Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

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Viertes Kapitel

Am fol­gen­den Tage traf Rosa Her­weg auf dem Weg in die Schu­le und be­stell­te ihn für elf Uhr in die Lau­be. Her­weg mach­te ein über­rasch­tes und er­freu­tes Ge­sicht und dach­te kei­nen Au­gen­blick an die Ge­fahr ei­ner aber­ma­li­gen Ver­säum­nis. Der Plan ei­ner abend­li­chen Zu­sam­men­kunft mit Her­weg stand bei Rosa noch im­mer fest. »Ich bin es dem ar­men Jun­gen schul­dig«, sag­te sie sich, wenn ein we­nig Un­ru­he über ihr Vor­ha­ben sie be­schlich. So saß sie denn in ge­heim­nis­vol­ler Geis­tes­ab­we­sen­heit auf der Schul­bank und stütz­te den Kopf sor­gen­voll in die Hand.

»Ah! Rosa! Mein Herz!« Fräu­lein La­nin stand vor ihr. Auch sie war heu­te be­son­ders sin­nig und drück­te ih­ren Noël, un­ter dem sich der dün­ne ach­te Band von »Em­mas Schmerz« ver­barg, fest an das Herz. »Weißt du, ich mei­ne das, wo­von wir ges­tern spra­chen. Du ent­sinnst dich – ah? – Er kommt viel­leicht schon heu­te abend.« – »So«, er­wi­der­te Rosa, sah ernst auf, hob lang­sam ihre Hand über den Tisch em­por und ließ sie schlaff wie­der sin­ken; eine hüb­sche Be­we­gung, die zu be­deu­ten schi­en: »Es ist gleich­gül­tig. Sie kom­men und ge­hen.«

»Ja«, fuhr Fräu­lein La­nin fort, und ob­gleich es sich of­fen­bar um ein wich­ti­ges Ge­heim­nis han­del­te, so sprach sie doch sehr laut: »Ich habe sei­net­we­gen – du weißt? – mit dem Papa eine erns­te – wirk­lich eine sehr erns­te – Un­ter­re­dung ge­habt, die mir viel zu den­ken gibt.«

»Ah.« Rosa hät­te gern Nä­he­res dar­über er­fah­ren, sie moch­te je­doch nicht fra­gen. Es war auch nicht nö­tig, denn Fräu­lein La­nin be­gann an­ge­le­gent­lich: »Er sagt, und er hat ge­wiss recht, dass un­se­re Fa­mi­lie mit der Auf­nah­me von A. T. sehr erns­te Pf­lich­ten über­neh­me und so­mit auch mir ein Teil – und weißt du, der Papa sagt, nicht der un­wich­tigs­te Teil – zu­fal­le.«

»Ah so! Ich ver­ste­he, weib­li­cher Ein­fluss«, schal­te­te Rosa ein.

»Das ist’s«, fuhr Fräu­lein La­nin fort. »Der arme jun­ge Mann ist leicht­sin­nig, ist ver­führt wor­den; er ist jetzt viel­leicht lei­dend; du weißt, die Brust – das kommt leicht bei sol­chen Ge­fühls­kri­sen. Da­bei ist er ver­wöhnt, der ein­zi­ge Sohn sehr rei­cher El­tern. Nun – ihm Be­frie­di­gung und Er­hei­te­rung zu bie­ten, das ist un­se­re Pf­licht. Ich habe be­schlos­sen, sehr freund­lich ge­gen ihn zu sein. Uns Frau­en ge­lingt es doch am bes­ten, sol­che Wun­den zu hei­len. Von der Tanz­ge­sell­schaft sprach ich schon mit dir. Nun – und im täg­li­chen Le­ben will ich in erns­ten Ge­sprä­chen sein Ver­trau­en er­wer­ben, will ihn auf den ein­zi­gen Trost, auf Gott, hin­wei­sen. Es ist eine schwe­re Auf­ga­be, ich weiß das wohl, aber sie ist schön, nicht wahr, mein Herz?«

Fräu­lein La­nin neig­te ih­ren Kopf auf die lin­ke Schul­ter und blick­te ihre Freun­din ernst an. Auf Rosa je­doch hat­te die­ser Be­richt einen ganz un­er­war­te­ten Ein­druck ge­macht. Sie, die ein wirk­li­ches Stell­dich­ein vor­hat­te, fühl­te sich heu­te über all ihre Ka­me­ra­din­nen er­ha­ben, und Fräu­lein Lan­ins Plä­ne er­schie­nen ihr kin­disch und mach­ten sie un­ge­dul­dig: »Ich ver­ste­he nicht, wie du glau­ben kannst, dass ein jun­ger, leicht­sin­ni­ger Mensch an from­men Ge­sprä­chen mit dir Ge­fal­len fin­den wird.«

Fräu­lein La­nin warf Rosa einen schnel­len Blick zu, rich­te­te sich dann ker­zen­ge­ra­de auf, zog die Au­gen­brau­en em­por, was ihr einen ver­ach­ten­den, aber ge­dul­di­gen Aus­druck ver­lieh, und sag­te fest: »Ich weiß es sehr ge­nau, bes­tes Herz, wie erns­te Wor­te auf jun­ge Leu­te wir­ken. Und er – mein Cou­sin«, sie be­ton­te die­ses Wort scharf, »er wird ge­wiss nicht ge­gen einen sanf­ten, wenn auch nicht welt­lich leicht­fer­ti­gen, son­dern, wie der Papa sagt, tie­fin­ner­li­chen weib­li­chen Ein­fluss un­emp­find­lich sein.«

Die­se Pe­ri­ode klang gut; Rosa je­doch lach­te un­ver­hoh­len und zuck­te die Ach­seln. »Mir will es schei­nen«, sag­te sie schnell, »dass die Be­keh­rung die­ses neu­en Ko­rin­then-Kon­rads nicht…« – »Er ist mein Cou­sin«, rief Fräu­lein La­nin sehr laut. – »Gut, gut«, fuhr Rosa toll­kühn fort, »ich glau­be, dass die Be­keh­rung nicht das ein­zi­ge ist, wor­auf du hoffst.« – »Son­dern – son­dern«, dräng­te Fräu­lein La­nin und kniff die Au­gen zu­sam­men, was sie für ein Zei­chen vor­neh­mer Kalt­blü­tig­keit hielt.

»Gleich­viel«, mein­te Rosa. »Ich wün­sche dir gu­ten Er­folg. Nur be­haup­te ich, dass lan­ge Pre­dig­ten nicht das rech­te Mit­tel sind. Ich we­nigs­tens wür­de mich da­für be­dan­ken.«

»Ja – du – du«, fuhr Fräu­lein La­nin auf, »ich habe mich sehr in dir ge­täuscht, gute Rosa! Und von jetzt ab…«

Fräu­lein Schank trat in das Zim­mer. Die Schü­le­rin­nen dräng­ten zu den Bän­ken; ein plötz­li­ches wir­res Durchein­an­der – der Lärm schar­ren­der Füße – das Klap­pen der Bü­cher – dann tie­fe Stil­le.

Rosa und Fräu­lein Sal­ly muss­ten sich tren­nen. Die­se, in der Auf­wal­lung ver­letz­ter Freund­schaft un­ter­bro­chen, be­gab sich lang­sam an ih­ren Platz. Zu­wei­len schau­te sie auf Rosa zu­rück, zuck­te mit den Ach­seln und Au­gen­brau­en; dann fal­te­te sie die Hän­de über der fran­zö­si­schen Gram­ma­tik und saß still und er­ge­ben da, wie es ei­ner from­men Chris­tin ge­bührt. Die­se er­ge­be­ne Ruhe wich auch nicht von ihr, als Fräu­lein Schank tro­cken ver­lau­ten ließ: »Sal­ly La­nin.« Die­ses hieß so viel als: »Ste­hen Sie auf und zei­gen Sie, dass Sie die La Fon­tai­ne­sche Fa­bel von den zwei Rat­ten wie­der nicht ge­lernt ha­ben.« Nein! Fräu­lein Sal­ly hat­te die Fa­bel nicht ge­lernt. Sie er­hob sich lang­sam, ein bit­te­res Lä­cheln auf den Lip­pen, die Bli­cke träu­me­risch in die Fer­ne sen­dend. Nach­läs­sig warf sie ei­ni­ge Wor­te hin: »Un rat des champs – des champs – un rat.« Dann schwieg sie. »Ma­de­moi­sel­le!« rief Fräu­lein Schank. Fräu­lein Sal­ly aber hör­te nicht auf sie, sie dach­te gar nicht an die­se klein­li­che Per­son. Ver­klärt und geis­tes­ab­we­send stand sie da, wie Ami­na, die arme Nacht­wand­le­rin, wenn sie im vier­ten Akt dicht vor die Lam­pen tritt, um ihre große Arie zu sin­gen.

»Set­zen Sie sich, Ma­de­moi­sel­le.« In Fräu­lein Schanks Mun­de klang das hüb­sche Wort Ma­de­moi­sel­le wie ein Schimpf­na­me. Ma­de­moi­sel­le setz­te sich auch; sie setz­te sich aber, weil sie es woll­te, nicht weil Fräu­lein Schank es be­fahl, das sah man ihr an.

Fräu­lein Schank beug­te sich über ihr No­tiz­buch von häss­lich grau­er Far­be, eine un­er­bitt­li­che Si­byl­le mit brau­nen Ban­deaux, und ließ sich von dem win­zi­gen Schick­sals­bu­che das Schick­sal ei­nes ar­men Mäd­chens dik­tie­ren. »Rosa!« ver­setz­te sie end­lich, »sag du ein­mal her.« Rosa er­hob sich ein we­nig ver­wirrt, doch ge­wann sie bald ihre Fas­sung wie­der und mach­te ein sehr hoch­mü­ti­ges Ge­sicht, ein si­che­res Zei­chen, dass sie sich in der­sel­ben Lage wie ihre Freun­din be­fand. Sie be­gann: »Un rat…« Wei­ter je­doch konn­te oder woll­te sie nichts sa­gen. Fräu­lein Schank war­te­te eine Wei­le, dann sag­te sie be­trübt: »Also wie­der nichts! Setz dich.« Rosa setz­te sich. Tie­fes Schwei­gen. Fräu­lein Schank blät­ter­te in ih­rem Büch­lein, Rosa blick­te vor sich nie­der, als wäre nichts vor­ge­fal­len.

»Wirk­lich Ma­de­moi­sel­le!« Rosa fuhr auf. Fräu­lein Schank hat­te ihr Büch­lein bei­sei­te ge­wor­fen und blick­te Rosa gif­tig an. »Wirk­lich Ma­de­moi­sel­le, es ist zu­viel von Ih­nen ver­langt, dass Sie Fran­zö­sisch oder über­haupt et­was ler­nen sol­len! Wozu auch? Für solch ein vor­neh­mes Fräu­lein ist es ge­nug, den gan­zen Tag um­her­zu­lau­fen und sich be­wun­dern zu las­sen. Das Ler­nen ha­ben Sie ja nicht nö­tig. Wenn man eine so si­che­re Zu­kunft hat, wozu denn? Ler­nen mag gut sein für ein ar­mes Mäd­chen, das ihr Brot selbst wird er­wer­ben müs­sen. Ja! Und das sei­nen ers­ten Un­ter­richt aus Barm­her­zig­keit von – von eben barm­her­zi­gen Leu­ten emp­fan­gen hat, und das nur hal­b­es Schul­geld zahlt. Nein, Ma­de­moi­sel­le, Sie brau­chen das nicht; Sie nicht. Gott be­wah­re.« Fräu­lein Schanks Stim­me hat­te die höchs­te Note er­reicht, dar­um ent­stand eine Pau­se; aber bald stieg neue Ent­rüs­tung in ihr auf. »Ich ver­ste­he dich nicht, lie­be Rosa. Mir kann’s ja gleich­gül­tig sein. Nur bin ich neu­gie­rig – was – was dar­aus wer­den soll. Ma­ri­an­ne Schulz, sa­gen Sie her.« Ma­ri­an­ne Schulz hat­te ro­tes Haar, vie­le Som­mer­spros­sen im Ge­sicht und hat­te die Fa­bel ge­lernt.

Rosa senk­te den Kopf tief auf den Tisch nie­der und er­rö­te­te bis in die blon­den Löck­chen über die Stirn hin­ein; an ih­ren Wim­pern hin­gen di­cke Trä­nen. Sie wein­te und schäm­te sich ih­rer Trä­nen. Ihr lei­den­schaft­li­ches Kin­der­herz beb­te vor ohn­mäch­ti­gem Zorn ge­gen die­se alte Leh­re­rin, die sie ge­de­mü­tigt, sie als un­wis­sen­des, ar­mes, ver­ächt­li­ches Ge­schöpf hin­ge­stellt hat­te. Nie war ihr Le­ben ihr fa­den­schei­ni­ger, aus­sichts­lo­ser er­schie­nen als jetzt. Sie war und blieb Rosa Herz, die Toch­ter des Bal­let­tän­zers, die nur hal­b­es Schul­geld zahl­te, zwei Klei­der be­saß und fran­zö­si­sche Gram­ma­tik ler­nen muss­te, um sie viel­leicht einst selbst zu leh­ren, hier in dem dump­fen Ge­mach, von dem­sel­ben schä­bi­gen Ka­the­der aus, auf dem Fräu­lein Schank alt und häss­lich saß, bis sie selbst alt und häss­lich ge­wor­den sein wür­de und Kon­rad Lurch ge­hei­ra­tet hät­te, der sie lieb­te.

Uner­träg­li­che Hit­ze wal­te­te im Ge­mach. Das Son­nen­licht fiel blen­dend auf die nack­ten Wän­de und be­schi­en grell die lan­gen Rei­hen wei­ßer Hals­krau­sen, glatt­ge­schei­tel­ter Mäd­chen­köp­fe und all die jun­gen, ru­hi­gen Ge­sich­ter. Es leg­te sich warm über die ro­si­gen Schlä­fen und wei­ßen Stir­nen, in die kein Fält­chen, kein Schat­ten die Spur ei­ner Ge­schich­te ge­schrie­ben hat­te.

 

Es sprüh­te in den kla­ren, stil­len Au­gen und durch­leuch­te­te sie, dass man auf ih­ren Grund die sorg­lo­sen Kin­der­see­len zu er­bli­cken ver­mein­te – wie eine nichts­sa­gen­de klei­ne Ara­bes­ke auf dem Grund ei­ner Schüs­sel voll kla­ren Was­sers. Fräu­lein Schank do­zier­te mit ein­tö­ni­ger, sin­gen­der Stim­me die Leh­ren der fran­zö­si­schen Gram­ma­tik, und die erns­ten, fried­li­chen Mäd­chen­ge­sich­ter schau­ten zu ihr auf, als hät­ten sie nie et­was Wich­ti­ge­res und Auf­re­gen­de­res ver­nom­men als, dass das Ad­jek­ti­vum vor dem Wor­te gens in weib­li­cher, nach dem­sel­ben in männ­li­cher Form ge­braucht wer­de. Rosa saß noch im­mer über den Tisch ge­beugt da. Die Trä­nen wa­ren fort und die Wan­gen jetzt blass. Oh, sie litt! Sie woll­te nicht län­ger ver­ach­tet, lä­cher­lich und un­glück­lich sein! Sie woll­te flie­hen oder ster­ben – oder – sie wuss­te es nicht, aber au­ßer Fräu­lein Schank, der Schul­stu­be und Noël muss­te – muss­te es doch noch et­was ge­ben! Die gan­ze Leih­bi­blio­thek konn­te doch nicht lü­gen! Ganz ge­wiss woll­te sie mit Her­weg heu­te abend zu­sam­men­tref­fen, und sie woll­te ihm er­lau­ben, sie auf den Mund zu küs­sen, nur weil Fräu­lein Schank das miss­bil­li­gen wür­de. Was ging sie aber die alte Dame an?

So­bald die Stun­de zu Ende war, eil­te Rosa ins Freie. Has­tig schritt sie die Gas­se hin­ab, den Kopf ge­senkt, die Hän­de hin­ter dem Rücken zu­sam­men­ge­fasst wie ein al­ter, sin­nen­der Herr. Auf dem Pfad, der bergab in den Stadt­gar­ten führ­te, be­gann sie zu lau­fen, so dass der Hut ihr in den Na­cken fiel und die Zöp­fe ihr den Rücken peitsch­ten. In der Nähe der Lau­be hielt sie still. Wa­rum eil­te sie so? Vom Lauf au­ßer Atem ge­bracht, leg­te sie die Hän­de auf die Brust. Wa­rum die Auf­re­gung? Die Schank hat­te ge­zankt, weil sie die Fa­bel nicht ge­lernt hat­te. Sie woll­te sich nichts dar­aus ma­chen, es war nicht das ers­te Mal. Sie rück­te den Hut zu­recht, fuhr sich mit der Hand über die Au­gen. Was küm­mer­te sie das klein­li­che Elend der Schul­stu­be?

Al­ler­ort – auf den Ra­sen­plät­zen und Kies­we­gen – brann­ten Licht­flo­cken und klei­ne Fun­ken; sie zit­ter­ten sach­te, wie schläf­rig blin­zeln­de Au­gen. Die Lau­be stand auf ei­ner An­hö­he, von gol­de­nem Licht um­flu­tet, und mit den in­ein­an­der­ge­bo­ge­nen knor­ri­gen Äs­ten, mit den re­gungs­lo­sen, stau­bi­gen Blät­tern glich sie ei­nem al­ten Mö­bel, das man aus der Rum­pel­kam­mer in den Mit­tags­son­nen­schein ge­rückt hat. Her­weg saß be­reits auf der Bank und wieg­te sei­nen Hut zwi­schen den Bei­nen hin und her. Eine leich­te Be­fan­gen­heit er­fass­te Rosa, da sie ihn er­blick­te. Wie soll­te sie es ihm sa­gen? Wür­de er nicht stau­nen? Lang­sam ging sie auf ihn zu. Her­weg lä­chel­te ihr ent­ge­gen:

»Sie se­hen, Rosa, heu­te bin ich der ers­te«, mein­te er.

»Ja – ich konn­te nicht frü­her.« – Rosa blieb vor Her­weg ste­hen und strich sich das Haar an den Schlä­fen glatt.

»Ha, ha – die Alte?« frag­te er.

Rosa nick­te. Her­weg sah sie prü­fend an: »Ja, ja, die Alte, die hat schar­fe Au­gen. Aber warum set­zen Sie sich nicht?« Rosa setz­te sich auf die Bank. »Ich habe heu­te den Di­rek­tor gut an­ge­führt«, fuhr Her­weg fort, Rosa aber un­ter­brach ihn: »Was un­ter­neh­men Sie heu­te abend?« –

»Nichts Be­son­de­res. Ich weiß nicht. Vi­el­leicht kommt eine klei­ne Knei­pe­rei zu­stan­de.«

»Ach so, das ist dann et­was an­de­res.«

»Nein«, rief Her­weg schnell, »es ist nichts be­stimmt. Ge­wiss! Woll­ten Sie et­was, Rosa?«

»Wenn Sie frei sind«, sag­te Rosa mit nie­der­ge­schla­ge­nen Au­gen, »könn­ten wir, so dach­te ich, heu­te abend zu­sam­men­kom­men!«

»O ge­wiss!«

»Das heißt, um neun Uhr. Sie könn­ten mich un­ten am Fluss, Sie wis­sen? er­war­ten, wir wä­ren dann bei­sam­men, dach­te ich mir.« Her­weg er­rö­te­te und rief in der has­ti­gen Wei­se, die Kna­ben an­zu­neh­men pfle­gen, wenn sie be­fan­gen sind: »Das geht!« Er lehn­te sich zu­rück, kreuz­te die Arme über der Brust, kniff die Au­gen zu­sam­men und mach­te ein be­däch­ti­ges Ge­sicht, als müss­te er al­les zu­vor ernst­lich er­wä­gen: »Ja, das geht. Das wird hübsch.«

»Nicht wahr?« sag­te Rosa und er­hob sich schnell, als hät­te sie einen plötz­li­chen Ent­schluss ge­fasst. Sie blieb aber ru­hig vor Her­weg ste­hen. »Ich mein­te, es wür­de Ih­nen Freu­de ma­chen.« Scheu blick­te Her­weg zu dem Mäd­chen em­por; vor­sich­tig fass­te er den grau­en Man­tel, lang­te dann zu den gel­ben Zöp­fen hin­auf mit di­cken, un­ge­len­ken Schü­ler­fin­gern. Rosa ließ es ge­sche­hen. Ihre Au­gen wur­den dunk­ler und hat­ten ein un­ru­hi­ges, in­ten­si­ves Licht. Plötz­lich, mit ei­ner schnel­len, ecki­gen Be­we­gung, fass­te sie nach Her­wegs Haar und ließ ihre Fin­ger durch das rote Ge­strüpp glei­ten. Bei­de wa­ren ernst und stumm. Her­weg hielt sei­nen Kopf re­gungs­los und blin­zel­te mit den Au­gen, wie eine Kat­ze, der man die Ohren krault, wäh­rend Rosa zu Bo­den schau­te. Ein bun­tes Ge­flecht von Licht und Schat­ten be­deck­te den Kies mit grau und gol­de­nen Mus­tern. Durch die Zwei­ge drang das Licht wie blan­ker Staub in die Däm­me­rung der Lau­be. »Max! Max!« er­scholl wie­der die kläg­li­che Stim­me der al­ten Dame. Has­tig zog Rosa ihre Hand zu­rück; Her­weg aber hielt sie fest, drück­te die in­ne­re Hand­flä­che auf sei­nen Mund und küss­te sie laut.

»Also, Sie wol­len, Koll­hardt?« frag­te Rosa, sich frei ma­chend.

»Ja, lie­be, gute Rosa!«

»Gut denn; auf heu­te abend! Ade!« Und sie lief da­von.

Her­weg schlen­der­te ge­mäch­lich durch den Gar­ten nach Hau­se. Er ver­such­te es, sein Ge­sicht in ru­hi­ge, erns­te Fal­ten zu le­gen, wie es ein Mann tut, der sol­che Lie­bes­tri­um­phe ge­wohnt ist. Stolz reck­te er sei­ne mäch­ti­ge Ge­stalt und schritt durch den Son­nen­schein da­hin mit der gan­zen Breit­spu­rig­keit sei­nes Schü­ler­hoch­mu­tes.

Fünftes Kapitel

Herr Herz emp­fing sei­ne Toch­ter heu­te be­son­ders zärt­lich; er strei­chel­te ihr die Wan­gen und be­merk­te: »Hübsch bist du heu­te, mein Kind.« Als Rosa sich mür­risch in ei­nem Ses­sel aus­streck­te, schlich er von hin­ten her­an, um ihre Stir­ne zu küs­sen. Sie schenk­te dem Al­ten we­nig Auf­merk­sam­keit; flüch­tig streif­ten ihre Fin­ger ein­mal die Hand ih­res Va­ters, als Er­wi­de­rung sei­ner Lieb­ko­sun­gen; dann frag­te sie nach dem Es­sen.

»Ja, das Es­sen«, er­wi­der­te Herr Herz. »Ich weiß nicht, was die Ag­nes so lan­ge macht.« Er schau­te in das Spei­se­zim­mer hin­über, wo Ag­nes Stock­mai­er mit großer Ge­nau­ig­keit das Tisch­tuch über den Tisch deck­te.

»Ag­nes«, mahn­te Herr Herz freund­lich, »die Rosa ist hung­rig.« Da Ag­nes kei­ne Ant­wort gab, be­gann er mit klei­nen Schrit­ten im Ge­mach auf und ab zu ge­hen. Er rück­te die Sä­chel­chen auf der Kom­mo­de zu­recht, sah sich in dem Spie­gel und warf zu­wei­len einen ver­stoh­le­nen Blick zu sei­ner Toch­ter hin­über. Die­se hat­te den Kopf auf die Stuhl­leh­ne zu­rück­ge­bo­gen, die Füße von sich ge­streckt und war in tie­fes Sin­nen ver­lo­ren. End­lich blieb Herr Herz am Fens­ter ste­hen, schau­te auf die Stra­ße hin­ab und be­merk­te so ne­ben­her: »Fräu­lein Schank war hier.«

»Wann?« frag­te Rosa scharf.

»Kurz eh’ du kamst, ging sie.«

»Dann woll­te sie sich wohl über mich be­kla­gen?«

Herr Herz wand­te sich schnell um: »Nein! Siehst du, lie­bes Kind, be­kla­gen – das nicht. Sie ist dir gut. Ge­wiss! Sie ist dir sehr gut. Nur habt ihr heu­te et­was mit­ein­an­der ge­habt. – Eine fran­zö­si­sche Fa­bel, nicht? – So et­was; und dann bist du fort­ge­gan­gen.«

»Ich bin fort­ge­gan­gen!« rief Rosa und stell­te sich ge­ra­de vor ih­rem Va­ter auf »Sie kann es nicht ver­lan­gen, dass ich blei­be, wenn sie mir sol­che Din­ge sagt – und vor all den an­dern.«

»So schlimm wird es ja nicht sein«, schal­te­te Herr Herz ein und lä­chel­te er­schro­cken. »Sie ist viel­leicht hef­tig ge­we­sen. Du darfst ihr das nicht an­rech­nen. Du selbst hat­test viel­leicht auch ein we­nig Schuld.«

»Und weißt du, was sie mir ge­sagt hat?«

»Gott, ja, lie­bes Kind.« Herrn Herz war die Si­tua­ti­on pein­lich.

»Sie sag­te«, fuhr Rosa mit stei­gen­der Ent­rüs­tung fort, »ich lebe von an­de­rer Leu­te Barm­her­zig­keit, ich zah­le nur hal­b­es Schul­geld. Das sagt sie vor all den Mäd­chen, die­se Alte!«

»Sie wird das wohl nicht so ge­sagt ha­ben. Ich will mit ihr spre­chen.« Herr Herz lach­te, als han­del­te es sich um einen un­wich­ti­gen Ge­gen­stand. Er streck­te bei­de Hän­de aus, um Ro­sas Kopf zu fas­sen, sie aber wand­te ihm den Rücken und kehr­te zu ih­rem Ses­sel zu­rück.

Herr Herz ver­barg sei­ne Hän­de in sei­nen Rock­ta­schen und sah be­fan­gen und hilf­los drein. Er wand­te dem Fens­ter den Rücken zu, und sein Haupt ward von ei­ner hel­len Lichtau­reo­le um­ge­ben. Die wei­ßen Haa­re flim­mer­ten und lie­ßen un­ter den dün­nen Sil­ber­fä­den die Kopf­haut her­vor­schim­mern, zar­tro­sen­far­ben – wie ein Kin­der­haupt mit ei­nem Tüll­häub­chen be­deckt.

»Ich gebe zu, lie­bes Kind«, hub er lei­se wie­der an, »es ist un­an­ge­nehm, sie soll­te so et­was nicht sa­gen, und ich spre­che mit ihr dar­über. Aber, da sie nun dar­auf be­steht, dass du die­se Fa­bel lernst, so könn­test du sie viel­leicht auch ler­nen. Eine fran­zö­si­sche Fa­bel, nicht wahr?«

Rosa ant­wor­te­te nicht. »Sie meint es gut mit dir«, fuhr Herr Herz fort. »Gott, wie sie dich ver­wöhnt hat, als du ganz klein warst! Stun­den­lang spiel­te sie mit dir. Um ih­ret­wil­len kannst du schon eine Fa­bel ler­nen.« Rosa schwieg noch im­mer und be­trach­te­te ge­dan­ken­voll die gel­be Ta­pe­te. Da lach­te Herr Herz plötz­lich auf. Ein lus­ti­ger Ein­fall war ihm ge­kom­men: »Weißt du, mein Kind, wir ler­nen bei­de die­se Fa­bel. La Fon­tai­nes Fa­beln habe ich frü­her gut ge­kannt. Sie sind lus­tig. Da­mals sprach ich das Fran­zö­si­sche wie ein Pa­ri­ser. Wie man das al­les ver­gisst! Gern wür­de ich’s auf­fri­schen. Ah! Du wirst se­hen, was für ein schlech­tes Ge­dächt­nis ich habe. Wir wer­den da­bei la­chen müs­sen«, und Herr Herz lach­te schon jetzt. Ro­sas Teil­nahms­lo­sig­keit aber mach­te ihn mu­ti­ger, er ward ernst und vä­ter­lich. Fräu­lein Schank hat­te nicht so ganz un­recht. Man­ches Wah­re lag in dem, was sie ge­sagt hat­te. Es war ihm nicht ver­gönnt ge­we­sen, ein Ver­mö­gen zu er­wer­ben, und man­ches ver­dank­te er der Wohl­tä­tig­keit an­de­rer. Jetzt be­klag­te er das. Aber, du lie­ber Gott, in der Ju­gend, wer denkt da an so et­was! Nun war es zu spät. Drum soll­te Rosa lieb und ver­nünf­tig sein; soll­te es mit der gu­ten Schank nicht ver­der­ben, die es treff­lich mein­te und, wenn Rosa ihr Ex­amen be­stan­den, ihr eine Stel­le als Leh­re­rin in der Töchter­schu­le ver­schaf­fen woll­te. Das war auch der Wunsch der Tan­te Ina ge­we­sen. Für ihn selbst wäre es ein großer Trost, sei­ne Toch­ter in ge­si­cher­ter, ge­ach­te­ter Stel­lung zu wis­sen, wenn er nicht mehr sein wür­de. Sei­ne Stim­me wur­de weich, und er fuhr sich mit der Hand über die Au­gen. Der Ge­dan­ke an sei­nen Tod rühr­te ihn. »Ja – ja! Wenn man dei­nen al­ten Papa hin­aus­tra­gen wird«, wie­der­hol­te er; »die Schank, ich hab’s selbst ge­hört, sag­te zu dei­ner gu­ten Tan­te Ina: ›Wenn die Klei­ne dich ver­lie­ren soll­te, Ina, du weißt es, ich bin dei­ne Freun­din, ich über­neh­me dei­ne Pf­lich­ten.‹ Dann küss­ten sich die bei­den gu­ten Frau­en­zim­mer und wein­ten mit­ein­an­der. Vor­hin, als sie bei mir war, und sie war recht auf­ge­bracht, sag­te sie doch, sie habe ge­hört, du hät­test ein neu­es Kleid nö­tig. Sie sei be­reits bei Pal­tow ge­we­sen und habe einen wohl­fei­len, dau­er­haf­ten Stoff ge­fun­den. Sie zeig­te mir die Pro­be. Sehr hübsch! Braun, mit run­den gel­ben Punk­ten, so wie Erb­sen un­ge­fähr.«

»Ah!« ver­setz­te Rosa zer­streut, »ich ken­ne das. Sie hat ih­rer ge­lähm­ten Mut­ter, der ganz al­ten Schank, solch ein Kleid ge­kauft.«

»So? Ich weiß da­von nichts. Du wirst ja se­hen. Mir hat es ge­fal­len, und sie sagt, es sei wohl­feil und dau­er­haft. Mein ar­mes Kind! Teu­re Klei­der kann ich dir ja nicht ge­ben; das weißt du. Wenn ich könn­te, ich woll­te mei­ne Rosa her­aus­put­zen! Aber du bist ja in je­dem Klei­de hübsch.« Die hell­blau­en Au­gen schau­ten zärt­lich zu dem mür­risch da­lie­gen­den Mäd­chen hin­über, und sie wur­den feucht von den Trä­nen, die so leicht die Au­gen al­ter Leu­te über­flu­ten. Er küss­te sei­ne Toch­ter vor­sich­tig auf den Schei­tel und flüs­ter­te: »Komm! Die Ag­nes ist mit dem Es­sen fer­tig.« – »Ah«, mein­te Rosa und leg­te ih­ren Arm in den ih­res Va­ters.

 

Wäh­rend des Mah­les war Herr Herz äu­ßerst lus­tig, fast aus­ge­las­sen. Er stell­te sich un­ge­schickt beim Vor­schöp­fen der Sup­pe, neck­te Ag­nes, er­zähl­te aus sei­ner Bal­let­tän­zer­lauf­bahn vie­le selt­sa­me Ge­schich­ten, die er schon hun­dert Mal er­zählt hat­te, und um das Ge­spräch von vor­hin vollends ver­ges­sen zu ma­chen, füg­te er ih­nen klei­ne ge­wag­te Aus­füh­run­gen mit hal­ber Stim­me bei, wenn Ag­nes das Zim­mer ver­ließ, um et­was zu ho­len. Rosa lä­chel­te nur matt. In die­sem ei­gen­sin­ni­gen blon­den Kopf war heu­te die fes­te Über­zeu­gung ent­stan­den, dort – ir­gend­wo, fern von der Hei­mat – läge eine schö­ne, er­götz­li­che Welt, der eben nur Rosa fehlt; sie war da, man brauch­te nur die Hand aus­zu­stre­cken, um al­les Schö­ne zu fas­sen. Bit­te­ren Groll heg­te Rosa heu­te ge­gen die alte, enge Stu­be mit ih­ren lä­cher­li­chen Mö­beln, ih­rem schläf­ri­gen Frie­den, Groll ge­gen die gan­ze wi­der­wär­ti­ge Stadt, selbst ge­gen ih­ren Va­ter, der aus der großen Welt in die­ses klein­li­che Nest flüch­ten konn­te, um fort­an nur für den Klub, für Klappe­kahl und für La­nin zu schwär­men. Da stand die gute Ag­nes Stock­mai­er in ih­rem wei­ßen Klei­de. So hat­te die­ses große wei­ße Ge­sicht im­mer drein­ge­schaut, seit Rosa den­ken konn­te. Die­se grau­en Au­gen hat­ten stets so ru­hig vor sich hin­ge­blickt, als wä­ren Au­gen nur auf der Welt, um zu se­hen, ob Staub auf der Kom­mo­de lie­ge oder ob das Tisch­tuch Fal­ten schlü­ge. Oh, und die­se Sup­pe mit ih­ren Fet­tau­gen, die­ser Bra­ten mit sei­ner lan­gen Sau­ce! Rosa hat­te sie jahraus, jahrein ge­ges­sen; täg­lich hat­ten sie die Woh­nung mit ih­rem Duft er­füllt. Gott ja, es war un­er­träg­lich klein, ge­wöhn­lich, lä­cher­lich! Ein Ge­fühl der Re­bel­li­on, der Ver­ach­tung al­les des­sen, was es kann­te und be­saß, stieg in der Brust die­ses jun­gen Mäd­chens auf, in des­sen Le­ben das größ­te Er­eig­nis bis­her ein Tanz­abend bei Klappe­kahls ge­we­sen war.

Rosa moch­te nicht aus­ge­hen. Sie woll­te bis zum Abend da­heim blei­ben und sich im­mer tiefer in ihre un­kla­ren Grü­belei­en ver­gra­ben. Ihr Va­ter gab sich, wie ge­wöhn­lich, sei­nem Mit­tags­schlum­mer hin; Ag­nes klap­per­te beim Abräu­men lei­se mit dem Tisch­ge­rät. Rosa lehn­te am Fens­ter, und ihre run­den blau­en Au­gen sa­hen un­ver­wandt hin­aus.

Die Stil­le des Som­mer­nach­mit­tages war auf das Städt­chen nie­der­ge­stie­gen. Am zart­blau­en Him­mel stan­den glän­zen­de Wol­ken­hau­fen, wie Bal­len wei­ßer Wol­le. Die Pflas­ter­stei­ne wa­ren so hell be­schie­nen, dass Rosa große Kä­fer auf ih­nen er­spä­hen konn­te. Sie kro­chen lang­sam da­hin, blie­ben plötz­lich, wie sin­nend, ste­hen und hat­ten run­de, stahl­blaue Lei­ber, dann kam eine Ein­tags­mücke durch den Son­nen­schein ge­flo­gen.

Rosa hat­te lan­ge hin­aus­ge­st­arrt. Mecha­nisch und ge­dan­ken­los war sie al­len Vor­gän­gen drau­ßen ge­folgt. Ihre Au­gen hat­ten im­mer star­rer vor sich hin­ge­blickt, hat­ten sich end­lich ge­schlos­sen, der Kopf war auf den Arm nie­der­ge­sun­ken – Rosa schlief, und das blon­de Köpf­chen im of­fe­nen Fens­ter schi­en auch ein Stück des trä­gen Nach­mit­tag­gol­des zu sein, das dort auf der Fens­ter­bank lie­gen­ge­blie­ben.

Als ein ro­ter Son­nen­strahl ihre Au­gen traf, er­wach­te Rosa. Sie war al­lein im Ge­mach; ihr Va­ter hat­te sich lei­se fort­be­ge­ben. Rings­um auf den al­ten Mö­beln und Sa­chen lag blass­ro­tes Licht. Von der Stra­ße tön­ten Stim­men und Schrit­te her­auf. Auf dem Gar­ten­zau­ne saß des Pfar­rers Bube und biss in eine gel­be Früh­bir­ne. Die Kas­ta­ni­en­wip­fel wieg­ten sich sach­te hin und her. Eine Kat­ze stand ru­hig auf ei­nem Dach und schau­te über die Stadt hin, wäh­rend die Son­nen­strah­len zwi­schen ih­ren Bei­nen hin­durch­schlüpf­ten und ih­ren Leib ver­gol­de­ten. Der wei­ße Wol­ken­hü­gel von vor­hin war fort; die Wölk­chen wa­ren aus­ein­an­der­ge­zo­gen und la­gen jetzt ver­streut über das tie­fe Him­mels­blau,

Es war lus­tig! – Rosa rieb sich die Au­gen und dach­te dar­über nach, was es doch war, das sie vor­hin be­trübt hat­te. Sie ent­sann sich des­sen wohl; aber es er­schi­en ihr jetzt ge­ring. Fräu­lein Schank, das Kleid mit den gel­ben Erb­sen, die Fa­bel, ihr al­ter Va­ter, das al­les war kein Grund, sich ernst­lich zu grä­men. Brauch­te sie denn das enge Le­ben zu tei­len? Ge­hör­te ihre an­zie­hen­de Per­son mit den blau­en Au­gen und dem gol­de­nen Haar nicht ihr? Konn­te sie denn mit ih­rem Le­ben nicht an­fan­gen, was sie woll­te? Was konn­te sie nicht al­les Tol­les, Un­er­hör­tes be­gin­nen. Noch woll­te sie war­ten; sie hat­te ja Zeit. Sin­nend lehn­te sie den Kopf an das Fens­ter­kreuz und lä­chel­te hoch­mü­tig. Der Ge­dan­ke: ich ge­hö­re mir – mir ganz al­lein, war plötz­lich in die­sem leicht­fer­ti­gen Mäd­chen­hirn auf­ge­schos­sen, schüch­tern noch und un­klar; er war je­doch da mit sei­ner gan­zen wun­der­sa­men, ge­fähr­li­chen Macht.

Auf der Trep­pe des ge­gen­über­lie­gen­den Hau­ses saß der Pfar­rer Ra­ser mit sei­ner Frau. Ihre ru­hi­gen Stim­men schol­len über die Stra­ße zu Rosa her­über. Ihr Jüngs­tes, nur mit ei­nem Hemd­chen an­ge­tan, sprang zu ih­nen her­aus und stieß klei­ne schril­le Freu­den­ru­fe aus, wie sie nur Vö­geln und Kin­dern ei­gen sind.

Das sin­nen­de Mäd­chen stand vor dem großen Frie­den der Na­tur, mit dem un­ru­hi­gen, ei­gen­sin­ni­gen Ego­is­mus jun­ger Her­zen; es grü­bel­te und sann, wie es die­se Schön­heit und Har­mo­nie sich dienst­bar ma­chen könn­te; wie es sich da­mit schmücken soll­te, wel­che Rol­le ihm in die­sem Schau­spie­le ge­bühr­te? Nach­denk­lich blick­ten die blau­en Au­gen zu den Ster­nen auf, wie sie sonst wohl in den Spie­gel schau­ten, um die ge­eig­nets­te Stel­le für ein Band in den blon­den Flech­ten zu fin­den.

Herr Herz kam in hei­te­rer, an­ge­reg­ter Stim­mung heim. Er küss­te sei­ne Toch­ter auf die Stirn und frag­te, ob die schwar­ze Lau­ne schon ge­schwun­den sei. Dann lief er un­ru­hig im Zim­mer auf und ab und pack­te sei­ne Neu­ig­kei­ten aus. Bei Lan­ins war vor ei­ner hal­b­en Stun­de der Neue an­ge­langt. Herr Herz war zu­ge­gen ge­we­sen, als die Post­chai­se bei Lan­ins vor­ge­fah­ren war, denn er stand mit dem Dok­tor ge­ra­de auf dem Markt­plat­ze. »Klappe­kahl kam so­gleich her­bei­ge­lau­fen, und wir be­trach­te­ten den jun­gen Mann. Viel war nicht zu se­hen. Er sprang schnell aus dem Wa­gen und ging in das Haus. Ein Schnurr­bärt­chen scheint er zu tra­gen, ge­nau lässt sich das nicht be­stim­men; der Dok­tor mein­te, es sei nur Staub von der Rei­se.«

»War Sal­ly da?« frag­te Rosa.

»Ich glau­be – ja«, er­wi­der­te Herr Herz. »Es schi­en mir, als stän­de sie im La­den, er aber, na­tür­lich, ging durch die Hau­stü­re ins Haus. Ei­nen grau­en Man­tel mit ei­ner Ka­pu­ze trug er; das soll jetzt Mode sein, sagt Klappe­kahl. Klappe­kahl fand auch in der Art, wie der jun­ge Mann sich aus dem Wa­gen schwang, viel Chic. Ich konn­te nichts Be­son­de­res se­hen. Drei Kof­fer hat er mit­ge­bracht, schön mit Le­der über­zo­gen. Wir gin­gen her­an und be­fühl­ten sie. Ich gehe spä­ter noch in den Klub, viel­leicht kommt La­nin und er­zählt von sei­nem Nef­fen.«

Herr Herz sprach die gan­ze Mahl­zeit über von dem wich­ti­gen Er­eig­nis und er­ging sich in al­ler­hand Ver­mu­tun­gen.

»Also du gehst heu­te in den Klub?« frag­te Rosa.