Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

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Achtes Kapitel

Beim nächs­ten Zu­sam­men­tref­fen in der Schu­le schenk­te Fräu­lein Sal­ly ih­rer Freun­din kei­ne Be­ach­tung. Sie hat­te für Rosa nur flüch­ti­ge Mit­leids­bli­cke. Sie tat ihr leid, das arme Ge­schöpf, das kei­nen Vet­ter hat­te, mit dem sie sich geist­reich ne­cken konn­te. Noch woll­te sie ihr aber nichts von die­sem Vet­ter er­zäh­len, der Ver­rat an der Freund­schaft muss­te be­straft wer­den. Fräu­lein Sal­ly ließ sich nur her­bei, ge­gen Ma­ri­an­ne Schulz leicht­hin zu be­mer­ken: »Gott, ich bin müde! Ich habe mich ges­tern bis spät in die Nacht hin­ein mit mei­nem Cou­sin un­ter­hal­ten.«

Ma­ri­an­ne riss die Au­gen auf und frag­te: »Ha­ben Sie denn einen Cou­sin?«

Fräu­lein Sal­ly lach­te und stieß ihre Nach­ba­rin mit dem El­len­bo­gen: »Hö­ren Sie doch! Ma­ri­an­ne weiß nicht ein­mal, dass ges­tern mein Cou­sin an­ge­kom­men ist.«

»Aber Ma­ri­an­ne!« mein­te die Nach­ba­rin ver­ächt­lich.

All­zu­lan­ge ver­moch­te Fräu­lein Sal­ly je­doch nicht zu zür­nen.

Als Rosa am Nach­mit­tage über den Markt­platz ging, wink­te Fräu­lein Sal­ly ihr freund­lich zu und rief: »Rosa, mein Herz! Wo­hin?«

Rosa trat an das Fens­ter und be­rich­te­te: Zu Hau­se sei es zu schwül ge­we­sen, dar­um sei sie spa­zie­ren­ge­gan­gen.

Fräu­lein Sal­ly saß am Fens­ter und hielt einen Ro­man in der Hand. Es war noch je­mand im Ge­mach und rauch­te. Rosa ver­moch­te ihn nicht deut­lich zu se­hen, da er seit­ab vom Fens­ter stand, sie zwei­fel­te je­doch nicht dar­an, dass es der Neue sei.

»Kommst du nicht her­ein, lie­be Rosa? Es sitzt sich hier ganz al­ler­liebst.«

Rosa fand ihre Freun­din heu­te un­ge­wöhn­lich sanft; auch be­merk­te sie an ihr ei­ni­ge fei­ne Hand­be­we­gun­gen, die sie noch nicht kann­te. Sie wun­der­te sich nicht dar­über, denn die Zi­ga­ret­te, die im Hin­ter­grun­de des Ge­ma­ches leuch­te­te, übte auch auf Rosa ih­ren Ein­fluss aus und mach­te, dass sie man­ches tat und sag­te, was ihr nicht ganz na­tür­lich war.

Rosa woll­te der Ein­la­dung ih­rer Freun­din nicht Fol­ge leis­ten, sie hat­te sich vor­ge­nom­men, spa­zie­ren­zu­ge­hen, und Sal­ly wuss­te ja, wenn sie sich et­was vor­nahm…

»Oh, der klei­ne Ei­gen­sinn!« rief Fräu­lein Sal­ly. »Aber ich be­glei­te dich, mein Herz.« Lei­ser füg­te sie hin­zu: »Vi­el­leicht kommt er mit. Cou­sin«, sprach sie dann in das Zim­mer hin­ein, »Sie ma­chen wohl auch eine Pro­me­na­de?«

»Un­mög­lich«, ver­lau­te­te die Stim­me aus dem Hin­ter­grun­de. »Un­mög­lich – bei die­ser Hit­ze! Sie scher­zen, Cou­si­ne!«

»Durchaus nicht«, er­wi­der­te Fräu­lein Sal­ly. »Gott, was die Her­ren ver­wöhnt sind!«

»Nicht doch«, rief Am­bro­si­us und trat an das Fens­ter. »Ich gebe Ih­nen mein Ehren­wort, es geht nicht; ich muss ins Ge­schäft. Sonst – oh!«

Fräu­lein Sal­ly er­hob sich mit ei­nem so erns­ten Ge­sicht als woll­te sie ein Va­terun­ser spre­chen, und sag­te: »Mein Cou­sin Tel­le­r­at – mei­ne Freun­din Rosa Herz.«

»Ah – es freut mich.« Am­bro­si­us ver­beug­te sich. »Es tut mir leid, die Da­men nicht be­glei­ten zu kön­nen – in der Tat. Oh, mei­ne Da­men, Sie wis­sen nicht, was das heißt: Ge­schäf­te im Au­gust.«

Fräu­lein Sal­ly droh­te neckisch mit dem Fin­ger und hielt es für Träg­heit, er aber leg­te die Hand auf das Herz und be­teu­er­te das Ge­gen­teil.

»Gut, wir ge­hen also al­lein. Ich hole mei­nen Hut.« Mit die­sen Wor­ten hüpf­te Fräu­lein Sal­ly da­von.

Wäh­rend ih­rer Ab­we­sen­heit ent­spann sich eine höf­li­che Un­ter­hal­tung zwi­schen Rosa und Am­bro­si­us; sie mit auf­merk­sam erns­tem Ge­sicht und ste­tem Er­rö­ten, er, die Schul­ter leicht ge­gen den Fens­ter­rah­men ge­lehnt – sehr ge­ra­de, mit aus­ge­bo­ge­ner Tail­le und be­stän­di­gem Räus­pern, wo­bei er den Rauch der Zi­ga­ret­te durch die Na­sen­lö­cher trieb, denn, weiß es Gott warum, die­ser jun­ge Mann hielt einen be­stän­di­gen Ka­tarrh für welt­män­nisch und vor­nehm.

Sie spra­chen über das Städt­chen. Am­bro­si­us mein­te, es ge­fal­le ihm, es sei nett; nett sei das rech­te Wort da­für, wor­auf Rosa er­wi­der­te, es sei recht freund­lich. Ja, er gab das zu, zog je­doch den Aus­druck nett vor. Ein we­nig still, wand­te Rosa ein, sie fand es so­gar zu­wei­len lang­wei­lig. Ein we­nig klein­städ­tisch, Gott, ja – Am­bro­si­us hat­te es nicht an­ders er­war­tet. Eine ru­hi­ge, ge­müt­li­che Ge­sel­lig­keit war ihm ge­ra­de recht. Das bun­te Trei­ben ei­ner großen Stadt wird man auch müde, nicht wahr? Ah ge­wiss! Zur Er­ho­lung war es der rech­te Ort. – Rosa ver­stand das wohl.

Dann kam Fräu­lein Sal­ly zu­rück und rief ih­rem Vet­ter scherz­haf­te Ab­schieds­wor­te zu, die dun­kel ge­nug wa­ren. Bei­de lach­ten je­doch, zum Zei­chen, dass sie sich ver­stan­den.

Arm in Arm wan­der­ten die bei­den Mäd­chen dem Stadt­gar­ten zu. Von dem gest­ri­gen Streit war kei­ne Rede mehr, son­dern Fräu­lein Sal­ly be­gann so­gleich den Cha­rak­ter ih­res Vet­ters zu be­spre­chen. Sie hat­te ei­ni­ges über die Kun­strei­te­rin – denn eine Kun­strei­te­rin war sie, das stand jetzt fest – in Er­fah­rung ge­bracht. Sie war der An­sicht, es sei nur eine mo­men­ta­ne Ver­ir­rung ge­we­sen, die von kei­nen Fol­gen sein dürf­te.

»Er tut mir leid!« seufz­te das gute Mäd­chen. »Siehst du, er hat ein gu­tes, so­zu­sa­gen ein gol­de­nes Herz. Heu­te mor­gen ver­such­te ich den zar­ten Punkt zu be­rüh­ren. Du ver­stehst? Ich woll­te an­deu­ten, dass ich um die Sa­che weiß und ihn ver­ste­he. Er wur­de ganz ernst und sag­te: ›Das ist vor­über, Cou­si­ne Sal­ly.‹ Das klang im höchs­ten Gra­de be­weg­lich. Da­bei fuhr er sich mit der Hand über die Stirn: Das ist vor­über, Cou­si­ne Sal­ly! Ist’s nicht rüh­rend?«

»Sehr rüh­rend«, be­stä­tig­te Rosa sach­ver­stän­dig.

»Nun«, fuhr Fräu­lein Sal­ly fort, »da sah ich ihn – so – an.« Fräu­lein Sal­ly riss die Au­gen weit auf und sag­te ernst: »Weißt du – ganz ernst: ›Ist es auch vor­über?‹«

»Sehr gut!« schal­te­te Rosa ein.

»Also ist es auch vor­über? Da lä­chel­te er – weißt du – so tief me­lan­cho­lisch und sag­te: ›Ja nun, wie eben so et­was vor­über sein kann.‹ Auch sehr gut, nicht wahr?«

»Ja, ja«, mein­te Rosa, »er glaubt, sol­che Wun­den hei­len nie ganz.«

»Na­tür­lich! – Nun – ich nick­te und frag­te kurz und sanft: ›Der Name?‹ – Da seufz­te er tief und sag­te: – ›Ro­si­na.‹ Aber wie er das Wort ›Ro­si­na‹ sag­te – das kannst du dir nicht den­ken.«

»Ich kann es mir den­ken«, ver­setz­te Rosa ge­rührt.

»Nein – nein! Das kannst du dir nicht den­ken! – Ro­si­na – Ro­si­na.« Fräu­lein Sal­ly leg­te in die­sen Na­men alle An­dacht, über die sie ge­bot, dass er wie ein Ge­bet klang; es war aber doch nicht das Rech­te: »Ich kann es dir eben nicht wie­der­ge­ben. ›Spre­chen wir von et­was an­de­rem‹, sag­te er dann. Oh, er ist so san­gui­nisch, fast leicht­fer­tig. So brach ich denn ab.«

Rosa ward nach­denk­lich. Die­ser Am­bro­si­us mit der Lie­be zur schlech­ten Ro­si­na er­schi­en ihr an­zie­hend. Das hüb­sche Ge­sicht, die schwung­vol­len Be­we­gun­gen; ge­wiss! Er hat­te viel Ein­neh­men­des. »Ich wüss­te gern mehr hier­über«, sag­te sie sin­nend.

»Ja!« er­wi­der­te Fräu­lein Sal­ly und zuck­te die Ach­seln: »Es lässt sich auch nicht al­les wei­ter­sa­gen, was er sei­nen Ver­wand­ten an­ver­traut.« Da­bei mach­te sie eine ge­heim­nis­vol­le Mie­ne und kniff die Lip­pen zu­sam­men, um os­ten­ta­tiv zu schwei­gen.

Am­bro­si­us hat­te sich, wie er es den Da­men ge­sagt hat­te, in das Ge­schäft be­ge­ben. Die­ses war je­doch so un­er­träg­lich heiß und voll star­ker, dump­fer Gerü­che, dass es ihn im höchs­ten Gra­de ver­stimm­te. Er setz­te sich mit­ten auf den La­den­tisch, trom­mel­te mit den Ab­sät­zen auf die mor­schen Bret­ter und schau­kel­te träu­me­risch mit sei­nem Stöck­chen eine Wurst, die über ihm an der De­cke hing. Hin­ter ihm stand Con­rad Lurch, maß­lo­ses Stau­nen in den Mie­nen. Er hat­te es nie ver­sucht, sich auf den La­den­tisch zu set­zen; nie war ihm der Ge­dan­ke ge­kom­men, man kön­ne das tun. Sein Kol­le­ge be­ach­te­te ihn je­doch gar nicht, schau­kel­te die Wurst, gähn­te und starr­te auf die trü­ben Fens­ter­schei­ben. Eine große, un­kla­re Miss­s­tim­mung hat­te sich sei­ner be­mäch­tigt. Noch war es kein gan­zer Tag, dass er sich in der Stel­lung ei­nes ers­ten Kom­mis der Fir­ma La­nin be­fand, und doch war ihm die­se Stel­lung schon gänz­lich zu­wi­der. Er lang­weil­te sich, und Lan­ge­wei­le hielt er für ein Un­glück. Ein un­über­wind­li­cher Durst nach lau­ten, un­ge­ord­ne­ten Ver­gnü­gun­gen er­füll­te die­sen jun­gen Mann. Von je­her hat­te er ohne zu zau­dern nach al­lem ge­grif­fen, was ihn reiz­te, was nur im Ent­fern­tes­ten einen Ge­nuss ver­sprach. Als sechs­jäh­ri­ger Bube be­mäch­tig­te er sich je­des Ku­chens, des­sen er hab­haft wer­den konn­te, war es auch noch so streng ver­bo­ten. War der Ku­chen ver­zehrt, dann erst ge­dach­te der klei­ne Am­bro­si­us der Stra­fe und wein­te. Als zwan­zi­gäh­ri­ger Jun­ge war er eben­so acht­los und ge­dan­ken­los sei­nen El­tern da­von­ge­lau­fen, um ei­ner Kun­strei­ter­trup­pe zu fol­gen, nur weil ihm die­se Welt der Tres­sen und Flit­ter in die Au­gen stach und weil eine al­tern­de Kun­strei­te­rin für vie­les Geld sich her­a­bließ, ihn zu lie­ben. Um einen Wunsch zu er­fül­len konn­te er Ent­schlos­sen­heit und Tat­kraft zei­gen, wuch­sen aber aus sei­nem Leicht­sin­ne Schwie­rig­kei­ten und Müh­sal, dann war er ohn­mäch­tig.

Sein wei­ches, ner­vö­ses Ge­müt ließ sich von dem ge­rings­ten Un­fall, von der kleins­ten Wi­der­wär­tig­keit nie­der­drücken. Ja, fehl­te es sei­ner Um­ge­bung auch nur an be­son­de­rer Hei­ter­keit, um­gab ihn ein ge­wöhn­li­ches ru­hi­ges Le­ben, so fühl­te er sich schon me­lan­cho­lisch und klag­te über Welt­schmerz. Der enge La­den, die schwe­re Luft und die trü­ben Fens­ter­schei­ben wa­ren denn auch nicht ge­eig­net, ge­gen die­sen Welt­schmerz an­zu­kämp­fen. So ver­sank Am­bro­si­us im­mer tiefer in sein übel­lau­ni­ges Brü­ten. Plötz­lich ließ sich Lurchs sanf­te Stim­me ver­neh­men: »Die­ses ist eine Pa­ri­ser Wurst.«

 

»Wie?« fuhr Am­bro­si­us auf, der ver­ges­sen hat­te, dass er nicht al­lein sei.

»Ich mein­te, Herr Tel­le­r­at…« wie­der­hol­te Lurch. –

»Von Tel­le­r­at«, un­ter­brach ihn Am­bro­si­us. »Von – es ist ita­lie­ni­scher Adel; di – heißt es – ei­gent­lich di Tel­lar­da, dar­aus Tel­ler­ar­do, und so…«

»So hat sich das her­aus­ge­bil­det«, er­gänz­te Lurch auf­merk­sam.

»Na­tür­lich«, ent­geg­ne­te Am­bro­si­us und be­gann lei­se vor sich hin zu pfei­fen, bis Lurch wie­der das Wort nahm: »Ich mein­te vor­hin, Herr von Tel­le­r­at, dass die­se Wurst eine so­ge­nann­te Pa­ri­ser Wurst sei.«

»He, die­se?« Am­bro­si­us schlug mit dem Stöck­chen auf die Wurst und be­merk­te dann: »Hart.«

Lurch folg­te mit be­sorg­tem Blick den Schwin­gun­gen der Wurst: »Glau­ben Sie nicht«, frag­te er und er­rö­te­te, »dass es ihr scha­den kann, wenn man sie schlägt und schau­kelt?«

»Die da?« Am­bro­si­us hol­te wie­der mit dem Stöck­chen aus, aber Lurch rief angst­voll: »Schla­gen Sie sie nicht! Es kann ihr nicht gut sein.« Er blick­te in­nig zur Wurst auf; er hat­te um sie ge­lit­ten; die alte, ehr­wür­di­ge Wurst, die gan­ze Fa­mi­lie lieb­te sie. War sie nicht schon lan­ge im Ge­schäft? Na­tür­lich kauf­te sie nie­mand; sie war zu gut für das Städt­chen. Aber ein großes Ge­schäft muss eine ech­te Pa­ri­ser Wurst ha­ben. Sie re­prä­sen­tier­te die Fir­ma und war fast ein Glied der Fa­mi­lie. Nein, es war Sün­de, sie zu schla­gen.

End­lich brach Am­bro­si­us sein düs­te­res Schwei­gen und be­merk­te, dass er noch kei­nen Kun­den im La­den ge­se­hen habe.

»Am Nach­mit­tag kom­men sie nicht«, er­klär­te Lurch. »Am Abend pfle­gen die Herr­schaf­ten die Dienst­mäg­de her­zu­schi­cken, um Ker­zen, Käse, Pe­tro­le­um…«

»Hüb­sche?« un­ter­brach ihn Am­bro­si­us.

»Je nun, mein Gott! Hübsch sind sie nicht be­son­ders. Eine viel­leicht. Ja, die Kä­the – die ist hübsch. Oh, ja! Die hat eine hüb­sche Nase, eine hüb­sche große Nase.«

»Ah! Aber wo­mit ver­treibt man sich hier denn die Zeit? An so et­was denkt hier nie­mand.«

»Doch«, er­wi­der­te Lurch ver­le­gen, ob­gleich er es nicht schei­nen woll­te. »Man un­ter­hält sich hier recht gut. Ich – ja se­hen Sie – an den Wo­chen­ta­gen bin ich hier be­schäf­tigt. Aber Sams­tag­abend – dann geh ich aus.«

»Wo­hin denn?«

»Wir ha­ben näm­lich«, Lurch dämpf­te sei­ne Stim­me, »wir ha­ben näm­lich ein Kränz­chen.«

»Kränz­chen? Was für ein Kränz­chen? Es gibt vie­ler­lei Kränz­chen!« rief Am­bro­si­us.

»O bit­te, spre­chen Sie nicht so laut!« fleh­te Lurch. »Es ist ei­gent­lich ein Ge­heim­nis, ob­gleich nichts Bö­ses dar­an ist.«

»Gut, gut! Ich sag’s nicht wei­ter.«

»Also bei Stei­ning, dem Kon­di­tor.« Lurch sprach die­ses Wort sehr ge­pflegt und die An­fangs­sil­be ganz fran­zö­sisch aus. »Dort ver­sam­meln wir uns im hin­tern Zim­mer. Ken­nen Sie die­ses Zim­mer? Nicht? – Oh, ein wun­der­ba­res, ein­zi­ges Zim­mer! So trau­lich! Grü­ne Ta­pe­ten hat es und einen Kron­leuch­ter. Recht ele­gant ist es. Alle mög­li­chen Be­quem­lich­kei­ten fin­den Sie dort – drei Spuck­näp­fe, mas­siv von Mes­sing.«

»Wer ver­sam­melt sich dort?«

»Wir sind un­se­rer sechs. Da ist der To­ma­scher vom Ad­vo­ka­ten Krug, dann Silt, Ap­fel­baum…«

»Was trin­ken Sie?«

»Bier, sehr fei­nes Bier.«

»Hm –« warf Am­bro­si­us vor­nehm und kühl hin, »Sie füh­ren mich dort ein­mal ein.« – Lurch floss über von Dank­bar­keit und Be­geis­te­rung: »Sie wer­den sich gut un­ter­hal­ten. Ge­wiss! Es wird Ih­nen ge­fal­len. Es geht dort sehr hei­ter zu. Silt ist ein gar zu wit­zi­ger Mensch. Sie kön­nen sich so et­was gar nicht vor­stel­len.« Lurch muss­te la­chen, wenn er nur an Silt dach­te: »Auch Ap­fel­baum wird Ih­nen zu­sa­gen. Er ist ein we­nig wüst, aber er er­zählt sehr gut sei­ne Rau­fe­rei­en mit den Metz­ger­bur­schen. Oh, und dann Wau­mer! Ein präch­ti­ger Mensch. Was für Arme der hat! Den Arm­bre­chen zu se­hen, ist der höchs­te Ge­nuss.«

»Gut, gut! Sie füh­ren mich hin. Gott, was fängt man sonst an!« Am­bro­si­us gähn­te laut und streck­te sich.

»Wir ha­ben auch einen Na­men für un­ser Kränz­chen«, fuhr Lurch eif­rig fort.

»Nun?«

»Gers­ten-Saft-Strauß. Ist das nicht ein­zig? Ein Strauß aus Gers­ten­saft. Wir sind die Blu­men. Das hat sich Silt er­dacht; wer wäre sonst dar­auf ge­kom­men! Köst­lich!«

»Al­ler­dings!« mein­te Am­bro­si­us. »Ori­gi­nell – hm – al­ler­dings.«

Eine Pau­se trat ein, die nur zu­wei­len von ei­nem ge­walt­sam auf­pras­seln­den La­chen un­ter­bro­chen ward, ge­gen das Lurch ver­ge­bens an­kämpf­te. Röt­li­che, schrä­ge Son­nen­strah­len dran­gen durch die Fens­ter­schei­ben und fie­len auf ein großes Be­hält­nis voll ge­dörr­ter Fi­sche, lie­ßen die­sel­ben wie bräun­li­che Gold­bar­ren er­glän­zen und leg­ten um die klei­nen to­ten Köp­fe win­zi­ge Hei­li­gen­schei­ne. Am­bro­si­us fand das poe­tisch und be­merk­te: »Se­hen Sie, Lurch, ganz al­ler­liebst –«

»Ja! Ström­lin­ge«, er­wi­der­te Lurch.

Am­bro­si­us zuck­te die Ach­seln. Er fand, dass es sei­nem Kol­le­gen an Schön­heits­sinn ge­brach, dann sag­te er plötz­lich: »Und Sal­ly, was hal­ten Sie von Sal­ly?«

Lurch ward ver­wirrt und mur­mel­te: »Sehr hübsch – ge­wiss – sehr hübsch –«

»Sie schielt?«

»Nein, o nein!« rief Lurch in großer Auf­re­gung. »Ich habe das nicht be­merkt. Nein, ich glau­be es nicht, dass sie schielt. –«

»Hm«, mein­te Am­bro­si­us. »Aber die Freun­din?«

»Fräu­lein Rosa?« Bei die­sem Na­men ward Lurchs ar­mes gel­bes Ge­sicht ganz rot. »Fräu­lein Rosa ist sehr hübsch – sehr.«

Am­bro­si­us blick­te ihn spöt­tisch an. »Kommt sie zu­wei­len zu Ih­nen?«

»Zu­wei­len, doch nicht zu mir. Sie be­sucht Fräu­lein Sal­ly – dann ist Fräu­lein Sal­ly zu­wei­len nicht hier – dann war­tet Fräu­lein Rosa zu­wei­len im La­den.«

»Ver­liebt?«

»Nein, Herr von Tel­le­r­at! Gott, nein! Sie nimmt wohl hin und wie­der ei­ni­ge Ko­rin­then, aber das ist doch nicht Lie­be.«

»Ich mein­te auch nicht, dass sie Sie liebt –«

Lurch lach­te ge­zwun­gen. »Das konn­ten sie na­tür­lich nicht mei­nen. Nein! Ei­ni­ge Ko­rin­then – wei­ter ist’s nichts.«

Am­bro­si­us dach­te nach, und zwar sehr tief, denn er leg­te sich mit dem Bauch über den La­den­tisch und stütz­te den Kopf in die Hän­de. Was war es denn mit die­sem Mäd­chen? Es war hübsch, es war blond – und blond muss­te nach sei­ner An­sicht ein Mäd­chen sein. Soll­te er sich ver­lie­ben? Wäre Rosa Herz der ge­eig­ne­te Ge­gen­stand? Es woll­te ihm so schei­nen, und er be­schloss, Rosa Herz zu lie­ben. Er seufz­te; das war der An­fang der Lie­be; dann rich­te­te er sich auf, schau­te Lurch mit­lei­dig an und sag­te ge­fühl­voll: »Ja, hm – ein al­ler­liebs­tes asch­blon­des En­gel­köpf­chen.«

Der lau­te Ton von Kir­chen­glo­cken er­scholl.

»Was gibt es?« frag­te Am­bro­si­us.

»Abend­got­tes­dienst«, er­wi­der­te Lurch. »Heu­te ist Mitt­woch!«

»Ah! Sal­ly woll­te hin­ge­hen.«

»Ja, Fräu­lein Sal­ly ist fromm. Über­haupt die gan­ze Fa­mi­lie ist fromm«, be­merk­te Lurch und lä­chel­te.

»Ich gehe auch hin«, be­schloss Am­bro­si­us und eil­te fort. In der Türe wand­te er sich noch ein­mal um und sag­te: »Zum Scherz – wis­sen Sie.«

Die Kir­chen­glo­cken rie­fen laut und un­ge­dul­dig durch die Gas­sen. Aus al­len Häu­sern ström­ten Leu­te her­vor – has­tig – als fürch­te­ten sie, ge­schol­ten zu wer­den, wenn sie säum­ten. Sie knüpf­ten ihre Hut­bän­der oder zo­gen ihre Hand­schu­he erst auf der Stra­ße an und eil­ten der Kir­che zu. Nur ei­ni­ge Kom­mis und Schü­ler blie­ben sorg­los ste­hen, rück­ten ihre Müt­zen schief, steck­ten ihre Hän­de in die Ho­sen­ta­schen und pfif­fen, als woll­ten sie zei­gen, dass sie vom Kir­chen­ge­hen nichts hiel­ten.

Die Räu­me der klei­nen Kir­che wa­ren ganz von Gläu­bi­gen er­füllt. Als Am­bro­si­us hin­ein­trat, stimm­te die Or­gel ein Lied an. Ein Chor dün­ner Frau­en­stim­men fiel ein und sand­te lang­ge­zo­ge­ne an­däch­ti­ge No­ten zur Wöl­bung auf. Der Al­tar war mit ei­ner rein­li­chen wei­ßen Mus­se­lin­de­cke und zwei As­t­ern­sträu­ßen ge­schmückt. Über ihm er­hob sich ein ho­hes Öl­ge­mäl­de, Chris­tus am Kreuz dar­stel­lend. Da das Kreuz und der Hin­ter­grund die­sel­be Far­be hat­ten, so mach­te der dür­re gel­be Leib des Er­lö­sers, ein­sam und tot im Lee­ren hän­gend, einen selt­sam düs­te­ren Ein­druck. Vor dem Al­tar stand der Pfar­rer, eine re­gungs­lo­se schwar­ze Ge­stalt.

Am­bro­si­us lehn­te an ei­nem Kir­chen­stuhl und blick­te for­schend um sich. Ne­ben ihm saß eine alte Dame in ei­nem glän­zen­den At­las­man­tel und mit ei­nem großen Hut, über­deckt von ro­ten Sta­chel­bee­ren. Sie sah Am­bro­si­us streng und miss­bil­li­gend an, leg­te ihr Ta­schen­tuch auf das Pult des Kir­chen­stuhls, die Füße auf die Fuß­bank, rück­te an ih­rem Son­nen­schirm, der an ei­nem Na­gel un­ter­halb des Pul­tes hing, als woll­te sie be­wei­sen, dass sie all die­se Vor­keh­run­gen ken­ne und sich hier si­cher und wie zu Hau­se füh­le. – Rosa und Sal­ly sa­ßen nicht weit von Am­bro­si­us ne­ben­ein­an­der. Bei­de hat­ten ihn be­merkt. Sal­ly sand­te ihm einen lan­gen, erns­ten Blick zu, dann warf sie sich in plötz­li­cher Zer­knir­schung auf die Knie, barg ihr Ge­sicht in ihre Hän­de, ver­harr­te eine Wei­le in die­ser Stel­lung und rich­te­te sich mit schmerz­vol­ler Mie­ne auf, als habe sie einen ar­gen See­len­kampf be­stan­den. Rosa be­nahm sich leicht­fer­ti­ger. Sie blick­te oft zu Am­bro­si­us hin­über, lä­chel­te ein­mal ganz un­ver­hoh­len, strich sich die Löck­chen aus der Stirn, beug­te sich an das Ohr ih­rer Freun­din und flüs­ter­te ihr et­was zu, er­hielt je­doch nur einen stra­fen­den Blick.

Der Ge­sang ver­stumm­te.

Al­ler Au­gen rich­te­ten sich auf den Pfar­rer, der ru­hig da­stand und em­por­blick­te. Als er je­doch mit ei­nem lau­ten »O Herr!« be­gann, schi­en es un­er­war­tet zu sein, denn die alte Dame zuck­te er­schro­cken mit den Schul­tern. Jetzt wa­ren die tie­fe Stim­me des Geist­li­chen und ein be­stän­di­ges Hüs­teln, das die Run­de durch die Ge­stüh­le mach­te, die ein­zi­gen Lau­te im Raum. Blät­ter­schat­ten fuh­ren über den Estrich. Son­nen­strah­len spiel­ten an den Wän­den und über­gol­de­ten zu­wei­len jäh das an­däch­ti­ge, fal­ti­ge Ge­sicht ei­ner al­ten Frau. Am­bro­si­us gab sich wil­lig der ru­hi­gen, be­hag­li­chen Stim­mung hin, in der all die­se Men­schen ein­träch­tig bei­ein­an­der­sa­ßen, wie eine große Fa­mi­lie in ei­nem al­ten Fa­mi­li­en­zim­mer. Bei sei­ner Vor­lie­be für ab­ge­grif­fe­ne Wor­te nann­te er das »idyl­lisch«. Eine flüch­ti­ge Auf­merk­sam­keit schenk­te er auch der Pre­digt, die den Gang der zwei Jün­ger nach Em­maus er­ör­ter­te. Vi­el­leicht emp­fand er et­was von der Poe­sie die­ser schö­nen Er­zäh­lung. Das Ein­her­ge­hen von Zwei­en auf der nächt­li­chen Land­stra­ße, das Be­spre­chen der wun­der­sa­men Er­eig­nis­se, die Be­geg­nung mit dem Er­lö­ser, bei des­sen Wor­ten ihre Her­zen bren­nen, das ge­mein­schaft­li­che Mahl, end­lich – das Fort­schaf­fen ei­ner so be­trü­ben­den Tat­sa­che, wie der Tod ei­nes großen und ge­lieb­ten Freun­des ist. All das fand Am­bro­si­us heu­te »idyl­lisch«.

End­lich der blon­de Mäd­chen­kopf, der leicht­fer­tig in das große Ge­sang­buch hin­ein­lä­chel­te – der war ge­wiss »idyl­lisch«.