Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

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  • Maht: 1920 lk. 1 illustratsiooni
  • Žanr: KirjanduskriitikaMuuda
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Viertes Kapitel

End­lich kam der Früh­ling. Laue Win­de fuh­ren über Ti­glau hin. Der Schnee war fort. Von den Dä­chern tropf­te es be­stän­dig und er­füll­te den Ort mit heim­li­chem Klin­gen. Die Ebe­ne um Ti­glau war blank von Was­ser­la­chen, und auf der Gas­se lag der Kot fuß­hoch. Frau Böhk hat­te täg­lich wäh­rend der Mahl­zei­ten neue Ge­schich­ten zu er­zäh­len, von schwie­ri­gen Pas­sa­gen und von den Wa­den der Ti­glau­er Frau­en­zim­mer. Um die Zeit, da man nur hoch­ge­schürzt über die Stra­ße ge­hen konn­te, er­leb­te Frau Böhk Wun­der.

»Dass des Apo­the­kers Eli­se spin­del­dürr ist, wuss­te ich längst«, sag­te sie, »aber sol­che Bei­ne habe ich ihr doch nicht zu­ge­mu­tet. Und die Schrei­ne­rin hat Sä­bel­bei­ne, das habe ich auch noch nicht ge­wusst. – Was? Die Ger­trud vom ›Ro­ten Hir­sch‹ soll hübsch sein? Ich bit­te dich, Böhk, sie hat ja kei­ne Wa­den – so­we­nig wie ich am klei­nen Fin­ger Wa­den habe!«

Un­ter dem Rin­nen und Trop­fen, un­ter dem Re­gen, der fein und has­tig nie­der­fiel, wäh­rend die Son­ne wie durch ein Glas­git­ter hin­durch­schi­en, be­gann die Erde lang­sam zu grü­nen. Durch die ge­öff­ne­ten Fens­ter brach­te der Wind die an­ge­neh­men Düf­te feuch­ter Erd­schol­len und jun­ger Wei­den­kätz­chen ins Zim­mer.

Die Mäd­chen wa­ren in die­ser Zeit rein wie toll. So­viel Frau Böhk auch zank­te, sie hiel­ten es auf die Dau­er bei kei­ner Ar­beit mehr aus. Kaum kehr­te die Tan­te den Rücken, so wa­ren sie fort; weiß es Gott, wo! Nach lan­ger Ab­we­sen­heit erst kehr­ten sie mit ro­ten Ba­cken, nas­sen Haa­ren und aus­ge­las­se­nen blan­ken Au­gen zu­rück, be­son­ders Mar­tha. Sie konn­te nicht mehr le­ben, ohne den Pe­ter ne­ben sich zu ha­ben. Lief sie nicht zu ihm hin­über, so saß er ge­wiss in ir­gend­ei­nem Win­kel des Ho­fes und war­te­te auf sie.

»Im Früh­jahr, wis­sen Sie, Fräu­lein, ist es im­mer so. Wa­rum, weiß ich nicht«, sag­te sie mit ih­rem hüb­schen brei­ten Kin­der­la­chen, »und dann, wer weiß, was die­ses Jahr noch ge­schieht!« füg­te sie ernst hin­zu und seufz­te so tief, dass die blaue Ja­cke krach­te,

Rosa war lei­dend. Bei je­der Be­schäf­ti­gung muss­te sie bald vor Mü­dig­keit die Arme sin­ken las­sen, um sich bleich und matt auf ihr Sofa zu le­gen, die Glie­der schwer wie Blei. Dort lag sie den Tag über. Von ih­rem La­ger aus sah sie durch das Fens­ter ein Stück des grell­grü­nen Lan­des und den Him­mel, des­sen Blau hell und kräf­tig ge­wor­den war. Wun­der­lich zer­ris­se­ne und ge­zack­te Wol­ken wur­den vor­über­ge­trie­ben; die einen weiß und zer­brech­lich, an­de­re mas­si­ger und mit grau­em Me­tall­glanz. Auf dem Fens­ter­brett stand ein Tel­ler vol­ler Veil­chen, und gel­be Son­nen­strah­len spiel­ten über ihn hin. Im Hau­se war es still, nur im Hofe kräh­ten die Häh­ne un­abläs­sig.

Heu­te vor ei­nem Jahr hat­te die gan­ze trau­ri­ge Ge­schich­te noch nicht be­gon­nen, dach­te Rosa, und nun ge­mahn­te sie al­les an jene Tage, die ihr rein und glück­lich schie­nen. Al­les sah sie wie­der vor sich: die Rei­he der nas­sen Ga­lo­schen im Flur der Schank­schen Schu­le, die Schul­zim­mer­fens­ter weit of­fen, so dass man nach der win­ter­li­chen Ab­ge­schlos­sen­heit das Ge­fühl hat­te, als wür­de der Un­ter­richt auf der Stra­ße er­teilt; die Un­ter­hal­tun­gen mit Ma­ri­an­ne und Sal­ly auf den Flie­sen der Trep­pe, wäh­rend es vom Da­che be­stän­dig her­ab­reg­ne­te; Mu­sik im Stadt­gar­ten, wozu man den neu­en Hut auf­setz­te. Ja, die gan­ze aus­ge­las­se­ne, er­war­tungs­vol­le Früh­lings­un­ru­he, die ei­nem das Herz bis in den Hals hin­auf schla­gen ließ! –

Ab und zu ging Rosa in den Gar­ten hin­un­ter, der ne­ben dem Spei­cher lag, und saß dort auf ei­ner Schau­kel­bank, wäh­rend Hans vor ihr ein Beet um­grub.

»So geht es nicht!« er­klär­te Frau Böhk ei­nes Ta­ges, »noch sind wir nicht so weit, dass wir zu Hau­se hocken müs­sen. Heu­te ha­ben wir erst den 10. Mai. Fri­sche Luft – Zer­streu­ung! – Sie be­kom­men ja wei­ße Wan­gen. Mor­gen ge­hen wir alle an den Bach, Kreb­se fan­gen. Die Leb kommt auch mit. Sie müs­sen da­bei­sein. Ich sehe schon dar­auf, dass es Ih­nen nichts scha­det. Nur nicht die Cou­ra­ge ver­lo­ren, das taugt nichts.«

Von die­sem Krebs­fang sprach Herr Böhk schon vie­le Wo­chen. Er und Hans be­schäf­tig­ten sich meh­re­re Tage da­mit, die run­den Net­ze an die Ste­cken zu bin­den, und über­wach­ten ei­fer­süch­tig die Fleisch­ab­fäl­le der Kü­che, um sie als Kö­der für die Kreb­se zu ver­wen­den.

Spät am Nach­mit­tage brach man zum Bir­ken­wäld­chen auf. Die Mäd­chen, Herr Böhk und Hans tru­gen die Gerä­te vor­aus. Frau Böhk führ­te Rosa. Frau Leb ging ne­ben­her und trug den Eß­korb. Sie war eine klei­ne, sehr dür­re Frau mit ei­nem blei­chen, ver­küm­mer­ten Ge­sicht, rot­ge­rän­der­ten Au­gen­li­dern und ei­ner ver­schnupf­ten Nase. Sie trug ein schwar­zes Kleid, und auf dem spär­li­chen rot­brau­nen Haar saß eine ver­staub­te Hau­be aus schwar­zen Baum­woll­spit­zen. Sie sprach un­un­ter­bro­chen. Frau Böhk hat­te ihr so­viel von dem Fräu­lein er­zählt, aber so hübsch hat­te sie es sich doch nicht vor­ge­stellt. Wann war der Ter­min? Ende Juni – so – so –, da wird die Leb wohl auch hel­fen müs­sen. Die Leb half im­mer bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten, denn Frau Böhk war so be­schäf­tigt, dass sie ihre Kran­ken oft ver­las­sen muss­te.

Über die Ebe­ne fuh­ren ei­li­ge Wol­ken­schat­ten hin. Rechts von Ti­glau lag die Land­stra­ße, von Pap­peln ein­ge­fasst, die schmal und dun­kel in all dem Lich­te stan­den. Mit­ten auf der Wie­se stand das Bir­ken­wäld­chen, ein luf­ti­ger grü­ner Ne­bel.

Die an­dern wa­ren weit vor­aus. Mar­tha und Gre­the in ih­ren wei­ten blau­en Rö­cken wieg­ten sich sach­te in den Hüf­ten und tru­gen die Stan­gen und Net­ze auf den Schul­tern. Herr Böhk hob sich un­end­lich dünn ge­gen das Him­mels­blau ab.

Als Rosa, Frau Böhk und die Leb im Wäld­chen an­lang­ten, wa­ren die Net­ze be­reits ins Was­ser ge­steckt wor­den. Dort, wo das Er­len­ge­büsch den Bach be­schat­te­te, wo das Was­ser still und schwarz war, dort soll­te, wie Herr Böhk ver­si­cher­te, die ge­eig­nets­te Stel­le sein.

»Nur nicht dort, wo die Son­ne hin­scheint! Da mer­ken ja die Kreb­se, dass wir sie be­trü­gen wol­len. So klug sind sie auch. Spä­ter, wenn’s fins­ter ist, dann ist es gleich. Die großen Kreb­se kom­men oh­ne­hin erst mit der Dun­kel­heit. Jetzt stei­gen nur die klei­nen, dum­men.«

»Gut, gut!« mein­te Frau Böhk. »Sorgt ihr für die Kreb­se, wir set­zen uns hier­her. Bis Son­nen­un­ter­gang kann das Fräu­lein ei­ni­ge Net­ze her­aus­zie­hen, das wird ihr nicht scha­den.«

Rosa er­rö­te­te vor Freu­de. In letz­ter Zeit dar­an ge­wöhnt, von je­der Fröh­lich­keit der Ju­gend aus­ge­schlos­sen zu wer­den, er­schi­en es ihr jetzt wie ein großes Glück, mit­tun zu dür­fen. Herr Böhk lei­te­te sie sehr lie­bens­wür­dig an. Be­hut­sam muss­te sie an den Bachrand tre­ten, die Netz­stan­ge er­fas­sen und ge­schwind her­aus­zie­hen, dann fie­len die Kreb­se, die sich um den Kö­der ver­sam­melt hat­ten, zap­pelnd in das run­de Netz. Präch­tig war es, die glän­zen­den schwar­zen Tie­re vor­sich­tig zu fas­sen und in den Korb zu tun, wo sie ihre Scha­len an­ein­an­der rie­ben und ein Geräusch mach­ten, als flüs­te­re je­mand. Mar­tha und Gre­the hat­ten sich Schu­he und St­rümp­fe aus­ge­zo­gen, stampf­ten lus­tig im nas­sen Moo­se um­her und kreisch­ten auf, wenn das Was­ser ih­nen kalt an die Bei­ne schlug.

Die Son­ne ging un­ter. Ihre letz­ten Strah­len ga­ben den Bir­ken­stäm­men ro­si­ge Fleisch­tö­ne, dass es aus­sah, als hiel­ten vie­le knor­ri­ge Arme das zar­te Laub em­por. Eine Schaf­her­de, die fern auf der Wie­se wei­de­te, ward rot an­ge­leuch­tet, und über den gan­zen Him­mel war ein ro­ter Far­ben­topf aus­ge­gos­sen.

»Wie ge­sot­te­ne Kreb­se sieht al­les aus«, be­merk­te Herr Böhk. Nie­mand lach­te dar­über. Alle hiel­ten sich in dem Licht­ba­de still, das über sie hin­floss.

»Die Son­ne geht un­ter«, mahn­te Frau Böhk. »Kom­men Sie zu uns, lie­bes Fräu­lein.«

Rosa setz­te sich zu den Frau­en, ließ sich von der Heb­am­me warm zu­de­cken, lehn­te den Kopf an einen Baum­stamm und schau­te zu. Ihr war wohl. Al­les Trü­be und Schwe­re muss vor­über­ge­hen – und dann bleibt noch im­mer das schö­ne Ding – Le­ben – üb­rig – noch Raum für man­ches Glück.

Schnell zog die Dun­kel­heit her­an. Der Him­mel wur­de bleich und glä­sern. In den Bir­ken­zwei­gen hing hie und da ein Stern. Der Bach dampf­te; über die Wie­se er­goß sich der Ne­bel weiß wie Milch. Wei­ter un­ten am Bach ward ein Feu­er an­ge­steckt, Stim­men schall­ten her­über. »Dort kreb­sen die vom ›Ro­ten Hir­sch‹«, sag­te die Leb. Auf der an­de­ren Sei­te ward Pfer­de­ge­trap­pel laut. Die Pfer­de des Orts wur­den auf die Wei­de ge­trie­ben. Sie zer­streu­ten sich über die Wie­se; man ver­nahm ihr Schnau­fen, und zu­wei­len klatsch­te es, wenn ein Pferd auf eine sump­fi­ge Stel­le ge­ra­ten war. In der Fer­ne spiel­te eine Har­mo­ni­ka einen Tanz; der Ton kam nä­her – jetzt war er ganz nah, und zwei dunkle Ge­stal­ten tauch­ten am Ba­che auf.

»Der Schmied- und der Schrei­ner­ge­sell«, er­klär­te Frau Böhk. Sie war heu­te mil­de ge­stimmt und ließ al­les ge­sche­hen.

Am Ba­che wur­de es jetzt leb­haft; sie lach­ten dort, schri­en auf, die Net­ze plät­scher­ten im Was­ser, die Har­mo­ni­ka sang mit ih­rer durch­drin­gen­den Stim­me da­zwi­schen, dann plötz­lich wur­de es still.

Die Frau­en hat­ten sich über den Eß­korb her­ge­macht, aßen und spra­chen halb­laut mit­ein­an­der. »Die Wurst ist gut. Von vo­ri­gem Herbst, nicht wahr?« frag­te die Leb. »Ich neh­me auf sol­che Par­ti­en nichts mit, des Schlep­pens we­gen, wis­sen Sie. Nur mei­ne Fla­sche.«

»Was ha­ben Sie denn Gu­tes in der Fla­sche?«

 

»Se­hen Sie hier. Kirsch­geist ist das – für den Ma­gen. So et­was muss ich im­mer bei mir ha­ben, das frischt das Herz auf.«

»Ja – ja«, er­wi­der­te Frau Böhk; dann tran­ken sie bei­de.

»Dass es mit der Bäcke­rin so schnell zu Ende ge­hen wür­de, habe ich nicht ge­dacht«, hub die Leb wie­der an. »Eine hüb­sche, leich­te Ge­burt, und dann kommt so ein Fie­ber, und aus ist’s.«

»Ja, da kann nie­mand hel­fen«, be­stä­tig­te die Heb­am­me. »Und in letz­ter Zeit hab ich Un­glück mit dem Kind­bett­fie­ber. Der drit­te Fall in die­sem Jahr. Al­les geht gut, und eh man sich’s ver­sieht, ist die Per­son tot! Wahr­haf­ti­ger Gott, die­ses Jahr hab ich Un­glück.«

»Wann wird die Bäcke­rin be­stat­tet?«

»In zwei Ta­gen; aber der Bä­cker wird kei­ne großen Um­stän­de ma­chen.«

»Hö­ren Sie, die Be­er­di­gung beim Krä­mer war nicht schlecht.«

»Es ging an.«

»Oh, nicht schlecht! Die Schweins­sulz war so­gar recht gut; und für’s Her­rich­ten der Lei­che hat er mir auch ziem­lich no­bel ge­zahlt.«

Rosa hör­te zu. Die Bäcke­rin war also tot. Die­se Nach­richt ging an­fangs an ihr vor­über, wie so vie­le der Kran­ken­ge­schich­ten, die Frau Böhk zu er­zäh­len pfleg­te. Plötz­lich je­doch kam ihr der Ge­dan­ke: Wie? Da­ran stirbt man? Es ist ein un­glück­li­ches Jahr, sagt die Frau Böhk. Und ich? Ein wun­der­li­ches, nie emp­fun­de­nes Ge­fühl der To­des­furcht er­griff Rosa. Das Wort »Tod«, die­ses alte Wort, das sie un­zäh­li­ge Mal aus­ge­spro­chen hat­te, klang heu­te be­deu­tungs­voll und fremd, nun, da es zu ihr ge­hör­te.

Die Dun­kel­heit, die feuch­te Käl­te, die von den Zwei­gen nie­der­fiel, be­drück­ten Rosa. Der star­ke Duft der Bir­ken er­in­ner­te sie an die Kir­che, die man für einen To­ten mit Mai­en schmückt. Und doch – sie muss­te hier blei­ben. Eine un­ver­stan­de­ne Scham­haf­tig­keit ließ sie fürch­ten, die an­de­ren könn­ten ihre Angst be­mer­ken.

Schräg durch die Bir­ken­zwei­ge drang ein Licht wie der Schein ei­ner Lam­pe, der durch Vor­hän­ge auf die Stra­ße fällt. Das Licht stieg und wuchs. Der Mond war hin­ter den Wol­ken des Ho­ri­zonts her­vor­ge­kom­men, und als er hoch am Him­mel stand, ver­brei­te­te er eine große, mil­de Klar­heit. Die Pap­peln stan­den ganz in sil­ber. Auf der Land­stra­ße un­ter­schied man deut­lich einen Wa­gen, mit zwei Pfer­den be­spannt. Er roll­te da­hin wie ein zier­li­ches schwar­zes Spiel­zeug, an dem eine Glo­cke un­abläs­sig läu­te­te.

»Der Mond ist schon da«, mein­te Frau Böhk, »da muss es spät sein. Gott, mein Fräu­lein hat ganz kal­te Hän­de! Ge­schwind nach Hau­se! Wo sind nur die an­dern?«

Frau Leb hielt nach­denk­lich ein Stück Wurst in der Hand, sag­te: »Der Mond ist schön rund«, und blick­te em­por, den Kopf leicht zur Sei­te nei­gend, wie ein Hund, der ins Ka­min­feu­er schaut.

»Hu – hu – nach Hau­se!« rief Frau Böhk in die Nacht hin­aus.

»Wir kom­men«, ant­wor­te­te es hin­ter den Er­len.

»Gut, gut!« sag­te Frau Böhk, »sie mö­gen die Net­ze neh­men. Wir ge­hen vor­aus.«

Auf dem Heim­weg wa­ren die Frau­en sehr an­ge­regt und spra­chen eif­rig mit­ein­an­der. Rosa ging still ne­ben ih­nen her. Die schwar­zen Ge­dan­ken wa­ren fort, und große Mü­dig­keit las­te­te auf ihr.

Die an­de­ren ka­men nach. Man hör­te sie sin­gen. Als Rosa sich um­schau­te, sah sie im hel­len Mond­schein ein je­des der Mäd­chen eng an einen Bur­schen ge­schmiegt ein­her­ge­hen. Herr Böhk spiel­te die Har­mo­ni­ka; Hans trot­tel­te nach.

In der Nacht hat­te Rosa einen pein­vol­len Traum. Sie lag in ih­rer Kam­mer, träum­te ihr, die Leb stand vor ihr und sag­te: »Die vier­te, die uns stirbt.« Und mit der Un­fehl­bar­keit, mit der im Traum das Er­war­te­te ein­trifft, be­gann das Ster­ben schon: Eine kal­te Schwe­re be­drück­te die Glie­der, und sie fühl­te eine große Lee­re in sich. Das war das Ster­ben. Noch als Rosa er­wach­te, spür­te sie die Traum­emp­fin­dung im gan­zen Kör­per.

Seit je­ner Nacht kehr­ten die To­des­ge­dan­ken im­mer wie­der. Es wur­de bei Rosa zur aus­ge­mach­ten Sa­che, dass sie ster­ben wür­de. Die­ser arme Mäd­chen­kopf, dem es nie ein­ge­fal­len war, das We­sen der Din­ge er­grün­den zu wol­len, der nur ru­hig die Tor­hei­ten des Le­bens in sich hat­te her­um­sum­men las­sen, er müh­te sich jetzt ab, das Un­be­greif­li­che zu fas­sen: »Ich wer­de krank sein. Alle Men­schen wer­den mich ver­sto­ßen. Auf der Stra­ße wer­de ich bet­teln müs­sen. Bei Sal­ly wer­de ich Dienst­magd wer­den, wenn sie Tod­dels ge­hei­ra­tet hat.« Das ließ sich doch al­les we­nigs­tens den­ken, so un­mög­lich und schreck­lich es auch war. Aber »ich wer­de nicht mehr sein«, wie ist das? –

Oft, wenn die To­de­sah­nun­gen zu ei­nem emp­find­sa­men Mit­leid um das ei­ge­ne Ich wur­den, konn­te Rosa wohl in ih­rer al­ten, kin­di­schen Wei­se sich al­les aus­ma­len, an sich wie an die Hel­din ei­nes Bu­ches den­ken: der letz­te Brief an den Va­ter, die Ab­schieds­wor­te an Frau Böhk, an die Mäd­chen: »Mar­tha, wer­den Sie glück­lich!« –, der Sarg ganz von wei­ßen Ro­sen über­deckt – und dann? Dann er­hob sich wie­der die schwar­ze Mau­er, an der sich alle Phan­tasi­en die Flü­gel knick­ten; dann – nichts mehr.

Die­se dump­fe To­des­angst ver­ließ Rosa nicht mehr; wenn sie die­sel­be auch auf Au­gen­bli­cke ver­gaß, sie spür­te sie den­noch, wie einen Schmerz, der sich un­ver­stan­den durch un­se­re Träu­me zieht und sie ver­bit­tert.

Ihre Ju­gend sträub­te sich ge­gen die­sen Ge­dan­ken: »Es kann nicht sein! Wer stirbt denn mit acht­zehn Jah­ren?« Die­ser Kampf, den Rosa sorg­fäl­tig in sich ver­schloss, gab ih­rem We­sen et­was rüh­rend Mil­des. Ei­nen je­den, der mit ihr sprach, sa­hen ihre Au­gen hil­fe­su­chend an. Nach Men­schen sehn­te sie sich. Gleich­viel wer, wenn es nur ein Mensch war, wenn sie sich, nur fest an das Men­sch­li­che, an die Erde an­klam­mern durf­te. Brach­te Herr Böhk ihr eine De­cke, um ihr auf der Schau­kel­bank da­mit die Füße zu be­de­cken, tät­schel­te Frau Böhk ihr den Arm und nann­te sie »lie­bes Kind«, so war Rosa tief be­wegt. Die­ses jun­ge We­sen, das sich ge­gen sei­ne Ver­nich­tung auf­lehn­te, griff nach al­lem, was es mit den Men­schen und dem Le­ben ver­bin­den konn­te.

Zu­wei­len dach­te Rosa an die Re­li­gi­on. Wenn man stirbt, kommt man ent­we­der in den Him­mel oder in die Höl­le; das war eine alte Ge­schich­te, die je­des Kind kann­te, schon be­vor es in die Schu­le ging. Spä­ter, im Kon­fir­ma­ti­ons­un­ter­richt, lern­te man mehr dar­über: Um in den Him­mel zu kom­men, muss man be­ru­fen – er­leuch­tet – ge­hei­ligt wer­den. Auch die Stu­fen der Buße konn­te Rosa noch an den Fin­gern her­zäh­len. Sie wie­der­hol­te sich das al­les jetzt. Es sag­te ihr je­doch nichts. Ihre sinn­li­che, auf das Un­mit­tel­ba­re ge­rich­te­te Na­tur ver­moch­te nicht, sich vor der Höl­le zu fürch­ten oder sich nach dem Him­mel zu seh­nen. Das Auf­hö­ren des Ir­di­schen war die Tat­sa­che, bei der ihr Herz auf­schrie. Trotz al­ler Bit­ter­nis­se, die sie er­fah­ren hat­te, war der Tod doch für Rosa das Ver­las­sen ei­nes Fes­tes, wäh­rend die an­de­ren wei­ter­tan­zen durf­ten. Nicht mehr zu sein, das ging ihr ge­gen die Na­tur.

Wäh­rend Rosa mit ih­ren neu­en düs­te­ren Emp­fin­dun­gen rang, sah es im Böhkschen Fa­mi­li­en­krei­se auch nicht lus­tig aus. Mar­tha und Frau Böhk hat­ten einen sehr hef­ti­gen Auf­tritt mit­ein­an­der ge­habt. Das Mäd­chen er­klär­te der Tan­te ei­nes Mor­gens: »Der Pe­ter geht nach Ame­ri­ka zu sei­nem On­kel. Ich gehe mit – und bit­te die Tan­te, mir das Geld von mei­nem Va­ter, das sie mir auf­hebt, zu ge­ben.«

Frau Böhk war an­fangs sprach­los vor Ent­rüs­tung, dann fuhr sie auf das Mäd­chen los: »Nicht einen Schritt gehst du die­sem Men­schen nach – solch ei­nem Lum­pen, solch ei­nem Ha­be­nichts. Gut, dass er nach Ame­ri­ka geht, das tun alle Lum­pen. Aber du ihm nach­lau­fen!«

Mar­tha ward sehr bleich, rang krampf­haft ihre Schür­ze und sag­te: »Ja, Tan­te, ich wer­de den Pe­ter doch nicht al­lein fort­ge­hen las­sen, und – da woll­te ich mein Geld.«

»Ihr Geld!« Frau Böhk lach­te: »Frag in zwei Jah­ren nach. So­lan­ge der On­kel dein Vor­mund ist, be­kommst du kei­nen Hel­ler. Ja, das Geld will der Lump ha­ben, nach dir fragt er ver­teu­felt we­nig. Geh du mit ihm zum Kuckuck, das Geld be­kommst du nicht. Hast du ge­hört? Nach Ame­ri­ka will das lie­der­li­che Ding mit dem ers­ten bes­ten – mir nichts, dir nichts durch­ge­hen!«

Von der Sa­che war nicht mehr die Rede. Mar­tha ging ernst im Hau­se um­her und sprach kein Wort mit der Tan­te. Am Abend, an dem Pe­ter den Ort ver­las­sen soll­te, sah Rosa vom Fens­ter aus Mar­tha über die Wie­se heim­kom­men. Die Arme ließ sie müde am Kör­per nie­der­hän­gen und hielt den Kopf ge­senkt. Sie hat­te Pe­ter das Ge­lei­te ge­ge­ben. Von Zeit zu Zeit blieb sie ste­hen, schirm­te mit der Hand die Au­gen und blick­te zu den Pap­peln der Land­stra­ße hin­über. Heim­ge­kom­men, stieg sie still zu ih­rer Kam­mer hin­auf.

Rosa ward von Mit­leid tief er­grif­fen. Jetzt, da sie selbst litt, konn­te sie kei­nen lei­den se­hen. Sie ver­stand frem­des Leid zu gut, und es quäl­te sie wie ei­ge­nes. Sie woll­te Mar­tha trös­ten, woll­te ihr sa­gen, dass es viel­leicht so bes­ser sei, wie es ge­kom­men. Sie war ja wei­se ge­wor­den und konn­te an­de­re war­nen.

Am fol­gen­den Mor­gen sa­ßen Rosa und Mar­tha im Gar­ten auf der Schau­kel­bank. Der Tag war schwül. Die Son­ne brann­te auf die we­ni­gen Bee­te des Gar­tens nie­der, und die Luft war voll war­mer Nar­zis­sen- und Ho­lun­der­düf­te. Mar­tha, bleich, dunkle Rin­ge un­ter den Au­gen, biss an ei­nem Gras­halm und hör­te zu, wäh­rend Rosa sehr ein­dring­lich sprach: »Se­hen Sie, Mar­tha, wir glau­ben zu­wei­len: Jetzt ist die Lie­be da, weil wir so un­ge­dul­dig auf sie war­ten, im­mer von ihr spre­chen. Nach­her ist es dann doch kei­ne Lie­be ge­we­sen, und wir sind un­glück­lich und kön­nen es nicht mehr än­dern.« Rosa hielt inne. Sie staun­te über ihre ei­ge­nen Wor­te. Erst im Spre­chen war ihr das, was sie sag­te, klar­ge­wor­den. Mar­tha aber schüt­tel­te sach­te den Kopf: »Man­chen mag es so ge­hen«, mein­te sie, »aber bei mir, Fräu­lein, glau­be ich nicht, dass es bes­ser kom­men wird. Wie es ist, so wird es blei­ben. Für mich ist das gut ge­nug. Ich habe mich an den Pe­ter ge­wöhnt, bin drei Jah­re mit ihm ge­gan­gen; nun wäre es für mich zu hart, ohne ihn aus­zu­kom­men, drum geh ich ihm nach. Nach zwei Jah­ren kann die Tan­te uns das Geld schi­cken, bis da­hin wer­den wir zu­se­hen, wie wir aus­kom­men.«

Rosa er­rö­te­te. Es war ihr, als hät­te sie vor­hin dem Mäd­chen ihre ei­ge­ne elen­de Lie­bes­ge­schich­te ver­ra­ten, und Mar­tha ant­wor­te­te ihr mit dem fes­ten, über­le­ge­nen Aus­druck ih­rer ein­fa­chen Lie­be: »Es wäre zu hart für mich, ohne ihn aus­zu­kom­men. Drum geh ich ihm nach.« – Oh, sie hat­te tau­send­fach recht! Rosa beug­te de­mü­tig das Haupt vor die­ser ru­hi­gen Lie­be – die sich ih­rer selbst be­wusst war.

»An­fangs woll­te er nichts da­von hö­ren«, fuhr Mar­tha fort. »Nun ja, die Män­ner, wis­sen Sie, Fräu­lein, die ge­wöh­nen sich leich­ter an eine an­de­re. ›Was wirst so weit fort­ge­hen?‹ sag­te er. Er glaubt viel­leicht, ich wer­de ihm dort zur Last sein. Aber als er ging, hat er doch ge­weint: ›Es tut mir leid, von dir zu ge­hen‹, sag­te er. Gott! Der wird Au­gen ma­chen, wenn ich über­mor­gen früh bei ihm bin! Mor­gen abend geh ich aus, über­mor­gen früh geht das Schiff ab, so bin ich noch zur rech­ten Zeit in der Stadt. – Ja, was soll man ma­chen«, schloss Mar­tha, seufz­te und ging ins Haus.

Am Abend der Tren­nung ga­ben Rosa, Gre­the und Ge­org, der Schrei­ner­ge­sell, Mar­tha das Ge­lei­te. Mar­tha trug ihr ge­wöhn­li­ches blau­es Kleid; um den Kopf hat­te sie ein wei­ßes Tuch ge­schlun­gen; ihre ge­rin­ge Habe war in ein Bün­del ge­schnürt. Gre­the wein­te und frag­te ihre Schwes­ter im­mer wie­der, ob sie auch ge­nug zum es­sen mit auf den Weg ge­nom­men habe. »Ach, da war auch der Käse, den der Ge­org mir ges­tern brach­te, dass ich dir den nicht mit­ge­ge­ben habe! Ge­org, lauf nach Hau­se…«

»Nein, lass es nur!« sag­te Mar­tha. »Ich habe selbst einen Käse mit­ge­nom­men.«

»Sol­che Bir­ken gibt es wohl drü­ben nicht«, be­merk­te Ge­org, wies auf das Bir­ken­wäld­chen und lach­te ver­le­gen.

»Ich weiß nicht«, er­wi­der­te Mar­tha.

Die Wie­se hat­ten sie quer durch­schrit­ten und nä­her­ten sich den Pap­peln. »Wei­ter darf das Fräu­lein nicht ge­hen«, mein­te Mar­tha.

Sie nah­men Ab­schied. Mar­tha küss­te alle, auch Ge­org. Nie­mand wein­te. Die Fei­er­lich­keit des Au­gen­blickes be­drück­te die­se ein­fa­chen Men­schen und mach­te sie be­fan­gen. So wur­de denn der Ab­schied kurz und wort­arm.

 

Als Mar­tha fort­ging, wand­te sie sich noch ein­mal um, lä­chel­te und sag­te: »Grüßt mir den On­kel, und den Hans auch. Be­hü­te euch Gott.« Die an­de­ren schau­ten ihr eine Wei­le nach, dann gin­gen auch sie heim. Gre­the drück­te ihr Ge­sicht fest an den grau­en Rock­är­mel ih­res Schrei­ner­ge­sel­len und schluchz­te. Ster­ne stan­den schon am Him­mel, ganz blass und sil­bern in der Däm­me­rung der Früh­lings­nacht. Drü­ben in den Bir­ken schlu­gen zwei Nach­ti­gal­len, und in der Fer­ne hör­te man ab­ge­ris­se­ne Töne ei­nes Lie­des. Rosa blieb ste­hen und horch­te. War es nicht Mar­tha, die sang? Dort ging sie ja. Hin­ter den Pap­peln stand am Him­mel noch ein Strei­fen mil­den Gol­des; von die­sem lich­ten Strei­fen hob sich Mar­thas Ge­stalt scharf ab; ihr Bün­del in der Hand, das flat­tern­de wei­ße Tuch auf dem Kopf, schwank­te sie ein we­nig beim Ge­hen – und von dort ka­men die Töne. Rosa muss­te ihr nach­schau­en, bis sie in der Däm­me­rung ver­schwand. »Mar­tha«, sag­te sich Rosa, »geht mu­tig ih­rer Lie­be nach. Mir ist nie der Ge­dan­ke ge­kom­men, mei­ner Lie­be nach­zu­ge­hen; ich habe ja auch nur je­nes dum­me Ding ge­kannt, das wir in der Schu­le ›ver­liebt sein‹ nann­ten. Nur, dass ich die­se al­ber­ne Schul­lie­be erns­ter nahm als die an­de­ren. Aber bei Mar­tha – da ist’s schön!«

Frau Böhk er­fuhr erst am nächs­ten Mor­gen Mar­thas Flucht. An­fangs sag­te sie nur: »Hol sie der Kuckuck!« Plötz­lich aber stieg ihr die Auf­re­gung zu Kopf. Sie tob­te ge­gen je­den, von dem sie an­nahm, er habe um Mar­thas Ge­heim­nis ge­wusst; sie woll­te sich so­gar an die Ge­rich­te wen­den. Aber auch die­ser Zorn ver­rauch­te bald, und Mar­thas Name wur­de von Frau Böhk nie mehr ge­nannt.