Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke

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Rosa seufz­te, rich­te­te sich halb auf und schau­te ver­wun­dert um sich; sie ver­stand ihre Le­bens­la­ge nicht. Vor ihr stand Lurch, krumm vor Rüh­rung und Ver­le­gen­heit.

»Ja, Fräu­lein Rosa, ich bin’s, nur ich – Con­rad Lurch – fürch­ten Sie sich nicht. Ih­nen war nicht ganz wohl; der Spi­ri­tus hat Ih­nen gut­ge­tan. Sie wol­len Ihr Füß­chen von der Kis­te her­ab­zie­hen? Es könn­te Sie er­mü­den, ich will Ih­nen hel­fen – ah, es ist schon ge­sche­hen. Jetzt ist Ih­nen bes­ser, Fräu­lein Rosa, nicht?«

Rosa dach­te nach – ließ die Arme schlaff nie­der­hän­gen und streck­te die Füße von sich. Das zer­knit­ter­te Kleid war tief von den Schul­tern her­ab­ge­glit­ten – wirr hin­gen ihr die Lo­cken ins Ge­sicht –, und das ärm­li­che Mond­licht ließ die gan­ze Ge­stalt selt­sam weiß und bleich er­schei­nen.

»Wa­rum bin ich hier – im La­den? Und warum sind Sie hier?« frag­te sie lang­sam.

»Das kommt da­her –«, er­klär­te Lurch. »Doch, Sie wer­den sich des­sen schon ent­sin­nen. Ich habe ei­ni­ges ge­se­hen, ich will nicht da­von spre­chen, es könn­te Sie be­lei­di­gen. Herr von Tel­le­r­at ging in den Saal zu­rück.«

»Ah –«, jetzt wuss­te es Rosa, und ihr ward ban­ge. »Fort will ich«, sag­te sie rau.

»Ge­wiss, Fräu­lein Rosa; er­lau­ben Sie nur«, und be­hut­sam fass­te Lurch den Rand von Ro­sas Kleid. »Das ist nicht für alle Welt.«

Die kal­ten Fin­ger, die sie be­rühr­ten, lie­ßen Rosa vor Wi­der­wil­len schau­dern, und sie be­gann zu wei­nen.

»Hab ich Ih­nen weh­ge­tan?« klag­te Lurch, und in sei­nen trü­ben Au­gen stan­den auch Trä­nen.

»Ich kann die Türe nicht fin­den«, schluchz­te Rosa.

»Wei­nen Sie dar­über, Fräu­lein Rosa? Die Türe kann ich Ih­nen zei­gen; hier ist sie.«

Rosa lief hin­aus, ei­lig, als wür­de sie ge­jagt. Der dunkle Raum, den sie ver­ließ, er­reg­te in ihr je­nes pein­vol­le Ge­fühl, das Kin­der er­fasst, wenn sie an fins­te­ren Ecken vor­über müs­sen.

Der Saal war fast leer, nur in ei­ner Ecke saß Frau La­nin und schlief, in der ent­ge­gen­ge­setz­ten Ecke saß Herr Herz und schlief eben­falls, und die bei­den Schlum­mern­den sand­ten sich ab­ge­ris­se­ne, schnur­ren­de Kehl­lau­te zu, dass es wie eine Un­ter­hal­tung in ei­ner bar­ba­ri­schen Spra­che klang. Auf ei­nem Ses­sel kau­er­te et­was Wei­ßes – Ma­ri­an­ne Schulz. Sie schluchz­te dort lei­se, denn seit dem Sou­per hat­te kei­ner mit ihr ge­tanzt. Sie konn­te sich nicht ent­schlie­ßen, den Saal zu ver­las­sen und das fest­li­che Mus­se­lin­kleid ab­zu­le­gen.

Rosa ging zu ih­rem Va­ter hin­über, leg­te ihre Arme um sei­nen Hals und weck­te ihn mit ei­nem Kuss.

»Komm –«, sag­te sie.

»Ge­wiss, mein Kind; es ist schon spät, nicht?«

»Lei­ser, Papa, dass nie­mand uns hört.«

»Haha, wie­der ein Spaß.«

Arm in Arm gin­gen sie hin­aus. Eine Wol­ke zog über den Mond, und ein sanf­tes Däm­mer­licht lag über der schlum­mern­den Stadt, den stil­len wei­ßen Häu­sern, den lee­ren feuch­ten Stra­ßen, wie das graue Zwie­licht ei­ner Kran­ken­stu­be.

Elftes Kapitel

Am fol­gen­den Tage war Rosa krank. Ja, sie fühl­te sich sehr krank. Ab­ge­hetzt und atem­los fuhr sie aus dem Schlaf auf. Wir­re Träu­me, auf die sie sich nicht mehr be­sin­nen konn­te, hat­ten sie ge­jagt und ver­folgt. In Fie­ber­näch­ten wird das auf­ge­reg­te Blut eine Peit­sche, die uns nim­mer Ruhe gönnt; jede neue Wel­le ein neu­er Schlag, der uns aus ei­nem wüs­ten Trau­mort in den an­dern treibt, bis wir, zu Tode er­mat­tet, er­wa­chen. Die wil­den Träu­me hat­ten Rosa so weit von ih­rem fried­li­chen Zim­mer fort­ge­tra­gen, dass sie sich jetzt ver­wun­dert um­schau­te. Son­nen­strah­len stahlen sich lus­tig gelb durch die Spal­ten der Vor­hän­ge und zit­ter­ten als matt­blon­de Flo­cken auf der Wand. Eine Flie­ge schwirr­te, lei­se sum­mend, den Licht­weg vom Vor­hang zur Wand auf und ab. In der Türe stand Ag­nes Stock­mai­er und schau­te Rosa mit ih­ren ru­hi­gen, mat­ten Au­gen an, und die­se Au­gen ta­ten Rosa wohl – über­gos­sen sie mit war­mem Be­ha­gen, si­che­rer Ge­müt­lich­keit. Rosa lehn­te sich in ihre Kis­sen zu­rück und ließ sich an­schau­en.

»Was gib­t’s, Kind?« be­gann Ag­nes, und die sanf­te, alt­ge­wohn­te Stim­me schi­en die Stil­le des Ge­ma­ches kaum zu un­ter­bre­chen. »Dir ist nicht gut? Im Schlaf hast du dich hin- und her­ge­wor­fen und hast ge­stöhnt. Was gib­t’s?«

»Nein, Ag­nes, mir ist nicht gut!« er­wi­der­te Rosa. »Ich bin so müde.«

»So schlaf, Kind.«

»Das mag ich nicht.«

»Gut! Bleib we­nigs­tens lie­gen. Aus der Schu­le wird heu­te oh­ne­hin nichts.« Ag­nes rück­te Rosa die Kis­sen zu­recht und strich die Bett­de­cke glatt. »Ich brin­ge das Früh­stück. Das kommt vom Tan­zen.«

»Ach ja!«

Ag­nes ging, und Rosa lag wie­der ru­hig da, die Hän­de über der Bett­de­cke ge­fal­tet. Sie woll­te sich selbst die Über­zeu­gung auf­drän­gen, sie sei krank und durch­aus nicht im­stan­de, Ge­sche­he­nes klar zu über­den­ken, einen Ent­schluss zu fas­sen, eine Verant­wor­tung zu über­neh­men.

Ag­nes brach­te das Früh­stück, rich­te­te Rosa auf, strich ihr das Haar aus der Stir­ne, hielt ihr die Scha­le mit Milch; un­will­kür­lich ge­riet sie wie­der in das Ge­schäft des War­tens hin­ein, das sie so lan­ge an der klei­nen Rosa ge­übt hat­te; und Rosa fand sich auch schnell wie­der in die Rol­le, Ag­nes’ Schütz­ling zu sein, der noch nichts von der bö­sen Welt der Tel­le­r­ats und der Lurchs weiß.

»Du bleibst lie­gen, bis der Papa kommt«, be­schloss Ag­nes. »Lie­ge nur still. Zu Mit­tag ste­hen wir auf.« Sie schob die Vor­hän­ge zu­rück, öff­ne­te das Fens­ter, warf einen prü­fen­den Blick auf das Ge­mach, wie sie es frü­her so oft ge­tan, wenn sie das Kind al­lein ließ und sich vor­her da­von über­zeug­te, ob nichts im Ge­mach dem Kin­de scha­den könn­te; dann ging sie mit dem ge­wohn­ten »Hübsch still! Ich bin gleich wie­der da« hin­aus.

Das Son­nen­licht drang jetzt voll in das Zim­mer und be­schi­en grell all die al­ten Sa­chen, die ab­geb­li­che­nen Vor­hän­ge, den strup­pi­gen Tep­pich – Ro­sas dunkles Werk­tags­kleid. Durch das Fens­ter klang das ein­tö­ni­ge Sur­ren der hei­ßen Mit­tags­stun­de her­ein, und al­ler­hand klin­gen­des Som­mer­ge­sin­del mit flim­mern­den Flü­geln ver­irr­te sich in das Ge­mach. Ro­sas Ge­dan­ken gin­gen weit in frü­he Kin­der­ta­ge zu­rück; im­mer wie­der woll­te sie den er­eig­nis­lo­sen Frie­den je­ner Zeit den­ken, es kos­te­te sie je­doch An­stren­gung, denn zu­wei­len ent­wi­chen die Ge­dan­ken zu ei­nem Ge­gen­stan­de, den Rosa ver­mei­den woll­te. Nein, in jene Zeit woll­te sie sich zu­rück­ver­set­zen, da sie auf dem Estrich der Kü­che saß und spiel­te, wäh­rend Ag­nes die Sup­pe koch­te und Blät­ter­schat­ten über den wei­ßen Kü­chen­tisch stri­chen, im­mer hin und her… doch ehe sie sich des­sen ver­sah, stand ein blas­ses, auf­ge­reg­tes Ge­sicht vor ihr – hei­ße Hän­de drück­ten ih­ren Arm – – –, ge­walt­sam muss­te sie die Ge­dan­ken auf die frü­he­re Bahn zu­rück­drän­gen; es ge­hör­te je­doch eine Kraft des Wil­lens dazu, die sie er­mü­de­te, und sie ließ end­lich von die­sem un­er­quick­li­chen Rin­gen mit ih­rer Phan­ta­sie ab. Gut, sie woll­te an den gest­ri­gen Abend den­ken, wenn es denn sein muss­te! Nun, und als sie an ihn dach­te, als sie sich je­den Au­gen­blick, je­des Ge­fühl wie­der in das Ge­dächt­nis zu­rück­rief – da war es so schlimm nicht. Über Lurch konn­te sie la­chen, und Am­bro­si­us – – – der Ge­dan­ke an ihn mach­te sie un­ru­hig, ver­lei­de­te ihr die Stil­le des son­ni­gen Ge­ma­ches. Alle Mat­tig­keit war fort, neue Le­ben­sun­ge­duld er­griff sie.

Herr Herz kam: »Wie geht es, mein Kind? Die Ag­nes meint, du seist krank.«

»Es ist vor­über«, er­wi­der­te Rosa. »Es war nur von ges­tern. Du weißt?«

»Ja, wir ha­ben brav ge­tanzt. Ein we­nig ge­ra­der hät­test du dich hal­ten kön­nen; sonst war es gut. Du warst die Bes­te.« Herr Herz, frisch und ro­sig, mit kla­ren Au­gen und sehr wei­ßer Wä­sche, hat­te schon viel er­lebt. »La­nin«, er­zähl­te er, »ist heu­te nicht im Ma­gis­trat ge­we­sen. Der Dok­tor ging zur Frau Pal­ton, die soll krank sein. Auch den jun­gen Tel­le­r­at habe ich ge­sehn; er stand dort beim Tröd­ler Wulf und han­del­te um einen Pfei­fen­kopf. Der Kopf war nicht schlecht, aber der Wulf, der Schelm, be­trügt all die jun­gen Leu­te.« Herr Herz woll­te sich ent­fer­nen, öff­ne­te aber noch ein­mal die Türe und rief: »Ich ver­gaß, dir zu er­zäh­len, dass ich auch Klappe­kahl ge­trof­fen habe. Er klagt über Kopf­weh – du ver­stehst, die gest­ri­ge Bow­le.«

Auch das Mit­tags­mahl war sehr hei­ter. Rosa aß und sprach zwar we­nig, da­für war sie aber stets zu ei­nem lau­ten, herz­li­chen La­chen be­reit, das ih­ren Va­ter glück­lich mach­te. Um die­ses aus­ge­las­se­ne Mäd­chen­la­chen zu er­re­gen, wag­te er al­les, er hat­te so­gar einen Witz über sei­ne se­li­ge Schwes­ter Ina ge­macht. Heu­te kri­ti­sier­te er die gest­ri­ge Ge­sell­schaft. Zu­wei­len steck­te er sei­ne Ser­vi­et­te fes­ter hin­ter den Kra­gen, er­hob sich und ahm­te das Tan­zen die­ser oder je­ner Per­son nach. »Gott, die arme Er­nes­ti­ne Klappe­kahl; sie hat das Tan­zen nie er­lernt. Hast du sie be­ob­ach­tet? Mit dei­ner lie­ben Mut­ter muss­te ich vor vie­len Jah­ren in ei­nem Bal­lett einen Zi­ka­den­rei­gen tan­zen. Wir hat­ten grü­ne Rö­cke an, lan­ge, spit­ze, ecki­ge Bei­ne und hüpf­ten um­her. Grad so hat es ges­tern Er­nes­ti­ne Klappe­kahl ge­macht. Ich muss­te an den Zi­ka­den­rei­gen den­ken.« Und als Rosa lach­te, wisch­te sich Herr Herz zu­frie­den die Lip­pen und mein­te: »Ja – Kind, frü­her war ich ein ar­ger Witz­bold. Oh, sehr sar­kas­tisch konn­te ich sein. Das ver­geht mit den Jah­ren. Aber ich hat­te eine sehr schar­fe Zun­ge.«

 

Am Nach­mit­tag je­doch litt es Rosa nicht län­ger da­heim. Eine in­ne­re Un­ge­duld trieb sie hin­aus. Erst auf der Stra­ße be­sann sie sich. Wo­hin eil­te sie denn? Wo harr­te – es – ih­rer? Wo konn­te sie es fin­den? – Zum Tröd­ler Wulf woll­te sie hin­ab.

Gera­de dem Lan­in­schen La­den ge­gen­über be­saß der Tröd­ler Wulf eine klei­ne Holz­hüt­te. Sie lehn­te sich an ein grö­ße­res Ge­bäu­de und sah mit ih­ren mor­schen Bret­ter­wän­den, ih­rem Dach aus ge­sprun­ge­nen, un­ge­ord­net über­ein­an­der­ge­scho­be­nen Dach­pfan­nen wie eine alte Schau­bu­de aus, die man ver­ges­sen hat­te ab­zu­rei­ßen. Die Türe, in den en­gen La­den füh­rend, stand im­mer of­fen. An den Tür­pfos­ten hin­gen alte Klei­der, wel­ke Ho­sen, die noch treu ir­gend­ei­ne wun­der­li­che Krüm­mung, ir­gend­ei­ne Stel­lung ih­res frü­he­ren Be­sit­zers fest­hiel­ten. Ab­ge­tra­ge­ne Rö­cke spann­ten dort ihre Arme aus und sonn­ten ihre Fett­fle­cken und Ris­se. Drin­nen, im La­den, lag al­ler­hand Gerät auf­ge­häuft. Die Ecken stan­den voll ros­ti­ger Ei­sen­sa­chen, an den Wän­den hin­gen alte Ta­pis­se­rie­ar­bei­ten, auf de­nen die Mot­ten den ge­stick­ten Da­men die blaus­ei­de­nen Au­gen aus dem Kopf und die Ro­sen aus der Hand ge­fres­sen hat­ten. Stö­ße ver­brauch­ter Schul­bü­cher türm­ten sich bis zur De­cke auf, trü­be, zer­knit­ter­te Ge­sel­len mit staub­far­bi­gen Um­schlä­gen und großen Ris­sen. Auf dem La­den­tisch stan­den Glas­kas­ten voll un­ech­ten Schmuckes, da­ne­ben Sei­fen, bun­te Ta­schen­tü­cher, Mes­ser, Käm­me, Pfei­fen­köp­fe, al­les warm be­schie­nen, dicht mit un­s­te­ten Licht­flo­cken über­sät. Hin­ter dem La­den­tisch saß der Tröd­ler selbst, ganz in sich zu­sam­men­ge­sun­ken, und schlief. Ein ha­ge­res gel­bes Ge­sicht; al­ler Art Ver­tie­fun­gen, Schram­men, wie das ver­brauch­te Gerät rings­um – brau­ne Fle­cken, wie Rost. Ein dün­ner, ab­geb­li­che­ner Bart fiel ihm auf die Brust her­ab, und zwei fest zu­sam­men­ge­roll­te Löck­chen hin­gen zu bei­den Sei­ten des nack­ten Schä­dels. So schlief der Tröd­ler Wulf in­mit­ten sei­ner mo­dern­den Ware – in der schwe­ren Luft voll Staub, Flie­gen­ge­sum­me und dem Ge­ruch von Kräu­ter­sei­fe und al­ten Ho­sen. Drau­ßen an der Türe lehn­te Ida, sei­ne Toch­ter, und un­ter­hielt sich da­mit, Kie­sel­stei­ne mit dem Fuße über die Stra­ße zu schnel­len. Ernst und sor­gen­voll folg­ten ihre schwar­zen Au­gen je­dem da­hin­flie­gen­den Stein. Rosa blieb vor dem Ju­den­mäd­chen ste­hen. »Wa­rum tust du das, Ida?« frag­te sie.

»Ich übe mich«, er­wi­der­te Ida, ohne auf­zu­bli­cken. »Wenn der Pe­ter kommt, spie­len wir das um Geld. Sie ver­ste­hen, Fräu­lein Rosa: Wenn ich’s gut kann, dann ge­win­ne ich dem Pe­ter das Geld ab. Dort den La­ter­nen­pfahl gilt es zu tref­fen. So! – Se­hen Sie, Fräu­lein Rosa –«, sie preß­te die Lip­pen zu­sam­men, ziel­te und schnell­te den Stein ge­gen den be­nach­bar­ten La­ter­nen­pfahl. »So hät­te ich ge­won­nen.« Sie kreuz­te die Arme über der Brust und blick­te Rosa scharf ins Ge­sicht: »Ges­tern wa­ren Sie schön, Fräu­lein Rosa. Durchs Fens­ter hab ich Sie ge­se­hen.«

Rosa lach­te. »Du hät­test wohl gern mit­ge­tanzt.«

»Hät­te ich schö­ne Klei­der, dann ja«, mein­te Ida; »aber er war auch schön!«

»Wer?« Rosa er­rö­te­te.

»Der jun­ge Herr dort von Lan­ins. Mit dem hät­te ich gern ge­tanzt. Er war der Al­ler­schöns­te. Nicht?«

»Was ver­stehst du da­von?« ver­setz­te Rosa un­si­cher.

»Schon recht«, er­wi­der­te Ida ru­hig; »wenn ich auch nichts da­von ver­ste­he, so weiß ich doch, dass er schön ist. Wenn er mit Ih­nen tanz­te, Fräu­lein Rosa, dann mach­te er ganz große Au­gen, das habe ich auch ge­se­hen. Soll ich ihn ru­fen?«

»Ihn ru­fen? Wa­rum?«

»Von drü­ben kann er ja leicht her­über­kom­men. Ich mein­te, Sie wol­len ihn se­hen.«

»Oh, ich nicht!« rief Rosa und blick­te zer­streut zu den Dä­chern auf. »Tu, was du willst.«

»Wol­len Sie hier war­ten, Fräu­lein Rosa?«

»Ich weiß es nicht. Vi­el­leicht ruhe ich mich hier noch aus. Aber – du weißt, Ida – mir ist es gleich­gül­tig, ob je­mand kommt oder nicht. Ich woll­te nur mit dir spre­chen.«

»Schon recht«, be­merk­te Ida und schurr­te mit ih­ren ab­ge­tra­ge­nen Schu­hen über die Stra­ße, die Lan­in­sche Trep­pe hin­an. Rosa trip­pel­te un­schlüs­sig hin und her. Soll­te sie wei­ter­ge­hen? Soll­te sie blei­ben? Sie lehn­te sich an die Türe des Tröd­ler­la­dens und schau­te den Schwal­ben nach – mit ei­nem hüb­schen Ge­sicht, das an nichts Be­son­de­res zu den­ken schi­en. End­lich kam Ida wie­der – lang­sam und gäh­nend her­an­ge­schli­chen. »Er wird gleich kom­men«, be­rich­te­te sie und setz­te sich auf die Tür­schwel­le.

»Ida – du hast doch nicht…?« rief Rosa. »Nun, mir gilt es gleich, ob je­mand kommt oder nicht. Ich habe nie­man­den ru­fen las­sen. Ich nicht.«

»Gut! So kommt er zu mir.« Da­bei zuck­te Ida die Ach­seln, schloss halb die Au­gen und saß schläf­rig und ru­hig da, wie ein al­tes, blei­ches Weib, das all die Ju­gend­tor­hei­ten kennt und ver­ach­tet. Die Glo­cke an Lan­ins La­den­tür er­klang, und Am­bro­si­us eil­te auf die Stra­ße hin­ab, ohne Hut, bunt­ge­stick­te Pan­tof­feln an den Fü­ßen und ein stol­zes Lä­cheln auf den Lip­pen.

»Ein we­nig in Neg­ligé«, schrie er schon von wei­tem. Dann stell­te er sich vor Rosa hin, eine Hand in die Sei­te ge­stemmt. »Aber bei Gott! Ich habe wun­de Füße von ges­tern. Wie geht es dir? Hm – ach so, wir sind nicht al­lein. Wie geht es Ih­nen, mein gnä­di­ges Fräu­lein?« Da­bei lach­te er ge­heim­nis­voll.

»Gut, recht gut, Herr von Tel­le­r­at«, er­wi­der­te Rosa und wieg­te ver­le­gen ih­ren Ober­kör­per.

»Kom­men Sie«, fuhr Am­bro­si­us fort. »Stel­len wir uns hier in die Ni­sche zwi­schen die Tür und das Haus. Hier sieht uns kein Mensch, höchs­tens dort vom Sa­lon aus; aber um die­se Zeit geht nie­mand ans Fens­ter, das weiß ich! Ha – ha! Hier ist es nett, so­zu­sa­gen ge­müt­lich. Hat Ih­nen der gest­ri­ge Schreck nicht ge­scha­det? Ich war um Sie in To­des­angst. Aber ich muss­te fort, um Sie nicht zu kom­pro­mit­tie­ren. Der Lurch soll mir die­sen Streich be­zah­len. Er hat mich furcht­bar an­ge­grif­fen. Mit­ten in un­se­rem Bei­sam­men­sein, mit­ten in – hm«, er warf den Kopf zu­rück und such­te nach ei­nem poe­ti­schen Aus­druck. »Mit­ten – so­zu­sa­gen in der ar­ka­di­schen Schä­fer­stun­de ge­stört zu wer­den, das zog mir das Herz zu­sam­men.«

»Sie hät­ten es nicht tun sol­len«, sag­te Rosa lei­se.

»Wa­rum nicht?« Am­bro­si­us’ Ge­sicht ward rot und böse. »Dazu muss­te es kom­men, liebs­te Rosa, du muss­test ein­mal er­fah­ren, wie sehr ich dich lie­be. Glaubst du, es hat mich nicht ge­kränkt, den gan­zen Abend mit an­se­hen zu müs­sen, wie je­der Schul­bub den Arm um ein Mäd­chen le­gen darf, das – hm, ja – das mir ge­hört? Dir war’s viel­leicht recht, ich aber litt dar­un­ter. Ich woll­te dich für mich ganz al­lein ha­ben.« Als er sah, dass Rosa über sei­ne Hef­tig­keit er­schrak, ward er ru­hi­ger, ge­fühl­vol­ler. Ach Gott! Rosa ahn­te nicht, wie heiß er sie lieb­te, wie sie sein gan­zes Glück in ih­rer klei­nen, leicht­fer­ti­gen Hand hielt. Er kann­te nicht flüch­ti­ge, ober­fläch­li­che Ge­füh­le. Das war es, was ihm oft Un­heil brach­te, dass er es mit je­der Lei­den­schaft zu ernst nahm. Er war zu tief an­ge­legt, zu treu; er dach­te zu gut von den Men­schen. All die­ses trug er mit ru­hi­ger Stim­me vor, wieg­te sich von ei­nem Bein auf das an­de­re, blick­te über das Mäd­chen hin­weg die al­ten Klei­der an und ver­zog ein we­nig das Ge­sicht, weil die Son­ne ihm in die Au­gen schi­en.

Rosa, sich fest an die Wand des Hau­ses leh­nend, lausch­te an­däch­tig den klin­gen­den, ab­ge­grif­fe­nen Lie­bes­phra­sen. Der wei­che, ge­dämpf­te Stim­men­ton des jun­gen Man­nes wieg­te sie in eine an­ge­neh­me Schlaff­heit. Sie ach­te­te kaum mehr auf den Sinn der Wor­te, der Klang al­lein schi­en ihr schon et­was Schwü­les, Be­stri­cken­des an sich zu ha­ben, et­was, das zu Kopf steigt und die Ge­dan­ken ein­schlä­fert.

Die Stra­ße vor ih­nen war leer, in den hell­be­schie­ne­nen Häu­sern wa­ren die Vor­hän­ge her­ab­ge­las­sen, auf dem son­ni­gen Markt­plat­ze trie­ben sich nur die Spat­zen um, sanf­te, ab­ge­ris­se­ne Vo­gel­lau­te ein­an­der zu­wer­fend, und schau­te man in die Fer­ne, dann glaub­te man ein flim­mern­des Zit­tern der Luft wahr­zu­neh­men.

Am­bro­si­us war jetzt bei der Schil­de­rung sei­nes wun­der­bar wech­sel­vol­len Her­zens an­ge­langt, wech­sel­voll in tol­ler Lust und rät­sel­haf­ter Me­lan­cho­lie; aber im­mer be­stän­dig in – hm, der Nei­gung zur Ge­lieb­ten. Von je­her war es sein Wunsch ge­we­sen, mit ei­nem Weib, das mit ihm sym­pa­thi­sier­te, nach ei­ner un­be­wohn­ten In­sel zu ent­flie­hen, um nur der Lie­be zu le­ben, und Rosa war die­ses Weib.

Die Ge­schich­te mit der un­be­wohn­ten In­sel er­griff und be­geis­ter­te Rosa. Groß und zärt­lich rich­te­te sie ihre Au­gen auf Am­bro­si­us, als er aber lei­den­schaft­lich aus­rief: »Du bist die­ses Weib, das ich su­che!« da lach­te Rosa. Nie­mand hat­te sie bis jetzt noch »Weib« ge­nannt, das war ihr zu neu. Sie fühl­te es wohl, wie un­pas­send es war, zu la­chen, wie sehr Am­bro­si­us das übel­neh­men muss­te, und den­noch tat sie es – noch dazu das tö­rich­te, her­aus­plat­zen­de La­chen der Schank­schen Schü­le­rin­nen. Ida, an die nie­mand ge­dacht hat­te, stimm­te laut und rau in die­ses La­chen ein. Am­bro­si­us ward dun­kel­rot, die Ader auf sei­ner Stirn schwoll an, und in maß­lo­ser Wut fuhr er auf das Ju­den­mäd­chen los, stieß es mit dem Fuß. »Was? Du bist noch hier? Ich will dich leh­ren, hier hor­chen.« Ida er­hob sich und schlich lang­sam und krumm fort, mit ih­ren blan­ken Au­gen schie­fe, gif­ti­ge Bli­cke auf Am­bro­si­us wer­fend. »Ka­nail­le!« rief die­ser ihr nach.

»Oh, las­sen Sie sie!« fleh­te Rosa. »Sie er­zählt sonst al­les wei­ter.«

»Sie möge!« rief Am­bro­si­us hef­tig. »Ich ma­che mir nichts dar­aus. Ich fürch­te mich vor nie­man­dem. Mir ist al­les gleich, und dir – dir ist auch al­les gleich. Al­les – al­les.«

Er er­griff Ro­sas Hand und hielt sein zor­ni­ges, er­hitz­tes Ge­sicht nahe an das Ge­sicht des Mäd­chens. »Ist dir nicht al­les gleich – sage –!« Rosa schwieg – sie fürch­te­te sich, er aber fass­te sie an die Schul­tern und küss­te sie fest auf die Lip­pen, als woll­te er ihr weh­tun; dann seufz­te er, fuhr sich mit der Hand über die Stirn und ver­setz­te düs­ter: »Wenn ich einen Herz­krampf be­kom­me, so ist es dei­ne Schuld. Ja, in mei­ner Ju­gend habe ich eine Herz­beu­tel­ent­zün­dung ge­habt. Nun – auch das ist gleich!« füg­te er hin­zu – und schritt lang­sam über die Stra­ße, die Arme über der Brust ge­kreuzt, den Kopf sin­nend nie­der­ge­beugt. Von der Lan­in­schen Trep­pe aus warf er noch einen trau­ri­gen Blick zu­rück und trat dann stolz und hoch­auf­ge­rich­tet in den La­den.

Er­schro­cken und be­trübt blieb Rosa auf ih­rem Platz ste­hen. Sie hat­te ihn be­lei­digt! Zor­nig hat­te er sie ver­las­sen, um – dort drin­nen – viel­leicht einen Herz­krampf zu be­kom­men. Sie emp­fand tie­fes Mit­leid. Oh, wenn er jetzt wie­der­käme – al­les woll­te sie für ihn tun; al­les könn­te er sa­gen, und sie wür­de ge­wiss nicht mehr so kin­disch und klein­städ­tisch la­chen. Sie woll­te gleich mit ihm auf sei­ne ein­sa­me In­sel flie­hen – woll­te ihn ver­ste­hen und be­wun­dern. Wie schön hat­te er aus­ge­se­hen, als er sie so grim­mig küss­te!

An die schmut­zi­ge Tröd­ler­bu­de ge­lehnt, stand das arme Mäd­chen – bleich vor Auf­re­gung – die Au­gen vol­ler Trä­nen auf den gars­ti­gen Moh­ren des Lan­in­schen La­dens ge­rich­tet, und sag­te sich, wie sehr es Lan­ins großen, un­glück­li­chen, herz­kran­ken La­den­die­ner lieb­te. –

Die­se Zu­sam­men­künf­te an der Tröd­ler­bu­de wur­den zur täg­li­chen Ge­wohn­heit. Je­der Tag hat­te für Rosa jetzt nur eine gol­de­ne Stun­de, die sie nicht müde ward, mit Herz­klop­fen her­bei­zu­seh­nen, und das nann­te sie »ihre große Lie­be«.

Wenn die Stun­de kam, wenn die Stra­ßen stil­ler und das Heer der Flie­gen und Mücken in der hei­ßen Luft lau­ter wur­de, dann dul­de­te es Rosa nicht län­ger da­heim. Oft – wenn Herr Herz mit dem Auf­he­ben der Ta­fel zö­ger­te, um noch eine Ge­schich­te zu er­zäh­len – ward Rosa von stür­mi­scher Un­ge­duld ge­schüt­telt. Sie zer­knit­ter­te das Tisch­tuch zwi­schen ih­ren Fin­gern, stieß mit dem Ab­satz ge­gen den Stuhl­fuß; sie hat­te nur die Tröd­ler­bu­de im Sinn, das lie­be klei­ne Haus, ganz warm von Son­nen­schein – mit sei­nen al­ten Klei­dern, sei­nem Ge­ruch nach Kräu­ter­sei­fe und Staub. – Ach Gott, wäre sie nur schon dort! Kaum war die Ge­schich­te aus­er­zählt, als Rosa schon von ih­rem Stuhl auf­sprang; pfeil­schnell ging es die Trep­pe hin­ab, und un­ten auf der Stra­ße trank Rosa in ei­nem lan­gen Atem­zug die schwü­le Luft der Mit­tags­stun­de, die Luft ih­rer Lie­bes­ge­schich­te. Wie ver­ach­te­te sie all die Men­schen hin­ter den nie­der­ge­las­se­nen Vor­hän­gen. Dort, in den en­gen Stu­ben wohn­te die fade, ein­tö­ni­ge Phi­lis­ter­welt – die Schanks – die Klappe­kahls – die Ra­sers. – Hier, durch das Ge­f­lim­mer der Mit­tags­stun­de, schwirr­ten wun­der­li­che, ki­chern­de Ge­stal­ten, de­ren jede ein hei­te­res Ge­heim­nis be­wahr­te – hier wohn­ten die Lie­ben­den; hier dräng­te sich Ida in den Häu­ser­ni­schen an ih­ren Schus­ter­bu­ben – hier war Am­bro­si­us zu fin­den. Er er­war­te­te Rosa hin­ter der Türe des Tröd­ler­hau­ses. Am Tage nach dem ers­ten Zu­sam­men­tref­fen war er noch ernst und weich ge­stimmt. Rosa habe, sag­te er, mit ih­rem La­chen sein Herz ge­ra­de in dem Au­gen­blick tief ver­letzt, da er es ihr ganz er­schlie­ßen woll­te: »Es war mir, als hät­te je­mand mir ein Glas Was­ser über den Kopf ge­gos­sen – wür­de ein Dich­ter sa­gen.« Hier­mit war die Ver­söh­nung be­sie­gelt und die Lie­be be­gann, denn es war von ihr nicht mehr so viel die Rede. Lan­ge, trau­li­che Plau­de­rei­en ka­men an die Rei­he. Die Ge­heim­nis­se der Schank­schen Schu­le und des Lan­in­schen Haus­hal­tes wur­den er­ör­tert, und wenn Am­bro­si­us sich ganz nah an Ro­sas Ohr her­an­beug­te, um et­was be­son­ders Wich­ti­ges zu er­zäh­len, dann ki­cher­te Rosa je­nes un­ter­drück­te La­chen, das man von Kin­dern an sol­chen Or­ten hört, wo das La­chen ver­bo­ten ist. Am häu­figs­ten dreh­te sich das Ge­spräch um Fräu­lein Sal­ly, und da­bei konn­ten die Lie­ben­den am herz­lichs­ten la­chen, als wäre Fräu­lein Sal­lys Le­ben das bes­te Lust­spiel. Ein rö­mi­sches Mäd­chen, das in den Ehe­stand trat, weih­te ihr Kin­der­spiel­zeug der Ve­nus; heu­te op­fert ein Mäd­chen der Lie­be ihre Schul­freun­din, das ar­ti­ge Spiel­zeug der Back­fisch­jah­re.

 

Zu­wei­len ward Am­bro­si­us wie­der wei­he­voll und poe­tisch und sprach von sei­nem lei­den­schaft­li­chen Her­zen, von der Herz­beu­tel­ent­zün­dung, von ei­nem dä­mo­ni­schen Wei­be, das er ge­liebt hat­te. Rosa hör­te ihm be­wun­dernd zu, ob­gleich sie der Ge­dan­ke quäl­te: »Welch ein Un­glück, wenn ich jetzt la­chen müss­te.« – So­bald es sich aber tun ließ, lenk­te sie das Ge­spräch auf sei­ne frü­he­re Bahn zu­rück: »Was hat Sal­ly noch ge­sagt? Was tut sie noch? Er­zäh­le!« Und Am­bro­si­us konn­te nur sel­ten den blau­en Au­gen wi­der­ste­hen, die ihn lus­tig er­war­tungs­voll an­schau­ten, und dem spöt­ti­schen Mun­de, der be­reit war, beim ers­ten Wort ei­ner Sal­ly-An­ek­do­te zu la­chen.

Wenn end­lich die Son­nen­strah­len gar zu heiß her­nie­der­brann­ten, wur­den bei­de des Spre­chens müde. Schwei­gend stan­den sie bei­ein­an­der, Schul­ter an Schul­ter, Hand in Hand, und blin­zel­ten sich schläf­rig in die Au­gen. Aus die­ser sü­ßen Er­schlaf­fung er­wach­ten sie dann mit dop­pelt zärt­li­chen Her­zen. Sie dräng­ten sich in der Ecke der Tröd­ler­bu­de an­ein­an­der und schwo­ren sich ihre Lie­be zu: »Rosa – Rosa! Ich lie­be dich. Bei Gott! Du bist mir das Höchs­te.« – »Ja, Amby, ich bin dir sehr gut – sehr!« Und sie um­arm­ten sich vor dem gan­zen Markt­platz und all den dum­men Fens­tern mit den fest zu­ge­zo­ge­nen Vor­hän­gen.