Am folgenden Tage traf Rosa Herweg auf dem Weg in die Schule und bestellte ihn für elf Uhr in die Laube. Herweg machte ein überraschtes und erfreutes Gesicht und dachte keinen Augenblick an die Gefahr einer abermaligen Versäumnis. Der Plan einer abendlichen Zusammenkunft mit Herweg stand bei Rosa noch immer fest. »Ich bin es dem armen Jungen schuldig«, sagte sie sich, wenn ein wenig Unruhe über ihr Vorhaben sie beschlich. So saß sie denn in geheimnisvoller Geistesabwesenheit auf der Schulbank und stützte den Kopf sorgenvoll in die Hand.
»Ah! Rosa! Mein Herz!« Fräulein Lanin stand vor ihr. Auch sie war heute besonders sinnig und drückte ihren Noël, unter dem sich der dünne achte Band von »Emmas Schmerz« verbarg, fest an das Herz. »Weißt du, ich meine das, wovon wir gestern sprachen. Du entsinnst dich – ah? – Er kommt vielleicht schon heute abend.« – »So«, erwiderte Rosa, sah ernst auf, hob langsam ihre Hand über den Tisch empor und ließ sie schlaff wieder sinken; eine hübsche Bewegung, die zu bedeuten schien: »Es ist gleichgültig. Sie kommen und gehen.«
»Ja«, fuhr Fräulein Lanin fort, und obgleich es sich offenbar um ein wichtiges Geheimnis handelte, so sprach sie doch sehr laut: »Ich habe seinetwegen – du weißt? – mit dem Papa eine ernste – wirklich eine sehr ernste – Unterredung gehabt, die mir viel zu denken gibt.«
»Ah.« Rosa hätte gern Näheres darüber erfahren, sie mochte jedoch nicht fragen. Es war auch nicht nötig, denn Fräulein Lanin begann angelegentlich: »Er sagt, und er hat gewiss recht, dass unsere Familie mit der Aufnahme von A. T. sehr ernste Pflichten übernehme und somit auch mir ein Teil – und weißt du, der Papa sagt, nicht der unwichtigste Teil – zufalle.«
»Ah so! Ich verstehe, weiblicher Einfluss«, schaltete Rosa ein.
»Das ist’s«, fuhr Fräulein Lanin fort. »Der arme junge Mann ist leichtsinnig, ist verführt worden; er ist jetzt vielleicht leidend; du weißt, die Brust – das kommt leicht bei solchen Gefühlskrisen. Dabei ist er verwöhnt, der einzige Sohn sehr reicher Eltern. Nun – ihm Befriedigung und Erheiterung zu bieten, das ist unsere Pflicht. Ich habe beschlossen, sehr freundlich gegen ihn zu sein. Uns Frauen gelingt es doch am besten, solche Wunden zu heilen. Von der Tanzgesellschaft sprach ich schon mit dir. Nun – und im täglichen Leben will ich in ernsten Gesprächen sein Vertrauen erwerben, will ihn auf den einzigen Trost, auf Gott, hinweisen. Es ist eine schwere Aufgabe, ich weiß das wohl, aber sie ist schön, nicht wahr, mein Herz?«
Fräulein Lanin neigte ihren Kopf auf die linke Schulter und blickte ihre Freundin ernst an. Auf Rosa jedoch hatte dieser Bericht einen ganz unerwarteten Eindruck gemacht. Sie, die ein wirkliches Stelldichein vorhatte, fühlte sich heute über all ihre Kameradinnen erhaben, und Fräulein Lanins Pläne erschienen ihr kindisch und machten sie ungeduldig: »Ich verstehe nicht, wie du glauben kannst, dass ein junger, leichtsinniger Mensch an frommen Gesprächen mit dir Gefallen finden wird.«
Fräulein Lanin warf Rosa einen schnellen Blick zu, richtete sich dann kerzengerade auf, zog die Augenbrauen empor, was ihr einen verachtenden, aber geduldigen Ausdruck verlieh, und sagte fest: »Ich weiß es sehr genau, bestes Herz, wie ernste Worte auf junge Leute wirken. Und er – mein Cousin«, sie betonte dieses Wort scharf, »er wird gewiss nicht gegen einen sanften, wenn auch nicht weltlich leichtfertigen, sondern, wie der Papa sagt, tiefinnerlichen weiblichen Einfluss unempfindlich sein.«
Diese Periode klang gut; Rosa jedoch lachte unverhohlen und zuckte die Achseln. »Mir will es scheinen«, sagte sie schnell, »dass die Bekehrung dieses neuen Korinthen-Konrads nicht…« – »Er ist mein Cousin«, rief Fräulein Lanin sehr laut. – »Gut, gut«, fuhr Rosa tollkühn fort, »ich glaube, dass die Bekehrung nicht das einzige ist, worauf du hoffst.« – »Sondern – sondern«, drängte Fräulein Lanin und kniff die Augen zusammen, was sie für ein Zeichen vornehmer Kaltblütigkeit hielt.
»Gleichviel«, meinte Rosa. »Ich wünsche dir guten Erfolg. Nur behaupte ich, dass lange Predigten nicht das rechte Mittel sind. Ich wenigstens würde mich dafür bedanken.«
»Ja – du – du«, fuhr Fräulein Lanin auf, »ich habe mich sehr in dir getäuscht, gute Rosa! Und von jetzt ab…«
Fräulein Schank trat in das Zimmer. Die Schülerinnen drängten zu den Bänken; ein plötzliches wirres Durcheinander – der Lärm scharrender Füße – das Klappen der Bücher – dann tiefe Stille.
Rosa und Fräulein Sally mussten sich trennen. Diese, in der Aufwallung verletzter Freundschaft unterbrochen, begab sich langsam an ihren Platz. Zuweilen schaute sie auf Rosa zurück, zuckte mit den Achseln und Augenbrauen; dann faltete sie die Hände über der französischen Grammatik und saß still und ergeben da, wie es einer frommen Christin gebührt. Diese ergebene Ruhe wich auch nicht von ihr, als Fräulein Schank trocken verlauten ließ: »Sally Lanin.« Dieses hieß so viel als: »Stehen Sie auf und zeigen Sie, dass Sie die La Fontainesche Fabel von den zwei Ratten wieder nicht gelernt haben.« Nein! Fräulein Sally hatte die Fabel nicht gelernt. Sie erhob sich langsam, ein bitteres Lächeln auf den Lippen, die Blicke träumerisch in die Ferne sendend. Nachlässig warf sie einige Worte hin: »Un rat des champs – des champs – un rat.« Dann schwieg sie. »Mademoiselle!« rief Fräulein Schank. Fräulein Sally aber hörte nicht auf sie, sie dachte gar nicht an diese kleinliche Person. Verklärt und geistesabwesend stand sie da, wie Amina, die arme Nachtwandlerin, wenn sie im vierten Akt dicht vor die Lampen tritt, um ihre große Arie zu singen.
»Setzen Sie sich, Mademoiselle.« In Fräulein Schanks Munde klang das hübsche Wort Mademoiselle wie ein Schimpfname. Mademoiselle setzte sich auch; sie setzte sich aber, weil sie es wollte, nicht weil Fräulein Schank es befahl, das sah man ihr an.
Fräulein Schank beugte sich über ihr Notizbuch von hässlich grauer Farbe, eine unerbittliche Sibylle mit braunen Bandeaux, und ließ sich von dem winzigen Schicksalsbuche das Schicksal eines armen Mädchens diktieren. »Rosa!« versetzte sie endlich, »sag du einmal her.« Rosa erhob sich ein wenig verwirrt, doch gewann sie bald ihre Fassung wieder und machte ein sehr hochmütiges Gesicht, ein sicheres Zeichen, dass sie sich in derselben Lage wie ihre Freundin befand. Sie begann: »Un rat…« Weiter jedoch konnte oder wollte sie nichts sagen. Fräulein Schank wartete eine Weile, dann sagte sie betrübt: »Also wieder nichts! Setz dich.« Rosa setzte sich. Tiefes Schweigen. Fräulein Schank blätterte in ihrem Büchlein, Rosa blickte vor sich nieder, als wäre nichts vorgefallen.
»Wirklich Mademoiselle!« Rosa fuhr auf. Fräulein Schank hatte ihr Büchlein beiseite geworfen und blickte Rosa giftig an. »Wirklich Mademoiselle, es ist zuviel von Ihnen verlangt, dass Sie Französisch oder überhaupt etwas lernen sollen! Wozu auch? Für solch ein vornehmes Fräulein ist es genug, den ganzen Tag umherzulaufen und sich bewundern zu lassen. Das Lernen haben Sie ja nicht nötig. Wenn man eine so sichere Zukunft hat, wozu denn? Lernen mag gut sein für ein armes Mädchen, das ihr Brot selbst wird erwerben müssen. Ja! Und das seinen ersten Unterricht aus Barmherzigkeit von – von eben barmherzigen Leuten empfangen hat, und das nur halbes Schulgeld zahlt. Nein, Mademoiselle, Sie brauchen das nicht; Sie nicht. Gott bewahre.« Fräulein Schanks Stimme hatte die höchste Note erreicht, darum entstand eine Pause; aber bald stieg neue Entrüstung in ihr auf. »Ich verstehe dich nicht, liebe Rosa. Mir kann’s ja gleichgültig sein. Nur bin ich neugierig – was – was daraus werden soll. Marianne Schulz, sagen Sie her.« Marianne Schulz hatte rotes Haar, viele Sommersprossen im Gesicht und hatte die Fabel gelernt.
Rosa senkte den Kopf tief auf den Tisch nieder und errötete bis in die blonden Löckchen über die Stirn hinein; an ihren Wimpern hingen dicke Tränen. Sie weinte und schämte sich ihrer Tränen. Ihr leidenschaftliches Kinderherz bebte vor ohnmächtigem Zorn gegen diese alte Lehrerin, die sie gedemütigt, sie als unwissendes, armes, verächtliches Geschöpf hingestellt hatte. Nie war ihr Leben ihr fadenscheiniger, aussichtsloser erschienen als jetzt. Sie war und blieb Rosa Herz, die Tochter des Ballettänzers, die nur halbes Schulgeld zahlte, zwei Kleider besaß und französische Grammatik lernen musste, um sie vielleicht einst selbst zu lehren, hier in dem dumpfen Gemach, von demselben schäbigen Katheder aus, auf dem Fräulein Schank alt und hässlich saß, bis sie selbst alt und hässlich geworden sein würde und Konrad Lurch geheiratet hätte, der sie liebte.
Unerträgliche Hitze waltete im Gemach. Das Sonnenlicht fiel blendend auf die nackten Wände und beschien grell die langen Reihen weißer Halskrausen, glattgescheitelter Mädchenköpfe und all die jungen, ruhigen Gesichter. Es legte sich warm über die rosigen Schläfen und weißen Stirnen, in die kein Fältchen, kein Schatten die Spur einer Geschichte geschrieben hatte.
Es sprühte in den klaren, stillen Augen und durchleuchtete sie, dass man auf ihren Grund die sorglosen Kinderseelen zu erblicken vermeinte – wie eine nichtssagende kleine Arabeske auf dem Grund einer Schüssel voll klaren Wassers. Fräulein Schank dozierte mit eintöniger, singender Stimme die Lehren der französischen Grammatik, und die ernsten, friedlichen Mädchengesichter schauten zu ihr auf, als hätten sie nie etwas Wichtigeres und Aufregenderes vernommen als, dass das Adjektivum vor dem Worte gens in weiblicher, nach demselben in männlicher Form gebraucht werde. Rosa saß noch immer über den Tisch gebeugt da. Die Tränen waren fort und die Wangen jetzt blass. Oh, sie litt! Sie wollte nicht länger verachtet, lächerlich und unglücklich sein! Sie wollte fliehen oder sterben – oder – sie wusste es nicht, aber außer Fräulein Schank, der Schulstube und Noël musste – musste es doch noch etwas geben! Die ganze Leihbibliothek konnte doch nicht lügen! Ganz gewiss wollte sie mit Herweg heute abend zusammentreffen, und sie wollte ihm erlauben, sie auf den Mund zu küssen, nur weil Fräulein Schank das missbilligen würde. Was ging sie aber die alte Dame an?
Sobald die Stunde zu Ende war, eilte Rosa ins Freie. Hastig schritt sie die Gasse hinab, den Kopf gesenkt, die Hände hinter dem Rücken zusammengefasst wie ein alter, sinnender Herr. Auf dem Pfad, der bergab in den Stadtgarten führte, begann sie zu laufen, so dass der Hut ihr in den Nacken fiel und die Zöpfe ihr den Rücken peitschten. In der Nähe der Laube hielt sie still. Warum eilte sie so? Vom Lauf außer Atem gebracht, legte sie die Hände auf die Brust. Warum die Aufregung? Die Schank hatte gezankt, weil sie die Fabel nicht gelernt hatte. Sie wollte sich nichts daraus machen, es war nicht das erste Mal. Sie rückte den Hut zurecht, fuhr sich mit der Hand über die Augen. Was kümmerte sie das kleinliche Elend der Schulstube?
Allerort – auf den Rasenplätzen und Kieswegen – brannten Lichtflocken und kleine Funken; sie zitterten sachte, wie schläfrig blinzelnde Augen. Die Laube stand auf einer Anhöhe, von goldenem Licht umflutet, und mit den ineinandergebogenen knorrigen Ästen, mit den regungslosen, staubigen Blättern glich sie einem alten Möbel, das man aus der Rumpelkammer in den Mittagssonnenschein gerückt hat. Herweg saß bereits auf der Bank und wiegte seinen Hut zwischen den Beinen hin und her. Eine leichte Befangenheit erfasste Rosa, da sie ihn erblickte. Wie sollte sie es ihm sagen? Würde er nicht staunen? Langsam ging sie auf ihn zu. Herweg lächelte ihr entgegen:
»Sie sehen, Rosa, heute bin ich der erste«, meinte er.
»Ja – ich konnte nicht früher.« – Rosa blieb vor Herweg stehen und strich sich das Haar an den Schläfen glatt.
»Ha, ha – die Alte?« fragte er.
Rosa nickte. Herweg sah sie prüfend an: »Ja, ja, die Alte, die hat scharfe Augen. Aber warum setzen Sie sich nicht?« Rosa setzte sich auf die Bank. »Ich habe heute den Direktor gut angeführt«, fuhr Herweg fort, Rosa aber unterbrach ihn: »Was unternehmen Sie heute abend?« –
»Nichts Besonderes. Ich weiß nicht. Vielleicht kommt eine kleine Kneiperei zustande.«
»Ach so, das ist dann etwas anderes.«
»Nein«, rief Herweg schnell, »es ist nichts bestimmt. Gewiss! Wollten Sie etwas, Rosa?«
»Wenn Sie frei sind«, sagte Rosa mit niedergeschlagenen Augen, »könnten wir, so dachte ich, heute abend zusammenkommen!«
»O gewiss!«
»Das heißt, um neun Uhr. Sie könnten mich unten am Fluss, Sie wissen? erwarten, wir wären dann beisammen, dachte ich mir.« Herweg errötete und rief in der hastigen Weise, die Knaben anzunehmen pflegen, wenn sie befangen sind: »Das geht!« Er lehnte sich zurück, kreuzte die Arme über der Brust, kniff die Augen zusammen und machte ein bedächtiges Gesicht, als müsste er alles zuvor ernstlich erwägen: »Ja, das geht. Das wird hübsch.«
»Nicht wahr?« sagte Rosa und erhob sich schnell, als hätte sie einen plötzlichen Entschluss gefasst. Sie blieb aber ruhig vor Herweg stehen. »Ich meinte, es würde Ihnen Freude machen.« Scheu blickte Herweg zu dem Mädchen empor; vorsichtig fasste er den grauen Mantel, langte dann zu den gelben Zöpfen hinauf mit dicken, ungelenken Schülerfingern. Rosa ließ es geschehen. Ihre Augen wurden dunkler und hatten ein unruhiges, intensives Licht. Plötzlich, mit einer schnellen, eckigen Bewegung, fasste sie nach Herwegs Haar und ließ ihre Finger durch das rote Gestrüpp gleiten. Beide waren ernst und stumm. Herweg hielt seinen Kopf regungslos und blinzelte mit den Augen, wie eine Katze, der man die Ohren krault, während Rosa zu Boden schaute. Ein buntes Geflecht von Licht und Schatten bedeckte den Kies mit grau und goldenen Mustern. Durch die Zweige drang das Licht wie blanker Staub in die Dämmerung der Laube. »Max! Max!« erscholl wieder die klägliche Stimme der alten Dame. Hastig zog Rosa ihre Hand zurück; Herweg aber hielt sie fest, drückte die innere Handfläche auf seinen Mund und küsste sie laut.
»Also, Sie wollen, Kollhardt?« fragte Rosa, sich frei machend.
»Ja, liebe, gute Rosa!«
»Gut denn; auf heute abend! Ade!« Und sie lief davon.
Herweg schlenderte gemächlich durch den Garten nach Hause. Er versuchte es, sein Gesicht in ruhige, ernste Falten zu legen, wie es ein Mann tut, der solche Liebestriumphe gewohnt ist. Stolz reckte er seine mächtige Gestalt und schritt durch den Sonnenschein dahin mit der ganzen Breitspurigkeit seines Schülerhochmutes.
Herr Herz empfing seine Tochter heute besonders zärtlich; er streichelte ihr die Wangen und bemerkte: »Hübsch bist du heute, mein Kind.« Als Rosa sich mürrisch in einem Sessel ausstreckte, schlich er von hinten heran, um ihre Stirne zu küssen. Sie schenkte dem Alten wenig Aufmerksamkeit; flüchtig streiften ihre Finger einmal die Hand ihres Vaters, als Erwiderung seiner Liebkosungen; dann fragte sie nach dem Essen.
»Ja, das Essen«, erwiderte Herr Herz. »Ich weiß nicht, was die Agnes so lange macht.« Er schaute in das Speisezimmer hinüber, wo Agnes Stockmaier mit großer Genauigkeit das Tischtuch über den Tisch deckte.
»Agnes«, mahnte Herr Herz freundlich, »die Rosa ist hungrig.« Da Agnes keine Antwort gab, begann er mit kleinen Schritten im Gemach auf und ab zu gehen. Er rückte die Sächelchen auf der Kommode zurecht, sah sich in dem Spiegel und warf zuweilen einen verstohlenen Blick zu seiner Tochter hinüber. Diese hatte den Kopf auf die Stuhllehne zurückgebogen, die Füße von sich gestreckt und war in tiefes Sinnen verloren. Endlich blieb Herr Herz am Fenster stehen, schaute auf die Straße hinab und bemerkte so nebenher: »Fräulein Schank war hier.«
»Wann?« fragte Rosa scharf.
»Kurz eh’ du kamst, ging sie.«
»Dann wollte sie sich wohl über mich beklagen?«
Herr Herz wandte sich schnell um: »Nein! Siehst du, liebes Kind, beklagen – das nicht. Sie ist dir gut. Gewiss! Sie ist dir sehr gut. Nur habt ihr heute etwas miteinander gehabt. – Eine französische Fabel, nicht? – So etwas; und dann bist du fortgegangen.«
»Ich bin fortgegangen!« rief Rosa und stellte sich gerade vor ihrem Vater auf »Sie kann es nicht verlangen, dass ich bleibe, wenn sie mir solche Dinge sagt – und vor all den andern.«
»So schlimm wird es ja nicht sein«, schaltete Herr Herz ein und lächelte erschrocken. »Sie ist vielleicht heftig gewesen. Du darfst ihr das nicht anrechnen. Du selbst hattest vielleicht auch ein wenig Schuld.«
»Und weißt du, was sie mir gesagt hat?«
»Gott, ja, liebes Kind.« Herrn Herz war die Situation peinlich.
»Sie sagte«, fuhr Rosa mit steigender Entrüstung fort, »ich lebe von anderer Leute Barmherzigkeit, ich zahle nur halbes Schulgeld. Das sagt sie vor all den Mädchen, diese Alte!«
»Sie wird das wohl nicht so gesagt haben. Ich will mit ihr sprechen.« Herr Herz lachte, als handelte es sich um einen unwichtigen Gegenstand. Er streckte beide Hände aus, um Rosas Kopf zu fassen, sie aber wandte ihm den Rücken und kehrte zu ihrem Sessel zurück.
Herr Herz verbarg seine Hände in seinen Rocktaschen und sah befangen und hilflos drein. Er wandte dem Fenster den Rücken zu, und sein Haupt ward von einer hellen Lichtaureole umgeben. Die weißen Haare flimmerten und ließen unter den dünnen Silberfäden die Kopfhaut hervorschimmern, zartrosenfarben – wie ein Kinderhaupt mit einem Tüllhäubchen bedeckt.
»Ich gebe zu, liebes Kind«, hub er leise wieder an, »es ist unangenehm, sie sollte so etwas nicht sagen, und ich spreche mit ihr darüber. Aber, da sie nun darauf besteht, dass du diese Fabel lernst, so könntest du sie vielleicht auch lernen. Eine französische Fabel, nicht wahr?«
Rosa antwortete nicht. »Sie meint es gut mit dir«, fuhr Herr Herz fort. »Gott, wie sie dich verwöhnt hat, als du ganz klein warst! Stundenlang spielte sie mit dir. Um ihretwillen kannst du schon eine Fabel lernen.« Rosa schwieg noch immer und betrachtete gedankenvoll die gelbe Tapete. Da lachte Herr Herz plötzlich auf. Ein lustiger Einfall war ihm gekommen: »Weißt du, mein Kind, wir lernen beide diese Fabel. La Fontaines Fabeln habe ich früher gut gekannt. Sie sind lustig. Damals sprach ich das Französische wie ein Pariser. Wie man das alles vergisst! Gern würde ich’s auffrischen. Ah! Du wirst sehen, was für ein schlechtes Gedächtnis ich habe. Wir werden dabei lachen müssen«, und Herr Herz lachte schon jetzt. Rosas Teilnahmslosigkeit aber machte ihn mutiger, er ward ernst und väterlich. Fräulein Schank hatte nicht so ganz unrecht. Manches Wahre lag in dem, was sie gesagt hatte. Es war ihm nicht vergönnt gewesen, ein Vermögen zu erwerben, und manches verdankte er der Wohltätigkeit anderer. Jetzt beklagte er das. Aber, du lieber Gott, in der Jugend, wer denkt da an so etwas! Nun war es zu spät. Drum sollte Rosa lieb und vernünftig sein; sollte es mit der guten Schank nicht verderben, die es trefflich meinte und, wenn Rosa ihr Examen bestanden, ihr eine Stelle als Lehrerin in der Töchterschule verschaffen wollte. Das war auch der Wunsch der Tante Ina gewesen. Für ihn selbst wäre es ein großer Trost, seine Tochter in gesicherter, geachteter Stellung zu wissen, wenn er nicht mehr sein würde. Seine Stimme wurde weich, und er fuhr sich mit der Hand über die Augen. Der Gedanke an seinen Tod rührte ihn. »Ja – ja! Wenn man deinen alten Papa hinaustragen wird«, wiederholte er; »die Schank, ich hab’s selbst gehört, sagte zu deiner guten Tante Ina: ›Wenn die Kleine dich verlieren sollte, Ina, du weißt es, ich bin deine Freundin, ich übernehme deine Pflichten.‹ Dann küssten sich die beiden guten Frauenzimmer und weinten miteinander. Vorhin, als sie bei mir war, und sie war recht aufgebracht, sagte sie doch, sie habe gehört, du hättest ein neues Kleid nötig. Sie sei bereits bei Paltow gewesen und habe einen wohlfeilen, dauerhaften Stoff gefunden. Sie zeigte mir die Probe. Sehr hübsch! Braun, mit runden gelben Punkten, so wie Erbsen ungefähr.«
»Ah!« versetzte Rosa zerstreut, »ich kenne das. Sie hat ihrer gelähmten Mutter, der ganz alten Schank, solch ein Kleid gekauft.«
»So? Ich weiß davon nichts. Du wirst ja sehen. Mir hat es gefallen, und sie sagt, es sei wohlfeil und dauerhaft. Mein armes Kind! Teure Kleider kann ich dir ja nicht geben; das weißt du. Wenn ich könnte, ich wollte meine Rosa herausputzen! Aber du bist ja in jedem Kleide hübsch.« Die hellblauen Augen schauten zärtlich zu dem mürrisch daliegenden Mädchen hinüber, und sie wurden feucht von den Tränen, die so leicht die Augen alter Leute überfluten. Er küsste seine Tochter vorsichtig auf den Scheitel und flüsterte: »Komm! Die Agnes ist mit dem Essen fertig.« – »Ah«, meinte Rosa und legte ihren Arm in den ihres Vaters.
Während des Mahles war Herr Herz äußerst lustig, fast ausgelassen. Er stellte sich ungeschickt beim Vorschöpfen der Suppe, neckte Agnes, erzählte aus seiner Ballettänzerlaufbahn viele seltsame Geschichten, die er schon hundert Mal erzählt hatte, und um das Gespräch von vorhin vollends vergessen zu machen, fügte er ihnen kleine gewagte Ausführungen mit halber Stimme bei, wenn Agnes das Zimmer verließ, um etwas zu holen. Rosa lächelte nur matt. In diesem eigensinnigen blonden Kopf war heute die feste Überzeugung entstanden, dort – irgendwo, fern von der Heimat – läge eine schöne, ergötzliche Welt, der eben nur Rosa fehlt; sie war da, man brauchte nur die Hand auszustrecken, um alles Schöne zu fassen. Bitteren Groll hegte Rosa heute gegen die alte, enge Stube mit ihren lächerlichen Möbeln, ihrem schläfrigen Frieden, Groll gegen die ganze widerwärtige Stadt, selbst gegen ihren Vater, der aus der großen Welt in dieses kleinliche Nest flüchten konnte, um fortan nur für den Klub, für Klappekahl und für Lanin zu schwärmen. Da stand die gute Agnes Stockmaier in ihrem weißen Kleide. So hatte dieses große weiße Gesicht immer dreingeschaut, seit Rosa denken konnte. Diese grauen Augen hatten stets so ruhig vor sich hingeblickt, als wären Augen nur auf der Welt, um zu sehen, ob Staub auf der Kommode liege oder ob das Tischtuch Falten schlüge. Oh, und diese Suppe mit ihren Fettaugen, dieser Braten mit seiner langen Sauce! Rosa hatte sie jahraus, jahrein gegessen; täglich hatten sie die Wohnung mit ihrem Duft erfüllt. Gott ja, es war unerträglich klein, gewöhnlich, lächerlich! Ein Gefühl der Rebellion, der Verachtung alles dessen, was es kannte und besaß, stieg in der Brust dieses jungen Mädchens auf, in dessen Leben das größte Ereignis bisher ein Tanzabend bei Klappekahls gewesen war.
Rosa mochte nicht ausgehen. Sie wollte bis zum Abend daheim bleiben und sich immer tiefer in ihre unklaren Grübeleien vergraben. Ihr Vater gab sich, wie gewöhnlich, seinem Mittagsschlummer hin; Agnes klapperte beim Abräumen leise mit dem Tischgerät. Rosa lehnte am Fenster, und ihre runden blauen Augen sahen unverwandt hinaus.
Die Stille des Sommernachmittages war auf das Städtchen niedergestiegen. Am zartblauen Himmel standen glänzende Wolkenhaufen, wie Ballen weißer Wolle. Die Pflastersteine waren so hell beschienen, dass Rosa große Käfer auf ihnen erspähen konnte. Sie krochen langsam dahin, blieben plötzlich, wie sinnend, stehen und hatten runde, stahlblaue Leiber, dann kam eine Eintagsmücke durch den Sonnenschein geflogen.
Rosa hatte lange hinausgestarrt. Mechanisch und gedankenlos war sie allen Vorgängen draußen gefolgt. Ihre Augen hatten immer starrer vor sich hingeblickt, hatten sich endlich geschlossen, der Kopf war auf den Arm niedergesunken – Rosa schlief, und das blonde Köpfchen im offenen Fenster schien auch ein Stück des trägen Nachmittaggoldes zu sein, das dort auf der Fensterbank liegengeblieben.
Als ein roter Sonnenstrahl ihre Augen traf, erwachte Rosa. Sie war allein im Gemach; ihr Vater hatte sich leise fortbegeben. Ringsum auf den alten Möbeln und Sachen lag blassrotes Licht. Von der Straße tönten Stimmen und Schritte herauf. Auf dem Gartenzaune saß des Pfarrers Bube und biss in eine gelbe Frühbirne. Die Kastanienwipfel wiegten sich sachte hin und her. Eine Katze stand ruhig auf einem Dach und schaute über die Stadt hin, während die Sonnenstrahlen zwischen ihren Beinen hindurchschlüpften und ihren Leib vergoldeten. Der weiße Wolkenhügel von vorhin war fort; die Wölkchen waren auseinandergezogen und lagen jetzt verstreut über das tiefe Himmelsblau,
Es war lustig! – Rosa rieb sich die Augen und dachte darüber nach, was es doch war, das sie vorhin betrübt hatte. Sie entsann sich dessen wohl; aber es erschien ihr jetzt gering. Fräulein Schank, das Kleid mit den gelben Erbsen, die Fabel, ihr alter Vater, das alles war kein Grund, sich ernstlich zu grämen. Brauchte sie denn das enge Leben zu teilen? Gehörte ihre anziehende Person mit den blauen Augen und dem goldenen Haar nicht ihr? Konnte sie denn mit ihrem Leben nicht anfangen, was sie wollte? Was konnte sie nicht alles Tolles, Unerhörtes beginnen. Noch wollte sie warten; sie hatte ja Zeit. Sinnend lehnte sie den Kopf an das Fensterkreuz und lächelte hochmütig. Der Gedanke: ich gehöre mir – mir ganz allein, war plötzlich in diesem leichtfertigen Mädchenhirn aufgeschossen, schüchtern noch und unklar; er war jedoch da mit seiner ganzen wundersamen, gefährlichen Macht.
Auf der Treppe des gegenüberliegenden Hauses saß der Pfarrer Raser mit seiner Frau. Ihre ruhigen Stimmen schollen über die Straße zu Rosa herüber. Ihr Jüngstes, nur mit einem Hemdchen angetan, sprang zu ihnen heraus und stieß kleine schrille Freudenrufe aus, wie sie nur Vögeln und Kindern eigen sind.
Das sinnende Mädchen stand vor dem großen Frieden der Natur, mit dem unruhigen, eigensinnigen Egoismus junger Herzen; es grübelte und sann, wie es diese Schönheit und Harmonie sich dienstbar machen könnte; wie es sich damit schmücken sollte, welche Rolle ihm in diesem Schauspiele gebührte? Nachdenklich blickten die blauen Augen zu den Sternen auf, wie sie sonst wohl in den Spiegel schauten, um die geeignetste Stelle für ein Band in den blonden Flechten zu finden.
Herr Herz kam in heiterer, angeregter Stimmung heim. Er küsste seine Tochter auf die Stirn und fragte, ob die schwarze Laune schon geschwunden sei. Dann lief er unruhig im Zimmer auf und ab und packte seine Neuigkeiten aus. Bei Lanins war vor einer halben Stunde der Neue angelangt. Herr Herz war zugegen gewesen, als die Postchaise bei Lanins vorgefahren war, denn er stand mit dem Doktor gerade auf dem Marktplatze. »Klappekahl kam sogleich herbeigelaufen, und wir betrachteten den jungen Mann. Viel war nicht zu sehen. Er sprang schnell aus dem Wagen und ging in das Haus. Ein Schnurrbärtchen scheint er zu tragen, genau lässt sich das nicht bestimmen; der Doktor meinte, es sei nur Staub von der Reise.«
»War Sally da?« fragte Rosa.
»Ich glaube – ja«, erwiderte Herr Herz. »Es schien mir, als stände sie im Laden, er aber, natürlich, ging durch die Haustüre ins Haus. Einen grauen Mantel mit einer Kapuze trug er; das soll jetzt Mode sein, sagt Klappekahl. Klappekahl fand auch in der Art, wie der junge Mann sich aus dem Wagen schwang, viel Chic. Ich konnte nichts Besonderes sehen. Drei Koffer hat er mitgebracht, schön mit Leder überzogen. Wir gingen heran und befühlten sie. Ich gehe später noch in den Klub, vielleicht kommt Lanin und erzählt von seinem Neffen.«
Herr Herz sprach die ganze Mahlzeit über von dem wichtigen Ereignis und erging sich in allerhand Vermutungen.
»Also du gehst heute in den Klub?« fragte Rosa.