sich in al­les, was sie vor­nahm. In der Nacht kam er oft, mit dem selt­sa­men Nar­ren­tand un­se­rer Träu­me an­ge­tan. Er war im­mer zur Hand! Wo­von er sprach? Das ist das schwer zu lö­sen­de Ge­heim­nis lie­ben­der Her­zen, die nie ge­liebt, op­fer­mu­ti­ger See­len, die nie ein Op­fer ge­bracht ha­ben. Ei­nes nur wie­der­hol­te er im­mer wie­der: »Bald, bald muss et­was ge­sche­hen, muss et­was er­lebt wer­den. Bald, sonst ver­säumst du’s.«

Nach­dem Rosa eine Wei­le ih­rem treu­en Ge­fähr­ten zu­ge­hört hat­te, seufz­te sie, er­hob sich und er­griff Hut und Man­tel, um aus­zu­gehn.

Drittes Kapitel

Die Stra­ße war leer, kein Luft­hauch reg­te sich. Gerü­che von Fleisch und Ge­mü­se ström­ten aus den ge­öff­ne­ten Fens­tern. Pa­pier­fet­zen und alte Schuh­soh­len la­gen auf dem Pflas­ter und sonn­ten sich.

Rosa ging zum Markt­platz hin­ab. Die Hän­de in die Ta­schen ih­res Man­tels ge­steckt, wieg­te sie sich läs­sig hin und her und blick­te auf die Häu­ser und in die Fens­ter, mit der gleich­gül­ti­gen Zer­streut­heit, die wir ge­wohn­ten Din­gen ent­ge­gen­zu­tra­gen pfle­gen, wenn un­se­re Bli­cke an ih­nen haf­ten, ohne sie zu se­hen.

Am Aus­gang der Stra­ße und Ein­gang des Markt­plat­zes lag das Ge­schäft »Fir­ma La­nin und –«, Ver­kauf von Ko­lo­ni­al­wa­ren je­der Art. Das Ge­schäft La­nin war von größ­ter Wich­tig­keit für das Städt­chen; lan­ge schon war es die Haupt­quel­le für die Be­dürf­nis­se der Haus­hal­tung, und meh­re­re Ge­ne­ra­tio­nen hat­ten den Na­men La­nin zu­gleich mit den Wor­ten Zu­cker, Ro­si­nen und so wei­ter aus­spre­chen ge­lernt. Herr La­nin saß im Rat, wie sein Va­ter und Groß­va­ter vor ihm dort ge­ses­sen. Herr La­nin spiel­te eine be­deu­ten­de Rol­le bei der Feu­er­wehr, der Ar­men­pfle­ge und Spar­kas­se. Herr La­nin war eine so große Per­sön­lich­keit, dass die be­schei­de­neren Bür­ger der Stadt nicht zu pro­tes­tie­ren wag­ten, wenn die Fir­ma ih­nen dop­pel­te Rech­nun­gen mach­te oder schim­me­li­gen Käse ver­ab­folg­te. »Fir­ma La­nin und –« stand über der Türe. Die­ses »und« war eine Hul­di­gung für die Toch­ter der Fir­ma, für Fräu­lein Sal­ly. Der künf­ti­ge Schwie­ger­sohn soll­te Kom­pa­gnon wer­den; das war si­cher; so leg­te die gan­ze Stadt die­ses »und –« aus; bis Fräu­lein Sal­ly aber ihre Wahl ge­trof­fen, muss­te das »und –« al­lein ste­hen blei­ben und war­ten.

Die Fir­ma war sich ih­res Wer­tes viel zu sehr be­wusst, um auf äu­ße­ren Glanz et­was zu ge­ben; die­ser­halb war das Ge­schäfts­lo­kal ein en­ges, fins­te­res, un­rein­li­ches Zim­mer. Das ab­ge­rie­be­ne, von der Son­ne ge­bleich­te Schild vor der Türe zeig­te einen ent­setz­li­chen Ne­ger, der einen wei­ßen Zucker­hut in den Ar­men hielt.

Rosa öff­ne­te die nied­ri­ge Gla­stü­re, die in das Lan­in­sche Ver­kaufs­lo­kal führ­te, und setz­te da­bei eine hei­se­re Glo­cke in Be­we­gung. Ein star­ker Ge­ruch von Oran­gen, Fisch, feuch­tem Stroh schlug ihr ent­ge­gen. Fäs­ser und Kis­ten türm­ten sich bis zur De­cke auf; schwarz an­ge­stri­che­ne Holz­leis­ten lie­fen an den Wän­den hin und tru­gen mäch­ti­ge Pa­ke­te, in blau­es, gel­bes, grau­es Pa­pier gehüllt, halb von Däm­me­rung und Staub ver­bor­gen. Hin­ter dem La­den­tisch stand Kon­rad Lurch, der Die­ner der Fir­ma. Sein lan­ges, sehr schma­les Ge­sicht war über und über mit Som­mer­spros­sen be­deckt. Sei­ne Au­gen hat­ten die mat­te, gelb­li­che Far­be des Ge­sich­tes und schie­nen mit die­sem in­ein­an­der­ge­flos­sen. Er trug einen wei­ten Rock von glän­zen­dem Som­mer­stoff, wie schwar­zes Pack­pa­pier, und rot­gel­be Bein­klei­der, die in der Far­be mit dem Pa­pier Ähn­lich­keit hat­ten, in das man Stea­rin­ker­zen packt – acht auf ein Pfund.

»Ah, Fräu­lein Rosa!« sag­te er lei­se, als Rosa ein­trat.

»Gu­ten Tag, Herr Lurch«, er­wi­der­te sie. »Wie geht es Ih­nen? Ist Sal­ly zu Hau­se?«

Lurch blick­te nicht auf und kau­te an ei­nem Bind­fa­den, der von der an der De­cke be­fes­tig­ten Rol­le nie­der­hing. »Gu­ten Tag, Fräu­lein Rosa«, sag­te er, »mir geht es gut; ich hof­fe, Ih­nen gleich­falls, Fräu­lein Rosa? Was Fräu­lein Sal­ly be­trifft, so war sie die gan­ze Zeit über hier. Sie se­hen noch dort auf der Reis­kis­te das Buch, in dem sie las. Plötz­lich ging sie hin­aus; warum, weiß ich Ih­nen nicht zu sa­gen; ich ver­mu­te, sie wird gleich wie­der hier sein.«

»Also Sie mei­nen, ich soll hier war­ten? Wie?«

»Ja, Fräu­lein Rosa, das wird das bes­te sein. Sie set­zen sich un­ter­des­sen viel­leicht dort auf die He­ring­ston­ne?«

»Ich dan­ke, wenn Sie kei­nen bes­se­ren Platz ha­ben. Ich sit­ze nicht gern auf He­ring­ston­nen.«

»Ja so! Na­tür­lich! Es ist auch nicht an­ge­nehm, ob­gleich das ein sel­te­ner Ar­ti­kel ist! Schot­ti­sche Fett- oder Kö­nigs-He­rin­ge. Aber dort die Licht­kis­te? Sie ist viel­leicht nicht ganz rein? Neh­men Sie mein Ta­schen­tuch und set­zen Sie sich dar­auf.«

Lurch bot Rosa ein ganz klein zu­sam­men­ge­ball­tes Tuch an. Sie lehn­te es je­doch mit dem schril­len, kur­z­en La­chen sieb­zehn­jäh­ri­ger Mäd­chen ab und setz­te sich auf die Licht­kis­te.

»Soll­ten Sie nicht ei­ni­ge Ko­rin­then neh­men, Fräu­lein Rosa?« be­gann Lurch nach ei­ner Pau­se.

»Nein, ich mag mir nicht im­mer von Ih­nen Ko­rin­then schen­ken las­sen.«

»Oh! Fräu­lein Rosa – Ko­rin­then, Ko­rin­then –« Lurch war sicht­lich ver­le­gen. »Ko­rin­then sind doch nur ganz klei­ne Ro­si­nen.«

»Das macht nichts«, ver­setz­te Rosa ener­gisch; dann füg­te sie sanf­ter hin­zu: »Herr Lurch! Ge­stat­ten Sie es nicht, dass wir Sie Ko­rin­then-Kon­rad nen­nen?«

»Ge­wiss, Fräu­lein Rosa! Wenn der Name Ih­nen ge­fällt; ich hof­fe, er ist kei­ne Ver­höh­nung mei­nes Be­ru­fes; ich den­ke, er ist es nicht?«

»Durchaus nicht! Nur der Ko­rin­then we­gen, wis­sen Sie.«

»Oh, dann – warum nicht?« Ja, Lurch schi­en der Name so­gar zu ge­fal­len, denn ein öli­ges Lä­cheln zeig­te sich auf sei­nem Ge­sich­te.

 

End­lich trat Sal­ly La­nin durch eine Hin­ter­tü­re des La­dens ein.

»Ach Rosa! Lie­bes Herz! Du bist es!« rief sie in al­ler­liebs­ter Freu­de aus, hüpf­te auf Rosa zu, küss­te sie auf die Lip­pen, setz­te sich mit ei­ner flin­ken, schmieg­sa­men Be­weg­lich­keit auf die Kis­te und schlang ih­ren Arm um Ro­sas Tail­le. »Wie gut, dass du kamst!«

Sal­ly La­nin trau­er­te um einen ge­lieb­ten On­kel und trug da­her ein schwar­zes Kleid und eine schwar­ze Hals­krau­se. Auf den Schul­ter­blät­tern sa­ßen zwei wei­ße Kalk­fle­cken, und auch sonst war an dem Klei­de viel von dem Staub der Kis­ten hän­gen ge­blie­ben, was dem Gan­zen ein et­was schä­bi­ges Aus­se­hen ver­lieh. Ei­gent­lich hübsch war Fräu­lein La­nin nicht; ei­ni­ge klei­ne Feh­ler stör­ten den Ein­druck des Ge­sich­tes; so schiel­ten die schö­nen, va­nil­le­brau­nen Pu­pil­len der Au­gen ein we­nig, und die Nase war oft an der Spit­ze rot.

Fräu­lein La­nin leg­te ihr Köpf­chen auf die Schul­ter ih­rer Freun­din und seufz­te: »Liebs­te Rosa! Ich habe dir viel zu er­zäh­len.«

»Wirk­lich? Er­zähl doch!« dräng­te Rosa mit großer Teil­nah­me. »Ich habe wohl da­von ge­hört – aber…«

»Ja, ja –« sag­te Sal­ly be­wegt. Dann rief sie träu­me­risch: »Lie­ber Lurch!«

»Fräu­lein Sal­ly!« er­wi­der­te die­ser.

»Lie­ber Lurch! Ge­ben Sie auf einen Au­gen­blick die Büch­se mit den trock­nen Pflau­men her.«

»Ja, Fräu­lein Sal­ly. Es ist je­doch nicht viel mehr dar­in.«

»Die trock­nen Pflau­men, Lurch«, wie­der­hol­te Sal­ly be­stimmt.

»Ge­wiss, Fräu­lein Sal­ly; warum auch nicht? Hier!« Und er hielt ihr eine hohe Büch­se hin.

»Ja Rosa, du hast von uns ge­hört«, be­gann Fräu­lein Sal­ly, ohne die Büch­se an­zu­se­hen, in die sie ihre Hand tief ver­senk­te.

»Der Va­ter sprach von euch, ich hör­te aber nicht recht hin. Was ist es denn?« frag­te Rosa.

Sal­ly brach­te jetzt eine Pflau­me zum Vor­schein, be­trach­te­te sie und er­wi­der­te dann: »Ein zwei­ter jun­ger Mensch kommt ins Ge­schäft.« Dann steck­te sie die Pflau­me in den Mund.

»Ein Ver­wand­ter von dir?«

»Lie­ber Lurch«, un­ter­brach Sal­ly ihre Freun­din, »stel­len Sie die Büch­se her und ge­hen Sie ein we­nig in den Hin­ter­grund. Ich habe mit mei­ner Freun­din zu spre­chen.«

Lurch ge­horch­te und rief aus der Dun­kel­heit kläg­lich her­vor: »Ist es so weit ge­nug, Fräu­lein Sal­ly?« – »Ja, Lurch! Ich dan­ke. Siehst du, Rosa«, nahm sie das Ge­spräch wie­der auf, »er ist ein schlech­ter jun­ger Mensch.«

»Du meinst na­tür­lich den Neu­en«, schal­te­te Rosa ein.

»Ja, der Neue. Er hat Schul­den ge­macht. Er liebt eine Zi­geu­ne­rin, oder Kun­strei­te­rin, ich weiß es noch nicht ge­nau. Nun wird der arme jun­ge Mensch von der Ge­lieb­ten ge­trennt und soll ver­ges­sen, soll sich bes­sern und das Ge­schäft er­ler­nen. Sehr wüst soll er sein. Ob er sich bes­sern wird? Gott gebe es!«

»Wie alt ist er denn?«

»Zwan­zig Jah­re, sehr jung, nicht wahr? Die Per­son, die ihn ver­führt hat, weißt du, muss kei­ne gute sein, und er ver­gisst sie wohl.«

»Wer kann das wis­sen!« mein­te Rosa mit ei­nem sehr ver­stän­di­gen Ge­sicht. »Die Frau­en von der Büh­ne be­stri­cken die Män­ner ganz selt­sam.« Fräu­lein La­nin woll­te das nicht wahr­ha­ben und schüt­tel­te ih­ren Kopf mit den vie­len Löck­chen, denn zwei Pflau­men in ih­rem Mun­de hin­der­ten sie am spre­chen. »Weißt du noch«, sag­te Rosa, »in dem Ro­man ›An­na-Lie­se, die Män­ner­has­se­rin‹ ist’s auch eine Tän­ze­rin, die den jun­gen Golo un­glück­lich macht.« Fräu­lein Sal­ly schluck­te hef­tig und brei­te­te die Arme aus; sie woll­te et­was sehr Wich­ti­ges vor­brin­gen. »Und«, fuhr Rosa eif­rig fort, »wenn er ein Wüst­ling ist, dann wird das Le­ben hier ihm fade er­schei­nen.«

»Nein, mein Herz«, be­gann Sal­ly, so­bald die Pflau­men es ge­stat­te­ten. »Nein, nein!« Und sich plötz­lich un­ter­bre­chend, rief sie: »Lie­ber Lurch, kön­nen Sie et­was hö­ren?«

»Ein we­nig, Fräu­lein Sal­ly«, ver­lau­te­te die freund­li­che Stim­me aus der Ecke. »Ich kann es nicht leug­nen; ab und zu höre ich doch ei­ni­ges.«

»Dann hal­ten Sie sich die Ohren zu. Sei­en Sie so gut, ja?« – »Ohne wei­te­res, Fräu­lein Sal­ly. Nur fürch­te ich, wenn je­mand käme und woll­te et­was kau­fen, so wür­de ich’s nicht hö­ren.«

»Sei­en Sie un­be­sorgt! Ich wer­fe Sie dann mit ei­nem Pflau­men­kern.«

»Dan­ke, Fräu­lein Sal­ly. So, jetzt höre ich nichts mehr.«

»Nun denn«, nahm Sal­ly ihre Er­ör­te­rung wie­der auf. »Du be­denkst nicht, lie­be Rosa, dass das Fa­mi­li­en­le­ben, die Ge­sell­schaft des Papa und dann, weißt du, der Um­gang mit ge­bil­de­ten, fein­füh­len­den Mäd­chen ihm gut­tun wird.«

»Meinst du?« warf Rosa zer­streut hin.

»Ge­wiss! So et­was ver­fehlt nie sei­nen Ein­druck auf Män­ner­her­zen. Er sieht gut aus, sehr gut.« –

»So; braun?«

»Ja, gold­brau­nes Haar in Lo­cken; große Au­gen.« Sal­ly be­schrieb mit dem Fin­ger einen Kreis um ihr hal­b­es Ge­sicht.

»In drei Ta­gen, den­ke ich, wird er hier sein. Dann lege ich die Trau­er ab; es sind schon vol­le sechs Mo­na­te her, dass der arme On­kel starb. Papa sprach von ei­nem Tanz­abend. Du ver­stehst, um ihn zu zer­streu­en. Am­bro­si­us heißt er.«

»So hör­te ich«, er­wi­der­te Rosa und er­hob sich, »be­glei­test du mich viel­leicht?«

Nein, Sal­ly moch­te nicht spa­zie­ren­ge­hen, sie muss­te einen Ro­man zu Ende le­sen, eine sehr span­nen­de Er­zäh­lung: »Em­mas Schmerz«. Sie fürch­te­te, ihre Hel­din ste­he im Be­griff, sich das Le­ben zu neh­men. So – dann woll­te Rosa al­lein ge­hen; es war zu warm im Zim­mer. Sie küss­ten sich und stan­den noch einen Au­gen­blick bei­ein­an­der, die­ses und je­nes zu er­ör­tern. Eine rote abend­li­che Son­ne drang durch die trü­ben Fens­ter­schei­ben, blitz­te auf den Blech­büch­sen, er­weck­te in den Fla­schen und Glä­sern bun­te Lich­ter, schlüpf­te in die Ecken und Lö­cher, um far­bi­ge Punk­te auf die stau­bi­gen Pa­pie­re zu streu­en, such­te Lurch in sei­nem ent­le­ge­nen Win­kel auf und mal­te einen großen blau und ro­ten Fleck auf sei­ne blei­che Stirn.

»Auf Wie­der­se­hen!«

»Auf Wie­der­se­hen, mein Herz« – dann lach­ten sie, wie jun­ge Mäd­chen bei Ab­schied und Wie­der­se­hen es zu tun pfle­gen – und Rosa ging hin­aus.

Die drücken­de Schwü­le war vor­über, und die Stra­ßen be­leb­ten sich. Alte Her­ren mit breit­ran­di­gen Stroh­hü­ten stan­den mit­ten auf dem Markt­platz und dis­pu­tier­ten laut mit­ein­an­der. Aus den Fens­tern beug­ten sich Mäg­de, um Tep­pi­che aus­zu­stäu­ben. Auf den Trep­pen sa­ßen Frau­en ohne Hut und strick­ten. In lan­gen Rei­hen zo­gen die Gym­na­sias­ten, Arm in Arm, die Gas­se ent­lang. Über all dem stand ein blass­blau­er Him­mel von schma­len, ro­sen­ro­ten Wol­ken durch­zo­gen. – Leicht und fröh­lich ging Rosa da­hin. Sie grüß­te die Vor­über­ge­hen­den mit ver­bind­li­chem Kopf­ni­cken und lä­chel­te da­bei ihr stets be­rei­tes, aus­ge­las­se­nes Lä­cheln. Das Ge­fühl, dass der Som­mer­abend auch ihr, wie al­lem rings um sie, gut ließ, stimm­te sie hei­ter.

»Ich habe die Ehre!« Klappe­kahl war es. Er zog vor Rosa sei­nen ho­hen Stroh­hut und blieb ste­hen. »Schö­nes Wet­ter! Wie geht es dem Papa?« Ein sü­ßes Lä­cheln, das er ganz be­son­ders für Da­men be­reit­hielt, um­spiel­te sei­nen lan­gen Mund. Er trug einen wei­ßen Som­mer­an­zug, eine rote Nel­ke im Knopf­loch und ein Stöck­chen, mit dem er nach­läs­sig an sei­ne Bei­ne schlug.

»Ich dan­ke«, er­wi­der­te Rosa, »ich ließ ihn beim Nach­mit­tags­schlaf.«

»So, so! Und die Toch­ter treibt sich der­weil ein we­nig her­um. Ha – ha – jun­ges Blut. Sie wer­den aber mit je­dem Tage hüb­scher, Ro­set­te.« Ne­ckend leg­te er sei­ne Hand auf den Arm des Mäd­chens. »Ohne Scherz! Ich sag­te noch ges­tern zu mei­ner Toch­ter: ›Ro­set­te Herz ist zu hübsch für un­ser Nest; die ge­hört in eine Welt­stadt.‹ Auf Ehre, das sag­te ich.« Rosa er­rö­te­te und mein­te, sie käme gern in eine große Stadt. Der Apo­the­ker glaub­te das wohl; er nick­te, drück­te Rosa die Hand und ging wei­ter, um zwei Schrit­te da­von den Dr. Hol­te an­zu­hal­ten und mit dem Kop­fe nach Rosa hin­deu­tend zu sa­gen: »Ein hüb­sches Mäd­chen, Dok­tor, was? Aber ko­kett, ich sage Ih­nen, wenn die in eine große Stadt kommt – ich ste­he für nichts! Gu­ten Abend, Dok­tor!«

Vor Stei­nings Kon­di­to­rei saß Her­weg mit ei­ni­gen Ka­me­ra­den, sorg­sam hin­ter ma­ge­ren Ole­an­der­bü­schen ver­bor­gen. Als er Rosa er­blick­te, grüß­te er, und sie nick­te ernst zum grü­nen Laub­git­ter hin­ein. Kaum aber war sie wei­ter­ge­gan­gen, als sie Her­wegs schwe­ren Schritt hin­ter sich ver­nahm. Sie wuss­te, so muss­te es sein; so war es je­den Abend. Treu­lich folg­te er ihr lan­ge Stun­den, zu­wei­len eine Schwen­kung ma­chend, um ihr zu be­geg­nen und sie im­mer wie­der zu grü­ßen. Das war der Aus­druck sei­ner Lie­be.

Am mor­schen Ge­län­der des Flus­sufers mach­te Rosa Halt. Her­weg kam her­an und lehn­te ne­ben ihr. Ein ste­tes Ge­mur­mel sand­te der Fluss em­por. Im Stru­del, den das Was­ser hier bil­de­te, schwam­men be­weg­li­che Licht­fet­zen. Ein fla­ches, gel­bes Land dehn­te sich auf dem ent­ge­gen­ge­setz­ten Ufer aus. Gro­ße Sand­gru­ben la­gen voll ro­ten Lich­tes, und hin­ter der Wel­len­li­nie der nied­ri­gen Sand­hü­gel ging die Son­ne groß und rot un­ter.

»Das ist schön, Rosa, nicht?« rief Her­weg und deu­te­te zur Son­ne hin­über. Rosa nick­te, die Bli­cke nach­denk­lich in den Glanz ver­lo­ren. »Schau­en Sie dort das Feld!« fuhr Her­weg fort. »Es ist ganz rot. So rot habe ich’s noch nie ge­se­hen.«

In der Tat! Ein grel­les Pur­pur­licht ba­de­te das Land. Es schi­en zu be­ben und zu fla­ckern. Dann ward es blas­ser und er­losch. Die Son­ne war hin­ter den Hü­geln ver­schwun­den. Ein mil­de­res Schei­nen klomm den Him­mel hin­an, ein blas­ses, ge­wäs­ser­tes Gold, wie an al­ten Meß­ge­wän­dern. Eine Schar win­zi­ger Wölk­chen flat­ter­te in ei­nem fast wei­ßen Him­mel, vie­le ro­si­ge Schlei­er, klei­ne Flü­gel, eine Schar aus­ge­las­se­ner Che­ru­bim. Wei­ter oben schi­en der Him­mel un­er­meß­lich hoch und veil­chen­blau. Schwei­gend stan­den die bei­den Kin­der vor die­sem Far­ben­wun­der. »Rosa«, frag­te Her­weg end­lich lei­se, in sei­nen gu­ten Au­gen stand ein wei­cher, zärt­li­cher Glanz. »Rosa! Wa­rum sa­gen Sie nichts? Ge­fällt es Ih­nen nicht?«

»Doch«, mein­te Rosa ernst.

»Nicht wahr?« be­gann Her­weg wie­der und griff nach Ro­sas Hand, »so et­was… Sie wis­sen, Rosa, wenn ich so et­was sehe, bin ich wie be­k­neipt!«

»Las­sen Sie, Koll­hardt«, sag­te Rosa; dann setz­te sie ver­stän­dig hin­zu: »Es war sehr poe­tisch.«

Her­weg emp­fand das wohl. Er küss­te Ro­sas Hand, als hät­te sie das Schau­spiel ge­schaf­fen, und flüs­ter­te: »Rosa! Ich bin Ih­nen wirk­lich gut.« Rosa muss­te er­rö­ten, und es trieb sie nach Hau­se.

Im Wohn­zim­mer war noch im­mer die be­drücken­de Glut der Mit­tags­stun­den ein­ge­schlos­sen. Rosa öff­ne­te das Fens­ter und lehn­te sich hin­aus, um in das lang­sa­me Herab­däm­mern auf die Häu­ser­gie­bel hin­ein­zu­ge­hen. Sie fühl­te sich er­regt, er­war­tungs­voll und den­noch miss­ge­launt. Er war schön ge­we­sen, der große, leuch­ten­de Abend­him­mel, das selt­sam stil­le Ver­glü­hen. Ge­wiss, sehr schön! Und doch – was war es? Soll­te sie das glück­lich ma­chen? Konn­te das et­was an der Nüch­tern­heit ih­res Le­bens än­dern? Son­nen­un­ter­gang – Gott ja, sehr gut; aber wenn sie es recht be­dach­te, füg­te er nichts zum Le­ben hin­zu. – Her­weg hat­te ihr ge­fal­len, der gute Jun­ge! Wie er sie an­ge­blickt, wie stür­misch er ihr die Hand ge­küsst hat­te: »Rosa, ich bin Ih­nen wirk­lich gut«, das klang rüh­rend.

Die Stra­ße un­ten war schon ganz in das Hell­dun­kel der Som­mer­nacht gehüllt. Ve­rein­zel­te Spa­zier­gän­ger schrit­ten lang­sam über das Pflas­ter, den Hut in der Hand, ein Lied träl­lernd oder eine Wei­se vor sich hin­pfei­fend. Wa­ren es zwei oder mehr, so klan­gen ab­ge­ris­se­ne Un­ter­hal­tun­gen zu Rosa em­por – über das Wet­ter – Bruch­tei­le ei­ner Er­zäh­lung. ru­hi­ge, gleich­mä­ßig be­rich­ten­de Stim­men. Aus den ge­öff­ne­ten Fens­tern schol­len Lau­te: ein Schel­ten – La­chen – Gäh­nen – Teller­ge­klap­per – ein ver­nehm­li­ches »Gute Nacht«.

Das gan­ze in­ners­te Haus­le­ben drang in die Som­mer­nacht hin­aus und ließ sich un­ter dem Stern­him­mel eben­so be­hag­lich ge­hen wie un­ter der nied­ri­gen Zim­mer­de­cke. Hin und wie­der ra­schel­te ein nie­der­fal­len­der Tau­trop­fen im Laub, und die feuch­ten Blät­ter be­gan­nen stark und wohl­tu­end zu duf­ten.

 

Wei­ter die Stra­ße hin­ab, vor der Kir­che, tra­ten die Bäu­me dich­ter zu­sam­men, und un­ter ih­ren Äs­ten war es ganz fins­ter, den­noch ver­moch­te Rosa von ih­rem Fens­ter aus hie und da ein wei­ßes Mäd­chen­kleid zu er­spä­hen, oder eine bren­nen­de Zi­gar­re leuch­te­te wie ein ro­ter Stern. Hel­les Mäd­chen­la­chen er­scholl, hohe aus­ge­las­se­ne No­ten in die Stil­le ru­fend. So man­che Dienst­magd moch­te sich dort mit ih­rem Schatz der lau­en Nacht freu­en. Rosa nahm In­ter­es­se dar­an. Jene Bäu­me schie­nen et­was Ge­heim­nis­vol­les, Sü­ßes und Lus­ti­ges zu ber­gen, et­was, das sie in ihr ar­mes Le­ben her­über­wünsch­te, et­was von je­nem Ge­fühl­vol­len, das der schö­ne Abend sie er­seh­nen ließ. Ach Gott, ja – et­was…

Im Ne­ben­zim­mer reg­te es sich. Das war Ag­nes Stock­mai­er. Sie wird so­gleich in das Zim­mer tre­ten und die Lam­pe brin­gen. Die Lam­pe mit ih­rem blau und wei­ßen Por­zel­lan­fuß wird, wie je­den Abend, dort auf der ro­ten Tisch­de­cke ste­hen und ih­ren gel­ben Licht­kreis auf die Zim­mer­de­cke wer­fen. Ja, und der Va­ter wird heim­kom­men und von Klappe­kahl, La­nin und dem Dok­tor er­zäh­len; und sie, Rosa, wird ver­stimmt und un­freund­lich ge­gen ih­ren Va­ter sein – und wie­der ist ein Tag ih­res Le­bens ver­lo­ren. Das muss­te ge­än­dert wer­den! – Gut, mor­gen woll­te sie Her­weg sa­gen, er sol­le sie un­ten am Fluss um neun Uhr abends er­war­ten. Ein wah­res, ech­tes Stell­dich­ein soll­te das wer­den, wie die Bäu­me drü­ben es ver­deck­ten. Her­weg war heu­te gut und poe­tisch ge­we­sen, da konn­te sie ihm wohl et­was zu­lie­be tun. Auf die­se Wei­se wür­de sie doch auch ein­mal teil­ha­ben an der Som­mer­nacht und ih­rem Ge­mun­kel. Der Ge­dan­ke war gut.