Die Niederlage der politischen Vernunft

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Exkludierter Universalismus –

Lévi-Strauss und die Gleichheit der Kulturen

Die Vereinten Nationen gründen auf einer geschichtsphilosophischen Idee: Es gibt eine einheitliche Menschheit; und diese benötigt einen einheitlichen rechtlichen Rahmen, um in einem gattungsüberspannenden Fortschritt eine immer humanere Welt zu schaffen. Indes, schon beim Verhandeln über die Erklärung der Menschenrechte subvertierte die American Anthropological Association 1947 deren Universalismus mit dem Einspruch:

»Wie kann die vorgeschlagene Erklärung auf alle menschlichen Wesen anwendbar sein und keine Festschreibung von Rechten sein, die nur in Form derjenigen Werte erdacht sind, die in den Ländern Westeuropas und Amerikas vorherrschen? (…) Das Individuum verwirklicht seine Persönlichkeit durch die Kultur: die Achtung der individuellen Unterschiede erfordert demnach die Achtung der kulturellen Unterschiede.«30

Dieser Kulturrelativismus qualifiziert die Menschenrechte als rein westliches Produkt mit zweifelhafter Relevanz für den Rest der Menschheit. Er bekennt sich zur »Ablehnung des Fortschritts- und Perfektibilitätsdenkens der Aufklärung« und pflegt den »Rekurs auf politische Traditionen als Grundlage politischer Ordnungen«, um die politischen Ansprüche des Naturrechts abzuwehren.31 Einer der prominenten Vertreter dieser Sicht war Claude Lévi-Strauss.32 Er lieferte der UNESCO seine »Kleine Geschichtsphilosophie zum Gebrauch für internationale Funktionäre«, wie er später sein Werk »Rasse und Geschichte« etikettierte.

Was nützt es, so lautet dessen Ausgangsfrage, den Rassismus auf der Ebene der Biologie zu eliminieren, wenn er auf der kulturellen zurückkehrt? Also setzte Lévi-Strauss als nicht mehr hintergehbares Axiom die Gleichheit aller Kulturen. Solche Gleichheit anzuerkennen, sollte die Gleichheit der Menschen garantieren. Daß beides sich unauflöslich widersprechen könnte, daran schien niemand gedacht zu haben.33 Einzelne Hochkulturen – so die chinesische und die griechisch-römische – entfalteten technische und zivilisatorische Fertigkeiten, die denjenigen ihrer Nachbarn unverhältnismäßig überlegen waren. Will man diese Tatsache erklären, hat man die Wahl: Entweder sind die betreffenden Menschen als solche von Natur aus ungleich, oder ihre Kulturen sind radikal different im Hinblick auf ihre zivilisatorische Leistungskraft. Zwar überragen die technischen, politischen, zivilisatorischen und wissenschaftlichen Fortschritte der westlichen Kultur augenfällig die Errungenschaften aller anderen Hochkulturen; die Existenz dieser Kultur scheint somit ein heimtückisches Attentat auf das Axiom von der Gleichheit der Kulturen zu sein. Doch das täuscht. Der Abstand der westlichen Hochkultur zu den anderen ist kultursoziologisch geringer als jener zwischen den staatlich organisierten Hochkulturen überhaupt und den vorstaatlichen Gesellschaften. Der Zweifel am Axiom der Gleichheit aller Kulturen wird also nicht vom Gewicht der westlichen Kultur geschürt; vielmehr war die Annahme der Ungleichheit überall verbreitet und selbstverständlich. Erst Adam Ferguson (1767) und dann besonders systematisch und wirkungsvoll Johann Gottfried Herder (1774) konzipierten die Rolle der unterschiedlichen Kulturen auf neue Weise, indem sie ihnen eine Berechtigung an sich zusprachen. Damit war die Frage nach der ›Gleichberechtigung‹ gestellt.

Der Kulturrelativismus hat größte Schwierigkeiten beim interkulturellen Vergleich. Herder hat in seiner Schrift »Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit« das methodische Problem erkannt: Wer über die unterschiedlichen Kulturen nachdenkt, gerät in Versuchung, sie zu bewerten. Diesem Bewerten entkommt man nur, wenn man sich weigert, sie zu vergleichen – »im Grunde also wird alle Vergleichung mißlich«; frühere Stadien der Menschheit dürfe man nicht mit dem »Maasstabe einer andern Zeit« messen. Und eben das wirft er der aufklärerischen Philosophie französischer Prägung vor: »Nur entwickelte sich dagegen auch etwas ganz Anderes, (was ich zwar keineswegs mit jenem zu vergleichen willens bin: denn ich mag gar nicht vergleichen!).«34

Diese Abneigung gegen das Vergleichen als Prinzip des Forschens begründet Hans-Georg Gadamer radikal kulturrelativistisch: »Das Wesen des Vergleichens setzt die Ungebundenheit der erkennenden Subjektivität, die über das eine wie das andere verfügt, bereits voraus. Es macht auf eine erklärte Weise gleichzeitig. Man muß deshalb bezweifeln, ob die Methode des Vergleichens der Idee der historischen Erkenntnis wirklich genügt.«35

Ob der Abstand ein zeitlicher zwischen den Epochen ist oder ein historischer zwischen Kulturräumen, ist nicht wichtig. Wenn jeder analysierende Beobachter in den Wertmaßstäben seiner eigenen Kultur – oder Epoche – dermaßen befangen bleibt, daß er nicht imstande ist, Kulturen ›von außen‹ zu betrachten, dann ist das Vergleichen immer schon beschränkt. Gadamer entwertet mit einem Federstrich die gesamte Soziologie Émile Durkheims und Max Webers, welche das Vergleichen zur methodischen Operation erhoben hat.

Behält man diesen Kontext im Auge, dann wird verständlich, wieso Lévi-Strauss einen Gewaltstreich wagt: Er negiert die Vorstellung eines unilinearen Fortschritts in der Geschichte. Zum ersten definiert er jeglichen Fortschritt als ein Fortschreiten in eine Richtung, die aus den Vorlieben einer jeden Kultur resultiert. Keine Kultur sei stationär; denn der Eindruck, sie bewege sich kaum, sei eine perspektivische Täuschung, der ein außenstehender Beobachter notwendigerweise erliegen müsse. Zweitens strebe jede Kultur innerhalb ihrer eigenen Zielvorstellung nach besonderer Perfektion und erreiche sie auch oft. Gleiten die unterschiedlichen Kulturen auf divergierenden Bahnen, dann macht die Divergenz die jeweiligen Fortschritte untereinander inkommensurabel. Solche Inkommensurabilität scheint Gleichheit zu garantieren. In der Tat entsteht Ungleichheit dann, wenn Verschiedenes an einem gemeinsamen Maß gemessen wird. Auf Inkommensurabilität pochend, bewahrt der große Anthropologe die differenten Kulturen davor, daß sich zwischen ihnen Ungleichheiten ergeben. Doch die methodische Herstellung von Unvergleichbarkeit bleibt stets ein intellektuell fragwürdiges Unterfangen. Es genügen einige wenige kritische Überlegungen, und jedwede Unvergleichbarkeit zerbröselt. Es ist ein Trugschluß, aus der Unvergleichbarkeit auf Gleichheit zu schließen. Zwar läßt sich behaupten, das Unvergleichbare sei ein ›gleicherweise Berechtigtes‹. Wer jedoch daraus folgert, daß aus solcher ›Geichberechtigung‹ sich ›Gleichheit‹ ergebe, bewegt sich in schwächelnder Logik. Zudem geht die Rechnung empirisch nicht auf: Lévi-Strauss vermutet insgesamt mehrere tausend Kulturen, doch er nennt in »Rasse und Geschichte« nur wenige mögliche evolutionäre Richtungen, nämlich neun. Selbst wenn es ein paar mehr wären: Auf jeder evolutionären Straße rempeln sich die Haufen vorwärtsdrängender Kulturen. Alle Kulturen auf demselben Evolutionsast sind mithin Konkurrenten; zweifelsohne sind ihre Fortschritte untereinander vergleichbar. Miteinander konkurrierend erweisen sie sich mitnichten als ›gleich‹; denn auf ihrer Suche nach Perfektion sind jene schneller als diese und die einen gründlicher oder erfolgreicher als die anderen. Selbstverständlich muß es dabei Gewinner und Verlierer geben. Das Konzept der Gleichheit der Kulturen ist somit in sich logisch unstimmig und empirisch falsch.

Zwanzig Jahre später benannte Lévi-Strauss offenherzig diese Widersprüche. 1971 war er eingeladen, mit einem Vortrag zum Thema Rassismus eine UNESCO-Tagung zu eröffnen. Der Vortrag – »Race et culture« – wurde zum »assez joli scandale«.36 Lévi-Strauss schmiedete das Problem um: Der szientistische Rassismus ist widerlegt und erledigt, somit von randseitigem Belang. Die ernstzunehmenden Phänomene sind Xenophobie und Ethnozentrismus; ihnen entquillt eine alltägliche Abwertung des Menschen durch den Menschen, welche sich bedauerlicherweise überall findet. Jede Kultur enthält Lévi-Strauss zufolge in sich eine Eigenlogik und damit eine Selbstbewertung, die soweit gehen kann, daß man die ›Werte‹ der anderen Kultur nicht einmal zu bemerken imstande ist. Nähe bedroht die kulturelle Eigenart. Um diese zu bewahren, sind die anderen − im Zweifelsfalle − als selbständige Kulturen zu verleugnen. Viele ›primitive‹ Ethnien nennen sich selber »die Menschen« und geben »den anderen« Namen, die das Menschsein negieren; sie sprechen diesen das Menschsein ab. Nicht die menschliche Natur treibt zur Abstoßung anderer. Selbst wenn die Menschen von Natur aus ›gut‹ wären, kämen sie nicht umhin, die ›anderen‹ abzuwerten; denn sie sind notwendigerweise Kulturwesen, und ihre eigene Kultur ist ihnen zur zweiten Natur geworden. Gerade wegen der hohen Loyalität zur eigenen Kultur begegnen die Menschen anderen Kulturen mißtrauisch oder feindlich. Die »Abwertung des anderen« entstammt nicht irgendeinem ›Rassismus‹. Den »anderen« abzustoßen, ist eine Funktion jedweder Kultur, also der Kultur überhaupt, solange sie eine partikulare bleibt, die sich von anderen partikularen Kulturen unterscheidet.

Bald erhob sich der Vorwurf, Lévi-Strauss vertrete einen holistischen Kulturbegriff, und aus diesem ergebe sich eine solche Abstoßung; doch in der historischen Wirklichkeit bestünden alle Kulturen aus Mischungen und Synkretismen. Dieser Einwand ist kurzsichtig. Denn nur für die Außenstehenden – und Kulturwissenschaftler sind solche –, sind alle Kulturen ebenso wie alle Religionen ›an sich‹ hybride Formationen. Soziologisch ist dieser objektive Tatbestand nicht relevant, weil die innerhalb der betreffenden Kultur lebenden Menschen ihre eigene Kultur niemals als ein ›Hybrid‹ ansehen, sondern als ein einheitliches Sinnsystem. Denn nur zureichend kohärente Sinnsysteme können orientieren. Die Akteure selber sind notwendigerweise Essentialisten und ›Holisten‹. Dem trägt Lévi-Strauss Rechnung. Die politischen Konsequenzen liegen auf der Hand: Weder der europäischen Hegemonie noch dem sogenannten Kolonialismus läßt sich die Abwertung des anderen anlasten. Überall in der Dritten Welt, welche brüderlich vereint stehen sollte, sind demnach Formen des rassischen Hasses endemisch. Damit sprach Lévi-Strauss eine historische Wahrheit aus; aber sie auszusprechen hieß, den Sündenbock für alle Übel − die damalige westliche Suprematie − aus dem Spiel zu nehmen.

 

So enthält »Race et culture« eine düstere Vorhersage: Wenn es erstens unmöglich ist, sich mit den »anderen« zu vermengen und gleichzeitig mit sich identisch zu bleiben, und wenn zweitens der Mechanismus gegenseitiger Abstoßung gar nicht außer Kraft zu setzen ist,37 und wenn drittens die demographische Explosion zu Agglomerationen ungekannter Größen führt sowie zu kulturellen Vermengungen bisher unvorstellbaren Ausmaßes − dann müssen interkulturelle Feindschaften entstehen, wie es bislang noch keine gegeben hat. Es wird, so prophezeit Lévi-Strauss, ein »régime d’intolérances exacerbées« aufsteigen, das alle bisherigen »haines raciales« zu schwachen Abbildern macht. Lange vor Samuel Huntington hat Lévi-Strauss künftige »clashes of civilizations« angekündigt.

Kommt der Vielfalt der Kulturen ein Eigenwert zu, und ist es geboten, jedwede Besonderheit zu bewahren, dann ist das Vorurteil eben nicht mehr zu bekämpfen, sondern man hat es aufzuwerten. Der Kampf gegen die Diskriminierung des ›anderen‹ wird illegitim. Gewiß, dann ist das Bemühen der UNESCO, überall auf ›gegenseitige Verständigung‹ hinzuwirken, widersinnig: Jede Kultur hat ihren Eigenwert, und die dümmsten Mythen dürfen Achtung beanspruchen, weil sie zum geistigen Repertoire irgendeines Teils der Menschheit gehören.

Alle politischen Massenmörder berufen sich auf die Besonderheit ihrer Kultur. Unter dem Schutzschild der gegenseitigen Achtung ist jede Kultur befugt, in ihrem Inneren die Menschenrechte in einem Ausmaß zu mißachten, wie sie allein es für richtig befindet. Eine Einmischung von außen hieße ja, die Achtung zwischen gleichwertigen Kulturen zu verletzen. Die »Eigenart«, welche faktisch immer eine Resultante semantischer Kämpfe ist, homogenisiert sich unter politischem Hochdruck und verwandelt sich in ein stählernes Gehäuse. Sie macht ihre Menschen zu Insassen im unentrinnbaren Käfig ›ihrer‹ Kultur. Alain Finkielkraut hat dies in »Die Niederlage des Denkens« ausgedrückt: Die UNESCO verfällt jener Idee eines »Volksgeistes« Herderscher Prägung, welche das reaktionäre Denken gegen den Universalismus der Aufklärung in Stellung brachte. Der Ethnopluralismus unterwirft den einzelnen Menschen den Launen seiner Kultur ebenso sehr, wie die Rassenlehre es einst tat.

Schlimmer noch: Wenn alle Kulturen in sich selber die höchste Wertigkeit finden und es kein ›Gesetz‹ über ihnen gibt, dann hat die exterminatorischste Kultur dieselbe Daseinsberechtigung wie alle anderen, glaubt sie doch ernsthaft, andere Kulturen und Völker ausrotten zu müssen, um selber leben zu können. Sogar in diesem Glauben folgt sie noch ihren eigenen Werten. Auf den kulturalistischen Hasen wartet längst ein wohlbekannter Igel: Mit welchem Recht könnte man den Nationalsozialismus verurteilen? Die Versklavung der Osteuropäer und die Vernichtung der Juden gehörte zur essentiellen Besonderheit − zur ›Differenz‹ − der emergierenden NS-Kultur. Diese liefert das konsequenteste Exemplum dafür, wohin die Selbstermächtigung treibt, die jeweilige kulturelle ›Eigenart‹ zu verteidigen – und zwar mit denjenigen Mitteln, die man selber für geboten hält. In demselben Maße wie die Geltung universaler Werte entweicht, hört Auschwitz auf, ein Verbrechen zu sein.

Lévi-Strauss hat das fundamentale Dilemma aufgezeigt, über das man bei der UNESCO immer den Deckel hielt. Es hätte andernfalls eine klare Entscheidung verlangt: Universalismus oder Ethnopluralismus/Multikulturalismus? Denn eine Kultur als ›gleich‹ anzuerkennen, deren moralische, religiöse oder politische Erfordernisse vorsehen, gewissen menschlichen Gruppen das volle Menschsein abzusprechen, andere teilweise zu entrechten, ist widersinnig. Den Grund dieses Widersinns kann jeder gebildete Europäer leicht einsehen, der sich auf die griechischen Grundlagen unserer Kultur besinnt: Der Begriff der Gleichheit ist ein wesentlich politischer und setzt voraus, daß die Gleichen sich ein und demselben Gesetz unterstellen und gleichen Ansprüchen gehorchen.

Halten wir fest: Die geschichtsphilosophische Frage nach dem Fortschritt wird aufgefangen in der Antwort, die Kulturen seien gleich. Doch gleich können sie nur sein, wenn sie untereinander kommensurabel werden. Sind sie inkommensurabel, dann zerbricht der Begriff der Einheit des Menschengeschlechts. Lévi-Strauss eliminiert die Denkmöglichkeit einer gemeinsamen Geschichte der Menschheit restlos. Diese Geschichtsphilosophie ohne Geschichte besticht mit ihrer konsequenten Ablehnung der Globalisierung sowie deren politisch-moralischen Implikationen. Indes, sie hat sich als selbstgesponnenes antiuniversalistisches Gewebe um den Anthropologen gelegt und sich zum Käfig verhärtet. Nach dem Sieg des Front National in Dreux gab Lévi-Strauss am 21. Oktober 1983 ein Interview; dabei stellte er die multikulturalistischen Positionen auf dieselbe Stufe wie die rechtsextremen: »Diese Ideen scheinen mir nicht illegitimer oder schuldhafter zu sein als die umgekehrten Ideen, deren Auswirkungen auf die öffentliche Meinung wir verspüren. Die ersteren zum Sündenbock zu stempeln, ohne die Risiken der zweiten einzuschätzen, ist pure Inkonsequenz. Bei diesem Thema existieren zwei entgegengesetzte Verirrungen, die einander wechselseitig erzeugen.«

Der Ethnopluralismus der ›Neuen Rechten‹ ist ebenso legitim wie der Multikulturalismus, denn sie beruhen auf denselben Axiomen. In der Tat, beide sind einander feindliche Zwillingsemanationen desselben Antiuniversalismus. Nicht verwunderlich also, daß Lévi-Strauss sechzehn Jahre vor dem 11. September die ethnologische Pflicht anspricht, ›seine‹ Kultur zu schützen gegen einen erneut erobernden Islam:

»Unsere Kultur ist in der Defensive gegen äußere Bedrohungen, zu denen wahrscheinlich die islamische Explosion zählt. Und augenblicks fühle ich mich unbeirrbar und in ethnologischer Hinsicht als Verteidiger meiner Kultur.«38

Zur Beerdigung des Multikulturalismus läutet Lévi-Strauss die Glocke kultureller Selbstbehauptung. Der große Anthropologe denkt gar nicht daran, in universalen Rechten die Zuflucht zu suchen, um den Frieden der Kulturen zu denken. Statt dessen geht er den Weg des Ethnopluralismus – bis ans bittere Ende.

III. Faschistoider ›Antikolonialismus‹ – Frantz Fanon

Fundierende Leugnungen der ›Neuen Linken‹

Die Linke war traditionell, seit der Französischen Revolution, universalistisch ausgerichtet, auf ›Gerechtigkeit‹ und ›Freiheit‹. Diese Orientierung endete allmählich nach dem Ersten Weltkrieg, endgültig nach dem Zweiten. Es entstand der ›Antikolonialismus‹. Und der ist etwas grundsätzlich anderes als der ›proletarische Internationalismus‹ der klassischen Linken; er besteht aus einer emotionalisierten ›Solidarität‹ mit den sogenannten Unterdrückten, welchen jegliches Recht eingeräumt wird, die ›eigene Kultur‹ zu ›verteidigen‹. Die ›Neue Linke‹ der sechziger Jahre, enttäuscht von der sowjetischen Variante des Sozialismus, erblickte in der ›Dritten Welt‹ das große Residuum der welthistorischen Erlösung.

Selten hatte ein Begriff einen solchen Effekt wie derjenige der »Dritten Welt«, erfunden von dem französischen Demographen Alfred Sauvy in einem Artikel unter dem Titel »Trois mondes, une planète« (14. August 1952). Anstatt des Wortes troisième monde benutzte Sauvy das Adjektiv tiers, anspielend auf die Revolutionsschrift des Abbé Sièyès »Qu’ est-ce que le Tiers Etat?«. So parallelisierte er den ›Dritten Stand‹ von 1789, welcher nichts ist und alles werden will, mit jenen Ländern, Völkern und Kulturen, die weder dem sowjetischen Imperium noch dem westlichen Bündnis angehörten. Dieses genialste politische Etikett des Jahrhunderts klebten sich die politischen Repräsentanten ältester Hochkulturen ebenso an die Brust wie jene der rückständigsten Regionen des Globus. Sie alle anerkannten einander als Mitglieder einer Einheitsfront – die ehemaligen Versklaver und Sklavenhändler neben ihren ehemaligen Opfern, die imperialen Kulturen neben ihren beherrschten Peripherien, die superreichen Ölexporteure neben den von Hunger und Seuchen geschüttelten Ländern. Sie alle verwandelten sich in den Diskursen von progressiven Intellektuellen und Bewegungen zum ideellen Gesamtproletariat, auf dem die Heilserwartungen einer vom Kapitalismus zu erlösenden Welt lasteten, was Hannah Arendt den Kommentar entlockte: »Die dritte Welt ist keine Realität, sondern eine Ideologie.« Sauvy kam später zur Einsicht, bekannte seinen Irrtum und widerrief am 14. Februar 1989 in »Le Monde« sein epochales Unwort. Das hinderte die verknöcherte Linke nicht daran, an einem ›Antiimperialismus‹ festzuhalten, dessen legitimierende Plausibilität sich aus dem ›Kolonialismus‹ speist.

Die unterschiedlichsten emanzipatorischen Diskurse – Antipsychiatrie, sexuelle Befreiung, Feminismus – verschmolzen im antiimperialistischen Befreiungskampf, den die ›Neue Linke‹ in vollherziger Solidarität unterstützte – trotz aller ethnischer und religiöser Säuberungen. Die linken Galionsfiguren wie etwa Immanuel Wallerstein, André Gunter Frank sowie Samir Amin leugneten oder rechtfertigten Genozide und die Auslöschung von Millionen Menschen. Das Bündnis zwischen totalitären und stalino-faschistischen Strömungen einerseits und einer pseudolinken Publizität in den ›Metropolen‹ anderseits schuf Bilder von den ›antiimperialistischen Aufständen‹, die im Nachhinein eine Galerie politischer Grotesken darstellen.

Die sich formierende ›Neue Rechte‹ fand mühelos zu einem parallelen Antiimperialismus. Auch deren Ideengeber, Alain de Benoist, erblickte in der ›Dritten Welt‹ ein Rettungspotential:

»In dieser Hinsicht ist Europa notwendigerweise mit der Dritten Welt solidarisch oder, genauer gesagt, mit all den Drittländern, die eine Ausrichtung auf die Supermächte ablehnen. (…) Ohne zu verkennen, was dieses Konzept an Künstlichem und Pauschalem bergen mag, kann man von der Dritten Welt sagen, daß sie heute den potentiell revolutionärsten Teil unseres Planeten darstellt …«1

Linker und rechter Antikolonialismus sind Hand in Hand gegangen, was historisch und ideengeschichtlich sich leicht erklären läßt und in einem späteren Kapitel noch zu behandeln sein wird. Die diversen ›postmodernen‹ und ›postkolonialen‹ Narrative nähren sich bis heute aus den Mystifikationen des Konzepts ›Kolonialismus‹. Mit diesem Wort trennte man die Beherrschung großer Gebiete des Globus durch einige europäische Mächte prinzipiell ab von sämtlichen Imperialismen der Vergangenheit, wie mörderisch und genozidär einige derselben auch waren. Dieses Wort entsemantisierte radikal die Geschichte all jener anderen Kulturen, die teilweise intensiver und erfolgreicher kolonisierten als die Europäer; es eliminierte diese Geschichte und verwandelte sie in eine abgebrochene Heilsgeschichte: Alles Übel der Welt begann mit der europäischen Expansion. Mit einem einzigen Wort wurde die Weltgeschichte der Neuzeit neu konzipiert. Das gelang freilich nur, weil generationsbedingt zwei historische Leugnungen sich epidemisch ausbreiteten. Die erste betrifft den Rassismus, die zweite die Abolition.

Der antikolonialistischen Politik ist es ein Herzensanliegen, den klassischen Rassismus zum europäischen Produkt zu stempeln. Nun besteht in der Sklavereiforschung kein Zweifel, daß Rassismus im strengen Sinne in der Vorstellung besteht, es bestehe zwischen menschlichen Gruppen eine naturgegebene Ungleichheit, welche die angeblich überlegenen Gruppen dazu befugt, über die unterlegenen zu herrschen. Nicht der Rassismus führte zur Sklaverei, sondern die Sklaverei führte zum Rassismus. In den meisten sklavenhaltenden Gesellschaften gelten die versklavten Menschen als intellektuell und moralisch minderwertig. Claude Meillassoux in seiner Studie »Anthropologie de l’Esclavage« (1986) und Orlando Patterson in seinem Werk »Slavery and Social Death« (1982) dokumentieren, wie in unterschiedlichsten Gesellschaften die Sklaven mit Worten bezeichnet werden, die sie zu einer minderwertigen Rasse degradieren oder ihnen das Menschsein überhaupt absprechen – »lebende Güter« oder »sprechende Herde« –, um sie buchstäblich zu Untermenschen zu stempeln.

 

Rassismus benötigt keine Hautfarbe. Erst in der arabischen Kultur fand das Konzept des Untermenschen zur Hautfarbe, und zwar schon in der vorislamischen Ära. Bernard Lewis und David Goldenberg haben diesen Ursprung dokumentiert.2 Die arabischen Geographen erblickten im heißen und im kalten Klima die Ursache, warum nur die ›Braunen‹ vollwertige Menschen würden, wohingegen die Weißen im Norden und die Schwarzen im Süden zu Untermenschen gerieten. Es ist also kein dichotomischer Rassismus, sondern ein trichotomischer. Demgemäß gelten auch Türken, Slawen und Chinesen als ›weiße‹, daher minderwertige Rassen. Ein irakischer Geograph schreibt um 902 über den Süden: »so daß das Kind zwischen schwarz und dunkel gerät, zwischen übelriechend und stinkend, kraushaarig, mit unebenmäßigen Gliedern, mangelhaftem Verstand und verkommenen Leidenschaften, wie etwa die Zanj, die Äthiopier und andere Schwarze, die ihnen ähneln.« Eine persische geographische Abhandlung (982 n. Chr.) behauptet: »Was die Länder des Südens angeht, so sind alle ihre Einwohner schwarz (…) Es sind Leute, die dem Maßstab des Menschseins nicht genügen«.

Die arabische Philosophie übernahm diesen hautfarblichen Rassismus. Der große Avicenna (Ibn Sina, gest. 1037) behauptet umstandslos, extremes Klima produziere »Sklaven von Natur«, »denn es muß Herren und Sklaven geben« (Liber Canonis, fen. 2, doctr. 2, summa 1, cap. 11). »Türken und Schwarze« sind »Sklaven von Natur« (Heilungen, X, 5). Desgleichen lesen wir beim Gelehrten Ibn Khaldun (1332–1406): »Daher sind in der Regel die schwarzen Völker der Sklaverei unterwürfig, denn [sie] haben wenig Menschliches und haben Eigenschaften, die ganz ähnlich denen von stummen Tieren sind, wie wir festgestellt haben.«

Erst fünf Jahrhunderte später gelangte dieser Rassismus zu den Europäern, was auf die weite Verbreitung von Avicennas medizinischen Schriften zurückzuführen ist. Ein hautfarblicher Rassismus entstand in Europa erst, als im Laufe des 17. Jahrhunderts die von Westeuropäern betriebene Sklaverei fast gänzlich schwarz wurde. Desgleichen hatte in Europa die biblische Verfluchung Hams nichts zu tun mit den Schwarzen. Erstmals begegnet uns die ›schwarze Version‹ des Fluches in der »Crónica da Guiné« des Portugiesen Gomes de Zurara 1444: Er berichtet, daß die moslemischen Sklavenjäger in Senegambien ihr Tun damit rechtfertigten, daß Noahs Fluch die Schwarzen betreffe. Noahs Fluch spielte in den katholischen Debatten über die Legitimität des Versklavens keine Rolle; kein kirchliches Dekret hat ihn je verwendet. Erst die protestantischen Apologeten der Sklaverei aktivierten dieses aus der islamischen Welt importierte Argument. Die Welt verdankt der arabischen Kultur mithin eine folgenreiche Errungenschaft, die zu Unrecht unterschlagen wurde. Zu diesem Vergessen hat der Antikolonialismus seinen Beitrag geleistet.

Die zweite Leugnung betrifft die Abschaffung der Sklaverei. Wie Orlando Patterson nachgewiesen hat, waren alle Hochkulturen sklavistisch – und sogar eine stattliche Anzahl von vorstaatlichen Gesellschaften. Daß wir in einer sklavenfreien Gesellschaft leben, ist mitnichten selbstverständlich. Dieses Privileg verdanken wir der politischen Zerschlagung der sklavistischen Systeme im 19. Jahrhundert. Doch wem verdanken wir diese Zerschlagung? Und wie stehen wir zu ihren Kosten?

Von allen Kulturen der Weltgeschichte hat lediglich die westeuropäische einen Diskurs hervorgebracht, der die Sklaverei grundsätzlich entlegitimiert; und nur in ihrem Einzugsbereich kam es zu einem stetigen Kampf für die Abschaffung des Sklavenhandels und der Sklaverei. Diese Diskussionen mit ihren ergreifenden Texten gehören zu den maßgeblichen Quellen für die Entstehung der Menschenrechte. Als 1807 der Sklavenhandel im Britischen Empire verboten wurde, begann erstmals ein von staatlicher Macht getragener Kampf zur weltweiten Abschaffung der Sklaverei. Ab 1849/50 setzte die britische Marine – oft unter Verletzung des Völkerrechtes – eine weitgehende Blockade der westafrikanischen Küste durch und erdrosselte den dortigen atlantischen Sklavenhandel. Von 1807 bis 1867 fing man insgesamt 1 287 Sklavenschiffe ab. Diese Politik war teuer. 90 Prozent der gesamten Last trugen die Briten, deren Marine zu diesem Zweck 15 Prozent ihrer Schiffe verwandte. Das belief sich ein halbes Jahrhundert lang auf etwa zwei bis sechs Prozent des gesamten Marinebudgets. Von 1816 bis 1862 kostete die Unterdrückung des Sklavenhandels ebensoviel, wie die britischen Händler von 1760 bis 1807 am Verkauf von Sklaven verdient hatten.3

Doch gegen alle Erwartungen brachen die sklavistischen Systeme nicht zusammen, weder in den USA noch in Brasilien, Kuba oder in der islamischen Welt. Der Amerikanische Bürgerkrieg, ein enormer Clash zwischen zwei unvereinbaren Kulturen, resultierte zwar in der totalen Niederlage des mächtigsten sklavistischen Staates der Erde und brachte die Kräfteverhältnisse auf dem gesamten Globus zum Kippen. Dennoch liefen in Afrika die Versklavungskriege weiterhin auf Hochtouren. Um das zu unterbinden, mußte man auf dem Kontinent selber intervenieren. Zuvorderst die Abolitionisten drängten auf direkte Interventionen, während konservative Politiker den Hals Großbritanniens – wie Benjamin Disraeli sich ausdrückte – nicht mit weiteren kolonialen Mühlsteinen behängen wollten.

In Afrika mußte die Abolition den Eliten politisch und militärisch aufgezwungen werden. Der afrikanische ›Antikolonialismus‹ wurde geboren als Kampf zur Verteidigung der Sklaverei. Die britischen und französischen Interventionen öffneten Afrika nach einer 1 000-jährigen Geschichte von blutigster Gewalt und Völkermorden neue Wege – freilich unter kolonialer Aufsicht. Daß diese nötig war, haben Antikolonialisten bestritten, welche darin eine Form von ›Ausbeutung‹ sahen. Doch die Investitionen und der Aufwand waren höher als die Gewinne, die man, wenn man von Portugal und Belgien absieht, aus den Kolonien zog. Der amerikanische Historiker Seymour Drescher nannte die Abschaffung der Sklaverei einen »Econocide«, die Vernichtung eines hochprofitablen ökonomischen Systems aus politischen Gründen. Diese weltweite Abschaffung der Sklaverei vollzog sich just unter der hegemonialen Dominanz der europäischen Kultur, welche, wie Jürgen Osterhammel betonte, eine Angleichung der rechtlichen Rahmen einleitete. Der Kampf für die Abolition der Sklaverei ist ein einzigartiges welthistorisches Phänomen. Er entstammt der westlichen Kultur. In sämtlichen anderen Hochkulturen der Welt fehlt jegliche Spur einer solchen Diskussion. In der islamischen Welt existiert bis heute keine maßgebliche Fatwa, die grundsätzlich die Sklaverei untersagt, statt dessen gilt Sklaverei als vorläufig nicht praktizierbar.

Die ›Neue Linke‹ hat diese beiden historischen Tatsachen geleugnet. Zwei Leugnungen gestatten eine geschichtsphilosophische Perspektive, in der für eine kantische Weltrepublik kein Platz mehr ist. Mit diesen Leugnungen kostet es wenig Mühe, die Aufklärung zu demontieren.

Antirassistischer Rassismus –

und die Rechte von Frauen

Wie konnte die Linke sich verbünden mit Massenmördern und Versklavern, die sich ›Befreiungsorganisationen‹ nannten? Beide haben einen gemeinsamen Feind, zu dessen Schaden alles erlaubt ist, nämlich den politischen Universalismus der westlichen Kultur.

Im Werk von Frantz Fanon wurde das Selbstverständnis antikolonialistischer Bewegungen begrifflich umgeschmolzen. Sein Frühwerk »Schwarze Haut, weiße Masken« (1952) dokumentiert das Bestreben, zu einem universalistischen Humanismus sartrescher Prägung zu finden: »Den Neger gibt es nicht. Genausowenig wie den Weißen.« Entlang der Annahme Sartres, die eigene Subjektivität konstituiere sich vermittels des Blickes des anderen, diagnostiziert Fanon, sowohl Schwarze als auch Weiße blieben befangen »im narzisstischen Drama, jeder in seine Besonderheit eingeschlossen«. Diese Befangenschaft müsse durchbrochen werden; es sei »durch die menschliche Besonderheit hindurch das Allgemeine anzustreben«, nämlich eine menschliche Subjektivität von universeller Qualität. Indes, wenige Atemzüge später bezieht sich Fanon auf den Aufsatz »Orphée noir«, mit welchem Sartre eine poetische Anthologie (1948) von Léopold Senghor einleitete, dessen Doktrin der négritude der schwarzen ›Rasse‹ besondere kulturelle, psychische und physische Qualitäten attribuierte, jedoch weder die anderen ›Rassen‹ abwertete noch deren kulturelle Errungenschaften verdammte. Fanon hingegen folgt seinem politischen Mentor Aimé Césaire, welcher eine grundsätzlich andere Variante der négritude verfocht: Für ihn waren alle anderen ›Rassen‹ gleichwertig, die weiße ›Rasse‹ hingegen das inkarnierte Böse; bei ihm bestürzt die Übernahme ehemals antisemitischer Klischees und ihre umstandslose Anwendung auf ›den Weißen‹ überhaupt. Sartres Aufsatz legitimierte diesen Rassenhaß: Ein »antirassistischer Rassismus« sei nötig, um innerhalb eines »dialektischen Fortschritts« die »Verwirklichung des Menschlichen in einer rassenlosen Gesellschaft« vorzubereiten. Mit diesem legitimen Rassismus stellte Sartre jenen schwarzen Autoren einen Freibrief aus, die offenen Rassenhaß predigten, und vereinnahmte ihre menschenrechtsfeindlichen Positionen geschichtsphilosophisch als notwendige Momente auf dem Weg zur befreiten Menschheit.

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