Lehrwerksintegrierte Lernvideos als innovatives Unterrichtsmedium im fremdsprachlichen Anfangsunterricht (Französisch/Spanisch)

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3.3 Lernpsychologische Überlegungen

Von all unseren Sinnesorganen stellen die Augen die vermutlich bedeutendste Verbindung zum menschlichen Gehirn dar. Verglichen mit dem Tast- (8 %) und Hörsinn (3 %) nimmt die visuelle Wahrnehmung mit über zwei Millionen Nervensträngen ganze 30 % des Großhirns ein. Es ist daher kaum verwunderlich, dass der Mensch in der Lage ist, ein Farbbild im Bruchteil einer Sekunde zu erschließen. Burmark (2008, 8) zufolge vollzieht sich die visuelle Wahrnehmung sogar 60.000 Mal schneller als etwa die Verarbeitung eines Texts.

Doch trotz dieser enormen Leistung unseres Gehirns erschließen sich visuelle Eindrücke keineswegs immer von selbst. Stattdessen ist eine visuelle Lesefähigkeit (visual literacy) erforderlich, um Bildreize erfolgreich erfassen und interpretieren zu können. Diese im Zuge der visuellen Wende oftmals als „bildungsrelevante […] Kulturtechnik“ bezeichnete Fähigkeit ist bei Jugendlichen trotz ihrem täglichen Umgang mit visuellen Medien meist nur oberflächlich ausgeprägt (Michler 2011, 141). Folglich muss die Kompetenz der Bildentschlüsselung gezielt geschult werden, sodass „ausgehend von den Sehgewohnheiten der Schüler […] ein sachkritischer Blick auf ein Bild eingeübt und eine reflektierte Auseinandersetzung mit Visualisierungen angebahnt werden“ kann (ibid. 142). Dies erfordert allerdings, wie alle anderen Fertigkeitsbereiche, ein gezieltes Training mittels einer entsprechenden Didaktisierung, denn „systematisches Bildverstehen […] verlangt nicht weniger Wissen und mentalen Aufwand als [beispielsweise] systematisches Lesen“ (Weidenmann 1988, 177). Zur Heranführung und Optimierung des Hör-Seh-Verstehens bewährt sich daher eine Dreiteilung in Aktivitäten vor, während und nach der audiovisuellen Rezeption. Nur so kann der Lerner aktiv mit dem Medium in Verbindung gebracht und passive Rezeption vermieden werden.

Wie dem Begriff zu entnehmen ist, impliziert Hör-Seh-Verstehen neben Sehverstehen immer auch Hörverstehen. Der Verstehensprozess wird für den Rezipienten dahingehend erleichtert, dass unter Heranziehen der visuellen Dimension das Gehörte direkt auf seine Plausibilität verifiziert werden kann. Anhaltspunkte sind Mimik, Gestik, Verhaltensmuster, Umgebung, aber auch die Gesamtsituation als solche. Allerdings konnte empirisch nachgewiesen werden, dass eine Verbesserung der Hörverstehensleistung erst dann gegeben ist, wenn der visuelle Input „den auditiven Input in sinnvoller Weise ergänzt“ (Porsch/Grotjahn/Tesch 2010, 181).

So zeigt der Vergleich zwischen kontext- und inhaltsbezogenen Visualisierungen, dass insbesondere letztere einen positiven Effekt auf das Verständnis haben. Im Gegensatz zu inhaltsbezogenen Visualisierungen (e.g. Verbildlichung einer vorgetragenen Geschichte), die in direktem Zusammenhang zu dem Inhalt des Gesagten stehen, können kontextbezogene Visualisierungen (e.g. Visualisierung eines Sprecherwechsels) unter Umständen sogar negative Auswirkungen auf den Verstehensprozess des Rezipienten haben (cf. Ginther 2002, 134, 163).

Folglich sind Lernvideos, deren Bildmaterialien nicht in direktem Zusammenhang mit der Tonspur stehen, eher ungeeignet, um das fremdsprachliche Hörverstehen zu unterstützen. Das hier angeführte Beispiel (cf. Abb. 10) hat laut Titel und Inhalt die Karwoche in Spanien la semana santa zum Gegenstand, zu deren Anlass landestypische kirchliche Prozessionen stattfinden, die von der Bevölkerung begleitet werden. Wie anhand der Abbildung deutlich wird, gibt die Bildspur des Lernvideos jedoch lediglich Auskunft über den Sprecher, der im Großformat den Zuschauern zugewandt seinen Sprechertext vorträgt. Auch die im Hintergrund zu erkennenden Bilder stehen in keinerlei Zusammenhang mit dem Thema des Lernvideos. Dementsprechend stellt sich unweigerlich die Frage nach dessen Mehrwert gegenüber einem reinen Hördokument.


Abb. 10: Beispiel eines ungünstigen Lernvideos (Klink/Willenbrinck 2012) © Unión Europea, 1995–2016

Gerade die Simultanität visueller und akustischer Zeichen stellt in der Regel eine Unterstützung für Lernende dar, obgleich in Einzelfällen die Gefahr einer Überlastung nicht ausgeschlossen ist (cf. Hu/Leupold 2008, 58). Aufgrund der Tatsache, dass die im Lernvideo dargestellten Informationen tendenziell leicht nachvollziehbar sind, können eventuelle Verständnisschwierigkeiten durch nonverbale Komponenten ausgeglichen werden.

Im Unterschied zur rein auditiven Informationsaufnahme, bei der das Gehörte sprichwörtlich ‚zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinausgeht‘, bietet der zusätzliche Rückgriff auf nonverbale Zeichen die Möglichkeit, hör-sehend wahrgenommene Informationen sowohl sprachlich als auch bildlich zu speichern. Die zweikanalige Speicherung erweist sich aus lernpsychologischer Sicht als besonders einprägsam, zumal die visuellen Impressionen an den Hörtext gekoppelt sind und erheblich zu dessen Verständnis beitragen, indem sie die Kohärenz zwischen Bild und Text stärken. Um die Aufmerksamkeit der Lernenden zu erlangen, sind vor allem solche Bildmaterialien geeignet, die in direktem Bezug zu ihrer Lebenswelt stehen, eine emotionale Betroffenheit auslösen und somit deren Interesse und Neugierde wecken (cf. Gilmozzi 2002, 157). Bei der schulischen Arbeit mit audiovisuellen Materialien haben Bilder folglich „nicht nur eine illustrative, sondern [auch] eine bedeutungstragende Funktion“ (Sass 2007, 7). Dies wirkt sich wiederum positiv auf die Konzentration und Motivation des Lernenden aus und stimuliert grundlegende Sprachlernprozesse.

3.4 Didaktische Konsequenzen für den Fremdsprachenunterricht

Aufgrund der beschriebenen positiven Grundeinstellungen eignet sich die Arbeit mit fremdsprachlichen Lernvideos bereits ab dem ersten Lernjahr, da sie den Lernenden erste ästhetische Erfahrungen mit dem Medium Film ermöglicht und ein positives Erleben der Fremdsprache begünstigt, das im weiteren Laufe des Sprachlernprozesses für eine Vielzahl an Aktivitäten genutzt werden kann.

Generell kann das Lernvideo auf der Basis eines erweiterten Textbegriffs durchaus als Textsorte verstanden werden. Ähnlich der Buchlektüre sind daher auch bei der Arbeit mit audiovisuellen Materialien einige didaktische Leitlinien zu beachten, um eine Aktivierung des Lerners zu gewährleisten. Demzufolge müssen vor dem Videoeinsatz nicht nur entsprechende inhaltliche Schwerpunkte gesetzt, sondern auch mögliche Hemmschwellen entdeckt und abgebaut werden. Ergebnisse aus der Interkomprehensionsforschung zeigen in diesem Zusammenhang, dass „Leser Texte schon dann nicht mehr verstehen, wenn sie 30 % der Elemente nicht identifizieren können“ (Nieweler 2008, 3). Vergleichbares lässt sich auf das Verständnis von Hörtexten übertragen. Aus Lernersicht wird Hörverstehen aufgrund von Sprechtempo, Prosodie, Sprecheranzahl, unbekannter Lexik und Grammatik als besonders anspruchsvoll und schwierig empfunden, zumal die Verarbeitungszeit nicht wie bei Texten individuell bestimmt werden kann. Hinzu kommt, dass der zusätzliche Umgang und das Verständnis visueller Informationen durchaus einen gewissen Reifegrad erfordern (cf. Weidenmann 1988, 175).

Aufgrund der Tatsache, dass „Hör- und Sehdaten […] unterschiedliche Verarbeitungswege in unterschiedlicher Geschwindigkeit [durchlaufen], [tritt] eine Simultanisierung […] erst auf der Ebene der semantischen Verarbeitung ein“ (Meißner 2006, 264) (cf. Kap. 3.2). Umso wichtiger ist es, der fehlenden zeitlichen Koordination entgegenzuwirken und audiovisuelle Materialien didaktisch so aufzubereiten, dass das Hör-Seh-Verstehen bestmöglich unterstützt wird. Wie bereits angesprochen, kann dies u.a. durch die Bewusstmachung von Bildinformationen geschehen. Jeder Film hat eine ästhetische Bildsprache, die es zu entdecken gibt (cf. Müller 1991, 267). Die „Schulung des eigenen Sehens und die Kenntnis davon, wie Wahrnehmung durch Bildgestaltung im Film gesteuert wird“ (Grünewald/Küster 2009, 170), kann die Rezeption grundlegend beeinflussen. Darüber hinaus vermag das Einblenden deutsch- oder fremdsprachiger Untertitel sprachliche Schwierigkeiten zu überwinden und das Verständnis auf diese Weise um bis zu 30 % zu erhöhen (cf. Sass 2007, 7).1

Prinzipiell ist zu beachten, dass die Aufmerksamkeit der Rezipienten bereits nach fünf Minuten deutlich nachlässt. Daher ist es von grundlegender Bedeutung, die Filmrezeption auf wenige Minuten zu beschränken oder aber kurze Pausen einzuplanen, sodass sich die Aufmerksamkeit insbesondere bei längeren Sequenzen wieder erhöht. Aus didaktischer Sicht ist es besonders gewinnbringend, Szenen wiederholt vorzuführen, da bei der ersten Rezeption der Fokus in der Regel zunächst auf der Handlung liegt. Sprachliche Aspekte treten dagegen meist erst nach mehrmaligem Wiederholen in den Vordergrund. Szenen sollten allerdings nicht häufiger als drei Mal gezeigt werden, da ein erweitertes Textverständnis eher unwahrscheinlich ist (cf. Grünewald/ Lusar 2008, 226).

Etwaige Hemmschwellen oder Frustration im Verständnis können durch den Aufbau einer sogenannten Teilverstehenstoleranz vermieden werden. Den Lernenden muss bewusst gemacht werden, dass ein Wort-für-Wort-Verstehen selbst in der Muttersprache aufgrund von Nebengeräuschen oder anderen Störquellen nicht immer möglich ist. Umso wichtiger ist es, beim schulischen Aufbau der Hör-Seh-Verstehenskompetenz von Anfang an die Strategie (global, selektiv, detailliert) zu schulen, die dem zu Grunde liegenden Hör-Seh-Verstehensinteresse entspricht (cf. Nieweler 2008, 4sq.).

Um den didaktischen Forderungen Rechnung zu tragen, gilt es, aus dem derzeitigen Überangebot an audiovisuellen Medien eben jene auszuwählen, die dem Lernenden unter der Beachtung der genannten Variablen einen alters- und lernstandsgerechten Zugang zu dem Medium ermöglichen. Entscheidend ist dabei nicht zuletzt das filmästhetische Zusammenspiel akustischer und visueller Elemente (cf. Leupold 2007a, 225), auf deren Basis der Lerner mithilfe filmbegleitender Aktivitäten schließlich (meta-)kognitive Strategien entwickeln soll. Diese dienen dazu, den erworbenen Intake dahingehend zu fördern, dass durch die aktive Auseinandersetzung und Verarbeitung wiederum ein neuer, eigenständiger Input entsteht (cf. Meißner 2010, 33) (cf. Kap. 3.2).

 

4 Zur curricularen Stellung eines integrierten Hör-Seh-Verstehens als Teilfertigkeit des Sprachlernprozesses

In Anlehnung an den GeR sollen im Zuge des Fremdsprachenunterrichts die sogenannten vier Grundfertigkeiten (Lesen, Sprechen, Schreiben und Hören) systematisch erarbeitet und eingeübt werden. Der GeR unterscheidet prinzipiell zwischen rezeptiven Kompetenzen (Hören, Lesen) und produktiven Kompetenzen (Schreiben, Sprechen). Im Kontext der rezeptiven Sprachfähigkeiten hat sich das Hör-Seh-Verstehen in den letzten Jahren zu einem zentralen Begriff innerhalb der fremdsprachendidaktischen Diskussion entwickelt. Hör-Seh-Verstehen ist im GeR als Unterkategorie des Hörverstehens aufgeführt, wobei Hören als auditive rezeptive Aktivität und Hör-Seh-Verstehen als audiovisuelle Rezeption bezeichnet wird. Obwohl es sich auf den ersten Blick lediglich um eine Teilfertigkeit des Sprachlernprozesses handelt, hat die Kompetenz des Hör-Seh-Verstehens jüngst an enormer Bedeutung gewonnen und sich neben Lesen, Sprechen, Schreiben und Hören als fünfte zu erwerbende Fertigkeit der bildungspolitischen Rahmenrichtlinien etabliert (cf. Gilmozzi 2002, 153).

Dieses Kapitel hat zum Ziel, die bestehenden europäischen und nationalen Rahmenrichtlinien zur Kategorie des Hör-Seh-Verstehens vorzustellen. Unter Bezugnahme auf den GeR, die Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss und die Allgemeine Hochschulreife, die hessischen Kerncurricula sowie die hessischen Lehrpläne soll am Beispiel der Fächer Französisch/Spanisch deutlich werden, welchen Ansprüchen der moderne Fremdsprachenunterricht hinsichtlich des Einsatzes audiovisueller Materialien gerecht werden muss, sodass in einem weiteren Schritt gezeigt werden kann, welche Implikationen die curricularen Forderungen nach einem integrierten Hör-Seh-Verstehen für die Gestaltung aktueller Lehrwerke haben.

4.1 Curriculare Vorgaben zur Schulung des Hör-Seh-Verstehens

Bildungsrichtlinien sind notwendig, um einheitliche Zielsetzungen, Inhalte und Methoden zu schaffen, die allgemeingültigen Standards entsprechen und gleichzeitig der (inter-)nationalen Vergleichbarkeit dienen. Maßgeblich für den Bildungssektor sind dabei insbesondere der GeR, die nationalen Bildungsstandards sowie die kultusministeriellen Beschlüsse. Im Sinne der Qualitätssicherung werden diese einer ständigen Überprüfung und Aktualisierung seitens Experten von Bund und Ländern und im Falle des GeR von ganz Europa unterzogen. Die folgenden Ausführungen haben zum Ziel, unter Berücksichtigung der in Deutschland geltenden curricularen Vorgaben, einen Überblick über die Kompetenzanforderung des Hör-Seh-Verstehens zu geben.

4.1.1 Der Gemeinsame europäische Referenzrahmen für Sprachen

Neue Medien fordern neue Kompetenzen. Angesichts der Tatsache, dass neue technische Entwicklungen zunehmend in den Schulalltag integriert werden, ist es kaum verwunderlich, dass die Fähigkeit des Hör-Seh-Verstehens als fünfte Fertigkeit in den curricularen Vorgaben Berücksichtigung findet. Durch die Aufnahme des Hör-Seh-Verstehens wird diesem nicht nur ein hoher Stellenwert zugeschrieben, sondern ebenso „anerkannt, dass Hörverstehen alleine zur Vorbereitung auf eine face-to-face-Kommunikation [sic] nicht ausreicht“ (ibid. 153). Aufgrund der Tatsache, dass es sich, ähnlich wie bei den anderen Fertigkeiten, beim Sehverstehen um keine angeborene Fähigkeit handelt (cf. Hecke/Surkamp 2010, 14), gilt es, audiovisuelle Materialien so in den Unterricht mit einzubeziehen, dass eine ganzheitliche und systematische Schulung erfolgen kann.

Laut Referenzrahmen steht die rezeptive Kompetenz des Hör-Seh-Verstehens in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Hörverstehen und ist als gleichwertige Teilfertigkeit vermerkt. In diesem Sinne beschreibt der GeR audiovisuelle Rezeption als eine Aktivität, bei der der Sprachlernende „einen auditiven und einen visuellen Input zugleich“ erhält (Europarat/Rat für kulturelle Zusammenarbeit 2001, 77). Als Beispiele werden das Mitlesen eines vorgelesenen Textes, das Sehen einer Fernsehsendung oder einer Videoaufnahme sowie die Verwendung neuer Technologien aufgeführt, wobei lediglich Multimedia und CD-ROM Erwähnung finden.

Entgegen etwaiger Erwartungen erweist sich die Stellung des Hör-Seh-Verstehens gegenüber anderen Teilkompetenzen jedoch keineswegs als gleichwertig, weil rezeptive Aktivitäten zunächst nur als „Hören und Lesen“ zusammengefasst werden. Die Fähigkeit des Sehens findet hingegen keine Berücksichtigung. Die Kritik verschärft sich dahingehend, dass das Sehverstehen gerade bei der audiovisuellen Rezeption eine entscheidende Rolle spielt und eine Erweiterung zum Hörverstehen darstellt.

Zwar ist es Aufgabe des GeR, in der Diskussion um das Hör-Seh-Verstehen einen einheitlichen, europaweit gültigen Leitfaden bereitzustellen, nach dem sich Schüler und Lehrende richten können, wenn es um Kompetenzniveaus und deren Leistungsmessung geht. Im Fall des Hör-Seh-Verstehens beschränkt sich die diesbezügliche Beispielskala der Kompetenzbeschreibungen jedoch ausschließlich auf das Verständnis von Film und Fernsehen. Betrachtet man die unten stehende Abbildung, so wird deutlich, dass die vorgegebenen Deskriptoren eher oberflächlich und spärlich ausfallen. So heißt es, Schüler sollen am Ende des elementaren Spracherwerbs (A1, A2) in der Lage sein, auf der Basis visuell aufbereiteter Fernsehberichte deren Hauptinhalt zu erschließen. Allerdings sind für das Niveau A1 derzeit keine Deskriptoren vorhanden (cf. Abb. 11).

Folglich stellt sich die Frage, ob der Einsatz audiovisueller Medien zu Beginn des ersten Lernjahrs nicht vorgesehen ist oder ob Lernende trotz Nichtbeherrschens der Fremdsprache auf die Deskriptoren des Niveaus A1 nicht angewiesen sind. Sofern letzteres zutreffen sollte, müsste jedoch – ähnlich wie bei C2 – darauf verwiesen werden, dass für A1 und A2 die gleichen Deskriptoren gelten. Bekräftigt würde diese Interpretation durch die Annahme, dass Lernende durch den Rückgriff auf ihr Weltwissen bzw. ihre Hör-Seh-Erfahrungen im Umgang mit Filmen und Fernsehen befähigt sind, Hauptinhalte und Themenwechsel bei Fernsehsendungen allgemein zu erschließen. Fakt ist jedoch, dass der GeR die Verinnerlichung dieser Kompetenz erst Lernenden des Sprachniveaus A2 zuschreibt.

Mit dem Erwerb der Kompetenzstufe B sollen die als selbstständig beschriebenen Lernenden den Großteil aller in Standardsprache gesprochenen Nachrichtensendungen und Reportagen begreifen, sodass sie im Anschluss – gemäß der kompetenten Sprachverwendung C1 und C2 – in der Lage sind, solche auch in Umgangssprache oder mit dialektaler Färbung zu verstehen.


Abb. 11: Kompetenzerwartung des GeR für das Hör-Seh-Verstehen am Beispiel von Fernsehsendungen und Filmen (Europarat/Rat für kulturelle Zusammenarbeit 2001, 77)

In diesem Zusammenhang ist es verwunderlich, dass Hör-Seh-Verstehen zwar generell als leicht messbare Kompetenz eingestuft wird, in der Realität jedoch keinerlei detaillierte Vor- und Angaben existieren, die etwaige Erwartungen auch nur ansatzweise befriedigen (cf. Hu/Leupold 2008, 56).

Um diese Lücke zu schließen wäre es prinzipiell sinnvoll, den vom GeR gesetzten Fokus nicht ausschließlich auf Fernsehsendungen und Spielfilme zu legen, sondern um weitere Medienbeispiele zu erweitern. Auf diese Weise könnte mittels der Deskriptoren auf Kurzfilme bzw. fremdsprachliche Lernvideos hingewiesen werden, die trotz elementarer Sprachfähigkeiten bereits im Anfangsunterricht zu bewältigen sind und eine Vorentlastung für die spätere Arbeit mit Spielfilmen und anderen authentischen audiovisuellen Materialien darstellen (cf. Thaler 2007b, 14). Darüber hinaus ist es dringend erforderlich, die Kompetenzbeschreibung audiovisueller Rezeption künftig zu präzisieren, zumal der GeR abgesehen von Strategien zur Rezeption weder konkrete Aussagen bezüglich methodischer Konzepte noch notwendiger Sprachmittel macht.

4.1.2 Die Bildungsstandards für den Mittleren Bildungsabschluss und die Allgemeine Hochschulreife

Die Einführung der bundesweit geltenden Bildungsstandards dient der schulischen Qualitätssicherung und beinhaltet fächerspezifische Kompetenzerwartungen, die Schüler am Ende des Primarbereichs, mit dem Erwerb des Hauptschulabschlusses, des Mittleren Bildungsabschlusses bzw. der Allgemeinen Hochschulreife erreicht haben sollen. Für den Fremdsprachenunterricht Französisch/Spanisch sind in diesem Zusammenhang insbesondere die Bildungsstandards für den Mittleren Bildungsabschluss und für die Allgemeine Hochschulreife von Relevanz, da sie am Beispiel der Fächer Französisch und Englisch die Anforderungen für die Erste bzw. Fortgeführte Fremdsprache darlegen und die Empfehlungen des GeR (cf. Kap. 4.1.1) in eine bundesweit verbindliche Form überführen.

Aus empirischer Sicht handelt es sich bei den Kompetenzen des fremdsprachlichen Hör- und Hör-Seh-Verstehens um verschiedene Konstrukte, deren Trennbarkeit in zahlreichen Studien nachgewiesen werden konnte (cf. Grotjahn/Porsch 2016, 72sqq.). Etwaige Forschungsergebnisse finden in den Bildungsstandards – zumindest auf den ersten Blick – jedoch keine Berücksichtigung: Statt einer Abgrenzung werden das fremdsprachliche Hör- und Hör-Seh-Verstehen in den Kompetenzbeschreibungen gemeinsam behandelt und aufgeführt. Das Hör-Seh-Verstehen wird dabei als Teilfertigkeit bzw. als ergänzende Variante des Hörverstehens verstanden und nimmt im Vergleich zu den anderen funktional-kommunikativen Kompetenzen (Lesen, Sprechen, Schreiben, Sprachmittlung) eine gleichwertige Stellung ein (cf. KMK 2003, 8; cf. KMK 2012, 13). Diese Gleichstellung impliziert, dass auch das Hör-Seh-Verstehen mit dem Beginn des Fremdsprachunterrichts geschult werden sollte und erhebt den Anspruch, dass Schüler am Ende der Jahrgangsstufe 10 im Kompetenzbereich des Hör-/Hör-Seh-Verstehens in der Lage sind,

unkomplizierte Sachinformationen über gewöhnliche alltags- oder berufsbezogene Themen [zu] verstehen und dabei die Hauptaussagen und Einzelinformationen [zu] erkennen, wenn in deutlich artikulierter Standardsprache gesprochen wird (B1+).

Die Schülerinnen und Schüler können (Englisch und Französisch)

 im Allgemeinen den Hauptpunkten von längeren Gesprächen folgen, die in ihrer Gegenwart geführt werden (B1),

 Vorträge verstehen, wenn die Thematik vertraut und die Darstellung unkompliziert und klar strukturiert ist (B1+),

 Ankündigungen und Mitteilungen zu konkreten Themen verstehen, die in normaler Geschwindigkeit in Standardsprache gesprochen werden (B2),

 vielen Filmen folgen, deren Handlung im Wesentlichen durch Bild und Aktion getragen wird (B1) (KMK 2003, 11).

In Anlehnung an die Bildungsstandards für den Mittleren Bildungsabschluss wird von den Schülern im Zuge der Allgemeinen Hochschulreife des Weiteren erwartet, dass sie

authentische Hör- und Hörsehtexte verstehen [können], sofern repräsentative Varie­täten der Zielsprache gesprochen werden. Sie können dabei Hauptaussagen und Einzelinformationen entnehmen und diese Informationen in thematische Zusammenhänge einordnen.

Grundlegendes Niveau

Die Schülerinnen und Schüler können

 einem Hör- bzw. Hörsehtext die Hauptaussagen oder Einzelinformationen entsprechend der Hör- bzw. Hörseh-Absicht entnehmen

 textinterne Informationen und textexternes Wissen kombinieren

 in Abhängigkeit von der jeweiligen Hör-/Hörseh-Absicht Rezeptionsstrategien anwenden

 angemessene Strategien zur Lösung von Verständnisproblemen einsetzen

 

 Stimmungen und Einstellungen der Sprechenden erfassen

 gehörte und gesehene Informationen aufeinander beziehen und in ihrem kulturellen Zusammenhang verstehen

Erhöhtes Niveau

Die Schülerinnen und Schüler können darüber hinaus

 (Englisch: komplexe) Hör- und Hörsehtexte auch zu wenig vertrauten Themen erschließen

 implizite Informationen erkennen und einordnen und deren Wirkung interpretieren

 implizite Einstellungen oder Beziehungen zwischen Sprechenden erfassen

 Hör- und Hörsehtexte (Französisch: im Wesentlichen) verstehen, auch wenn schnell gesprochen oder nicht Standardsprache verwendet wird

 (Englisch) einem Hör- bzw. Hörsehtext die Hauptaussagen oder Einzelinformationen entsprechend der Hör- bzw. Hörseh- Absicht entnehmen, auch wenn Hintergrundgeräusche oder die Art der Wiedergabe das Verstehen beeinflussen (KMK 2012, 15).

Wie aus den vorangestellten Auszügen der Bildungsstandards deutlich wird, enthalten die Kompetenzbeschreibungen nicht nur differenzierte Anforderungen im Hinblick auf das Fach (Französisch/Englisch), sondern auch in Bezug auf das Kursniveau (grundlegend/erhöht). Für Schüler und Lehrer ist hierbei von Relevanz, dass „in einigen Kompetenzbereichen höhere oder niedrigere Anforderungsniveaus etabliert“ wurden (KMK 2003, 11). So lassen sich im Fall des fremdsprachlichen Hör-/Hör-Seh-Verstehens vereinzelt Hinweise zu Gunsten einer erhöhten Verstehungsleistung (e.g. B1+) wiederfinden. Diese Kennzeichnung ist vermutlich auf die verständniserleichternde Wirkung von Ton- und Bildspur zurückzuführen, wobei verwunderlich ist, dass etwaige Verweise gerade im Kontext eines filmgestützten Hör-Seh-Verstehens rar bleiben. Des Weiteren fällt auf, dass die Musteraufgaben für die einzelnen Kompetenzbereiche kaum Beispiele für die Umsetzung bzw. Überprüfung des Hör-Seh-Verstehens enthalten. Dies betrifft sowohl die Aufgabenvorschläge für den Mittleren Bildungsabschluss als auch die für die Allgemeine Hochschulreife.1

Obgleich in diesem Zusammenhang eine stärkere Berücksichtigung des Hör-Seh-Verstehens wünschenswert wäre, bleibt dessen gleichwertige Stellung zumindest formal gegenüber den anderen Fertigkeiten bestehen: Die Überprüfung des Hör-Seh-Verstehens muss entweder als möglicher Prüfungsteil im Abitur erfolgen oder kann alternativ „mit dem Gewicht einer Klausur in der Qualifikationsphase“ abgedeckt werden (KMK 2012, 25). Ausgehend von einem erweiterten Textbegriff empfehlen die Bildungsstandards hierbei die Wahl zu Gunsten authentischer Medien (cf. KMK 2003, 21; cf. KMK 2012, 28) in Form von Ausschnitten „aus aufgezeichneten Theaterproduktionen, aus Dokumentar- und Spielfilmen, Fernsehserien, Mitschnitte[n] aus Nachrichtensendungen, Talkshows, Diskussionen, Trailer, Reden, [und] Interviews“ (KMK 2012, 26). Letztgenannte sollten eine Länge von fünf Minuten nicht überschreiten, sprachlich vorentlastet werden und ggf. mehrmals präsentiert werden (cf. ibid. 26sq.) (cf. Kap. 3.4).