Der Tote unterm Weihnachtsbaum

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„Hm, da sind Sie also hierher gefahren und haben geklingelt.“

„Ja. Erst ja. Als niemand öffnete, habe ich aufgeschlossen.“

„Ach. Sie haben einen Hausschlüssel?“

Bei dieser Frage zuckte die junge Frau zusammen. „Ehm, ja. Herr Maus hatte ihn mir vor einiger Zeit gegeben, damit ich in seiner Abwesenheit die Korrespondenz erledigen konnte.“

Noch eine mit Schlüssel. „Hm, Sie sind also mit Hilfe des Schlüssels, den Ihnen Herr Maus gegeben hatte, hereingekommen.“

„Ja.“

„Was sagte er zu Ihrer Erklärung?“

„Na nichts. Er war ja bereits tot“, rief sie mit großen Augen und begann wieder zu weinen.

„Wann war das?“ Höflich räusperte sich. Rosenkranz, der mit großer Aufmerksamkeit das Verhör verfolgt hatte, warf seinem Chef eindringliche Blicke zu. „So gegen 11 Uhr. Kann ich jetzt gehen?“

„Woher wussten Sie, dass er tot war?“ Höflich ignorierte ihre Frage.

„Er sah tot aus, wie er da so in seinem Blut lag.“ Tränen rannen über ihr Gesicht.

„Was taten Sie dann?“

„Ich weiß nicht. Ich glaube, ich habe geschrien. Dann bin ich in die Küche gelaufen, weil ich hoffte, die Köchin wäre schon da. Doch niemand hörte mich. Niemand war im Haus. Da wollte ich das Haus verlassen.“

„Und warum taten Sie es nicht?“

Sie antwortete ihm nicht. Sie schluchzte nur. Höflich hatte eine Idee. „Hatten Sie eigentlich Angst vor Ihrem Chef?“

„Ehm nein?“ Sie sah ihn fragend an.

„Auch nicht vor seiner Reaktion, wenn Sie die gemeinsame Heiligabendfeier abgesagt hätten?“

„Ehm, nein. Herr Maus hätte es verstanden. Er war so ein verständiger Mensch“, sagte sie und drückte ihr Taschentuch an die Augen.

Daran zweifelte Kommissar Höflich allerdings. Denn wäre er das gewesen, würde er jetzt nicht mausetot in seinem eigenen Haus unter seinem eigenen Weihnachtsbaum liegen.

Plötzlich klopfte es. Gleich darauf steckte Kirschkern seinen Kopf herein.

„Entschuldigen Sie. Können Sie für einen Moment herauskommen, Herr Kommissar?!“

„Wir haben aller Wahrscheinlichkeit nach die Tatwaffe gefunden.“ Mit diesen Worten wurde Höflich von Kirschkern empfangen, als dieser gerade die Tür zur Bibliothek hinter sich geschlossen hatte. Beide gingen in den Garten.

Im Blumengarten des weit angelegten Grundstückes säumte dichtes Buschwerk, säuberlich beschnitten, den Gehweg, der um das Haus führte. Hinter einem der Sträucher war der über Nacht gefallene Pulverschnee durch viele Schuhabdrücke festgetreten. Die Mitarbeiter der Spurensicherung ließen Kommissar Höflich und seinem Assistenten, der ebenfalls herausgekommen war, den Vortritt, damit sie den Fund genaustens betrachten konnten.

Rosenkranz sah viele verschiedene Spuren, die ineinander übergingen und größtenteils verwischt waren. Daneben verliefen Tierspuren, wahrscheinlich von einer Katze oder doch eher von einem Hund, bis zu den Rosenstöcken und wieder zurück.

Kommissar Höflich starrte auf das Ding im Schnee hinter dem Strauch, und in ihm stieg das unangenehm peinliche Gefühl auf, dass ihn schon damals in der Schulzeit beschlichen hatte, wenn er mal wieder so richtig von seinen Mitschülern verladen wurde.

Verärgert wandte er sich Kirschkern zu und wollte ihm gerade seine Meinung über diese Art von Scherzen kundtun, als dieser ihm zunickte und meinte: „Eigentlich unglaublich, nicht?“

Neben ihnen sog Rosenkranz geräuschvoll die Luft ein. Höflich sah erneut auf den Fund und schüttelte ungläubig den Kopf.

Denn im festgetretenen Schnee zu seinen Füßen lag, noch in der handelsüblichen durchsichtigen Folie verpackt, eine hart gefrorene Mastgans. Gewicht: 5 kg, so stand es auf der Verpackung.

„Eine Weihnachtsgans?“ Endlich fand Höflich die Sprache wieder. „Sind Sie sicher?“

„Nun ja, so ziemlich. Wir fanden Blut und Hautpartikel der Leiche an diesem Vogel. Hier sehen Sie? Es wird im Labor natürlich noch genauer untersucht werden. Doch unsere bisherige Untersuchung bestätigt diese Annahme.“ Kirschkern schien es selbst nicht ganz glauben zu können.

„Tja, was soll ich sagen … es ist kaum zu glauben, doch der Verstorbene wurde mit einer Weihnachtsgans erschlagen.“

„Dann wurde die belastende Tatwaffe kurzerhand unter diesem Strauch hier versteckt“, spann Rosenkranz den Faden weiter.

„ … und sorgfältig mit Schnee bedeckt“, beendete Kirschkern.

Kommissar Höflich riss seinen Blick von der Tatwaffe los.

„Der Täter hatte sich offenbar keine Zeit genommen, die Tatwaffe besser zu beseitigen. Vielleicht war er konfus.“

„Oder die Täterin“, gab Rosenkranz zu bedenken.

Sein Blick schweifte über die verschneite Gartenlandschaft und blieb wie zufällig an einem etwas weiter entfernt gelegenen, langgestreckten Gebäude hängen. Es schien sich um einen Stall für Tiere oder Fahrzeuge zu handeln. Genau konnte er es nicht erkennen. Sicher war dort auch der Gärtner zu finden.

Aus der gleichen Richtung wehte das hochtönende Gebell eines eher kleinen Hundes zu ihnen herüber. Es schien, als käme es direkt aus dem Stallgebäude. Er wollte gerade den Kommissar darauf hinweisen, als dieser jedoch ungeduldig darauf drängte, mit der Vernehmung der vorerst letzten Zeugin fortzufahren. „Jammerschade“, dachte Höflich und fühlte einen kleinen Stich im Herzen.

Er hatte sich, während der kurzen Zeit in der Küche von der Frau mit der Schürze spontan angezogen gefühlt. Doch persönliche Befindlichkeiten waren hier fehl am Platz.

Denn jetzt war es an der Zeit, ein ernstes Wort mit der Köchin zu reden.

„Ach nehmen Sie doch bitte Platz.“ Kommissar Höflich hatte sich beim Eintritt von Ludmila Grünspan, genannt Lulu, erhoben.

Sie hatte ihre Schürze abgenommen. Nun saß sie vor ihm in einem engen, fliederfarbenen Kleid, das ihre imposanten Rundungen zur Geltung brachte. Was für eine prachtvolle Frau, dachte Höflich und seufzte versonnen. Doch gleich darauf schalt er sich einen Narren und riss seinen Blick von ihrem üppigen Busen los.

Die Frau war vielleicht eine Mörderin! Was fiel ihm ein? Trotzdem, sie schien eine Frau zu sein, die gerne lachte. Das sah er an ihren Augen. Wieder etwas, das ihm gefiel. Doch jetzt saß sie ernst da und schaute ihn erwartungsvoll an.

„Lulu“, dachte Höflich versonnen. Dann räusperte er sich. „Frau Grünspan“, begann er, „seit wann arbeiten Sie als Köchin in diesem Haus?“

„Naja, so genau weiß ich das gar nicht mehr.“ Sie sprach mit Akzent und lächelte dabei verlegen. „Ich habe hier schon gearbeitet, als die Kinder noch ganz klein waren.“

„Dann gehören Sie ja sozusagen mit zur Familie?“

„Ja, natürlich. Ich habe die Kinder aufwachsen sehen.“

„Sie haben sich hier wohl gefühlt?“

„Oh ja.“

„Und wie ist es jetzt hier für Sie?“

„Jetzt?“ Höflich nickte.

„Nun ja, die Kinder sind erwachsen.“

„ … und die Eltern haben sich getrennt“, beendete Höflich.

„Ja. So ist wohl das Leben.“

„Da haben Sie recht. Sie jedoch arbeiten immer noch hier.“

„Ja, bis vor Kurzem noch regelmäßig. Jetzt aber nur, wenn Herr Maus Gäste hat. Sonst braucht er mich nicht. Er ist viel unterwegs. Da isst er immer auswärts.“

„Was machen Sie in der übrigen Zeit?“

„Oh, ich arbeite in einer Familie als Köchin am Ende der Straße. Wenn Herr Maus mich braucht, richte ich es immer so ein, dass ich ihm behilflich sein kann.“

„So. Und am heutigen Tag brauchte er Sie?“

„Ja, richtig.“

„Wann trafen Sie hier ein?“

„Hm, ich war vielleicht gegen 12 Uhr hier. Da war er leider schon tot. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.“ Sie begann zu schluchzen und drückte ihr Taschentuch an die Augen.

„Ja, das wissen wir. Tut mir leid. Was taten Sie, bevor Sie hierher kamen?“

„Ich arbeitete den ganzen Vormittag über in der Villa ‚Agatha‘ am Ende der Straße, Nummer 45. Ich habe dort bereits das Menü für den heutigen Abend vorbereitet.“

„Hmm, wir werden Ihre Aussage überprüfen müssen, Frau Grünspan“, sagte Kommissar Höflich ernsten Gesichtes und schickte seinen Assistenten Rosenkranz zur genannten Adresse, um sich das Alibi der Köchin bestätigen zu lassen.

„Wenn Sie das müssen …“, seufzte Ludmila Grünspan und sah ihn mit ihren blauen Augen an, dass sich Höflich wünschte, ihr in einer anderen Situation begegnet zu sein.

„Reine Routine …“, entschuldigte er sich. Ihm wurde plötzlich bewusst, dass er mit ihr allein war. „Leben Sie allein?“ Spontan war ihm diese Frage über die Lippen gekommen? Gleich darauf spürte er, dass er rot wurde und wandte sich ab. Er hatte gar nicht weiter nachgedacht. Jetzt hätte er sich dafür ohrfeigen können, so taktlos zu sein.

Doch Ludmila Grünspan schien es gar nicht zu bemerken.

„Ja. Vor einem Jahr ist meine Mutter gestorben. Seitdem lebe ich allein.“

„Oh“, machte Höflich nur und versuchte wieder einen klaren Kopf zu bekommen.

„Was sollten Sie heute für den Verstorbenen erledigen? Denn er erwartete ja Gäste. Richtig?“

„Ja, richtig. Er wollte gern, dass ich ein Abendessen mit drei Gängen für zwei Personen vorbereite sowie ein Kindermenü.“ Als der Kommissar sie immer noch abwartend ansah, fuhr sie fort: „Pastanester mit Garnelen, gefüllte Gurkenhäppchen mit Räucherlachssalat, Kalbskotelett mit Steinpilzen und Herzoginkartoffeln und als Nachtisch Créme brûlée. Für den späteren Abend war eine Feuerzangenbowle geplant.“

„Ehm, verstehe, danke.“ Offenbar war sie eine ausgezeichnete Köchin. Höflich lief das Wasser im Mund zusammen. Ein Grund mehr ….nun ja.

Doch er runzelte die Stirn. Jetzt musste Klartext gesprochen werden: „Und wann soll es die Weihnachtsgans geben?“

 

„Die Weihnachtsgans?“ Die Köchin wirkte erstaunt. „Na, die gibt es doch morgen. Ehm, das heißt, es hätte sie morgen gegeben“, verbesserte sie sich.

„Herr Maus hatte sich für den Weihnachtstag ein typisch deutsches Gericht, eine Weihnachtsgans gewünscht.“

„Das hätte er sich nicht wünschen sollen, denn nun hat er sie schon heute bekommen“, meinte Höflich lakonisch.

„Wie bitte?“

„Wie ich es bereits sagte. Er hat sie schon heute bekommen.“ Höflich beobachtete die Köchin gespannt. „Ich verstehe nicht.“ Ludmila Grünspan schien völlig verwirrt.

„Wie könnte Herr Maus sie heute schon bekommen haben, denn sie ist doch noch tief gefroren!“ Sie sah ihn kopfschüttelnd an.

„Richtig, Frau Grünspan!“ Höflich erhob sich und ebenfalls seine Stimme. Private Befindlichkeiten hatten hier keinen Platz.

„Sie ist noch tief gefroren! Schockgefrostet! So heißt es wohl richtig. Bei Minus 10 Grad oder so.“ Höflich hatte seine Hände auf dem Rücken verschränkt und lief dozierend durch den Raum. Dann machte er vor Ludmila Grünspan Halt, die ihn verständnislos ansah, und starrte auf sie herab.

„Sie, Frau Grünspan, waren die einzige, die um die gefrostete Gans wussten.“ Dann machte er eine wohl berechnete Pause, in der sich die Angesprochene immer unbehaglicher fühlte.

Schließlich sprach er langsam weiter, indem er jedes Wort einzeln betonte: „Und Sie waren es auch, die diesen Vogel dem Frostfach entnahm und damit so lange auf den Kopf Ihres Opfers einschlugen, bis dieses aus seinem Sessel fiel und unter seinem eigenen Weihnachtsbaum verstarb!“ Höflich war sehr laut geworden. Nun musste er erst einmal Luft holen.

„NEIN!“, rief da Ludmila Grünspan und wich zurück. „NEIN! Ich kenne Herrn Maus fast mein ganzes Leben. Nie könnte ich ihm so etwas antun.“ Dann bedeckte sie ihr Gesicht mit den Händen.

„Aber Sie wussten um die Gans!“ Höflich ließ nicht locker.

„Die Küche und auch der Gefrierschrank sind für jeden zugänglich!“ Wehrte sich schluchzend die Köchin.

„Und wenn wir schon dabei sind, im Gefrierschrank befinden sich auch noch ein gefrostetes Kaninchen, sowie die Lende einer Ziege. Weshalb also die Gans!“ Sie konnte ihrerseits auch aufbrausend sein.

„Weil keines dieser Viecher über fünf Kilo wiegt! Deshalb!!“ Höflich hatte es geschrien.

„Naja“, jetzt wurde er ruhiger, „vielleicht wird das nächste Opfer ja mit einer Ziege erschlagen. Wer weiß das schon in diesem Irrenhaus.“

Im nächsten Moment ging die Tür auf und herein kam Rosenkranz, der von seiner Zeugenbefragung zurückgekehrt war. Seine Mitteilung für den Kommissar lautete: Frau Grünspan arbeitete tatsächlich als Köchin in der Villa „Agatha“ in der Nummer 45. Und sie hatte den ganzen Vormittag dort gearbeitet, um das Menü für den Abend vorzubereiten. Die Familie kann es bezeugen.

Damit hatte die Dame ein Alibi.

„Nichts für ungut Madame.“ Höflich deutete eine leichte Verbeugung an. Er war etwas erschöpft.

Nun ja. Auch Hercule Poiroit, der, mit Hilfe seiner grauen Zellen, jeden seiner Mordfälle aufzuklären imstande war, traf nicht gleich beim ersten Versuch ins Schwarze.

Dazu muss gesagt werden, dass Höflich ein heimliches Vorbild verehrte, und das war niemand Geringerer als der berühmte Detektiv aus den Werken der Kriminalautorin Agatha Christie.

Lulu war noch immer betroffen. Doch allmählich begriff sie, dass sie nun des Verdachtes ledig war. „Ich, ehm ich …“ Höflich setzte sich ihr gegenüber. „Ich war wohl etwas grob. Ich …“

„Nein. Ich verstehe das“, sprach sie mit einem koketten Augenaufschlag. „Sie müssen sicherlich so vorgehen. Ich glaube, Sie sind ein sehr guter Polizist.“

„Oh …“ Höflich fühlte sich geschmeichelt und glättete sich etwas verlegen die Frisur, in der Hoffnung, dass die kahle Stelle nicht zu sehen war.

„Danke. Gestatten Sie mir daher noch einige wenige Fragen.“ Er wurde wieder ernst und nickte seinem Assistenten wohlwollend zu.

Dieser hätte beinahe nicht begriffen, was sein Chef von ihm wollte. So sehr war er von dem Bild, das die beiden boten, gefesselt. Oho, dachte er.

Dann fiel es ihm noch rechtzeitig ein, und er zückte sein Notizbuch.

„Wie kamen Sie mit Herrn Maus, als Ihrem Chef, aus? Gab es auch mal Ärger?“

„Oh, eher selten. Wir kamen meist gut miteinander aus. Er hat gesagt was er wollte, und ich habe es getan.“

„Er war Inhaber eines Gourmetrestaurants. Als ein Kenner der guten Küche hatte er da nicht hin und wieder etwas auszusetzen?“

„Kleinigkeiten. Ansonsten hat er immer gern gegessen, was ich gekocht habe. Ich kann ziemlich gut kochen, wissen Sie.“

„Das glaube ich gern“, sagte Höflich und lächelte, während er sich wünschte, auch einmal in diesen Genuss zu kommen.

„Doch sagen Sie, warum ist Frau Maus ausgezogen?“

„Oh, naja, ich denke, ihre Ehe war am Ende. Herr Maus war viel geschäftlich unterwegs. Ninuschka kümmerte sich sehr gut um die Kinder und das Haus und alles.“

„Sie meinen Frau Maus?“

„Ja.“

„Gab es Streit?“

„Ja, natürlich!“

„Wieso natürlich?“

„Nun frage ich Sie: Ist es etwa richtig, dass ein Ehemann und Familienvater sich kaum um Heim und Familie kümmert, weil er viel zu beschäftigt damit ist, den Frauen zu gefallen, ausgenommen der einen, mit der er verheiratet ist?“

„Wollen Sie damit sagen, Frau Grünspan, dass der Verstorbene seine Frau betrogen und seine Familie vernachlässigt hatte?“

„Ja. Das hatte er. Doch weiter möchte ich dazu nichts mehr sagen.“

„Aha. So. Verstehe.“ Das warf ein neues Licht auf den Fall. Höflich musste sich vorerst damit zufrieden geben. „Eine andere Frage: Wissen Sie etwas darüber, ob Herr Maus Feinde hatte? Ich meine Personen, die ihn nicht mochten.“

„Möglich, dass es sie gibt. Doch Genaues weiß ich nicht.“

Langsam wurde die Köchin ungeduldig. Das konnte Höflich spüren. Es drängte sie wieder danach, etwas Handfestes zu tun.

„Der Gärtner. Kennen Sie ihn näher?“ Höflich sah ihr in die Augen.

„Igor? Er arbeitet genau wie ich nur nach Bedarf hier.“ Lulu runzelte die Stirn. „Doch wenn Sie ihn befragen, seien Sie nachsichtig mit ihm.“

„Warum?“ Höflich verlor sich in dem Blau ihrer Augen.

„Nun, er ist … ein scheuer Mensch.“ Beide sahen sich sekundenlang an. Schließlich räusperte sich Höflich. „Ehm, danke. Das war vorerst alles.“

Er beobachtete, wie sie, froh es überstanden zu haben, dem Ausgang zu strebte. Als sie an der Tür angekommen war, fiel ihm ein, was er sie schon die ganze Zeit über fragen wollte.

„Hat Herr Maus auch einmal selbst gekocht?“ Sie drehte sich zu ihm um und lächelte.

„Nein. Er hat nie etwas selbst getan. Das taten immer andere für ihn.“ Dann ging sie mit wogenden Hüften hinaus.

Höflich starrte lange auf die geschlossene Tür. Ihm schien es so, als hätte sich an dieser Stelle ein seltenes Feenwesen entmaterialisiert und wurde durch den umgekehrten Vorgang wieder zurückerwartet. Wirklich. Sie war ihm eine Augenweide.

Kapitel 3

„Hm, Hm …“ Rosenkranz räusperte sich leise. „Eine attraktive Frau?“

„Oh ja … Ehm, wie bitte?“ Kommissar Höflich sah seinen Assistenten an, als wundere er sich, dass dieser immer noch da war.

„Sagten Sie etwas?“ Er tat plötzlich sehr geschäftig. „Es gibt noch viel zu tun. Also halten Sie mich nicht auf.“

„Ehm, ich sagte nur …“

„Wirklich Rosenkranz“, unterbrach er seinen Assistenten, „ich kann mich vor Arbeit kaum retten. Stehen Sie nicht hier herum. Sehen Sie nach, wo der Gärtner steckt und bringen Sie ihn in die Bibliothek!“

Er selbst begab sich auf die Suche nach Kirschkern. Er durchquerte die Eingangshalle und trat durch eine Glastür in den Garten.

Die Fundstelle der Tatwaffe war markiert und abgesperrt worden. Die Tatwaffe selbst, die gefrorene Weihnachtsgans, befand sich auf dem Weg ins Labor. Im Garten war niemand mehr.

Kommissar Höflich hörte Stimmen, doch das Team der Spurensicherung hatte sich offenbar wieder ins Haus zurückgezogen.

Nachdenklich ließ er seinen Blick über die verschneite Gartenlandschaft schweifen. Links und rechts des Weges, hinter den Hecken standen Rosenstöcke, die, als Schutz gegen die Kälte, je nach Empfindlichkeit der Sorte, eingepackt waren.

Die Hecken sowie einzelne Bäume waren beschnitten worden und zeugten ebenfalls von der pflegenden Hand eines Gärtners.

Obstbäume zogen sich linker Hand über die verschneite Fläche. Dazwischen stand auf einem Stamm ein selbstgezimmertes Vogelhäuschen.

Zwei Nebelkrähen verscheuchten eine Schar gieriger Spatzen, um die Reste der Mahlzeit unter sich aufzuteilen. Höflich zollte ihnen widerwillig Respekt. Kopfschüttelnd wandte er sich ab.

Etwas weiter entfernt ging der Garten in eine Parklandschaft mit üppigen Stauden und hohen alten Bäumen über.

Höflich fiel auf, dass es dort, im Gegensatz zu den Vorgärten, keine Zäune gab. Man konnte praktisch von einem Grundstück auf das andere gelangen. In diesen Kreisen kannte man sich offenbar gut genug und respektierte auch so die Grenzen.

Hinter dem Park stieg die Ebene zu einem Hügel an. Am Fuße des Hügels befanden sich einige Häuser. Vermutlich handelte es ich um einen Bauernhof. Wenn es hier überhaupt keine Begrenzung gab, konnte es da nicht sein, dass aus dieser Richtung der Mörder gekommen war?

Das würde auch erklären, warum den Nachbarn nichts Verdächtiges aufgefallen war. Das hatte zumindest eine Befragung seiner Kollegen ergeben.

Vielleicht war es ein Pächter in Geldnöten gewesen? Er erinnerte sich wage. Die Stadt war nicht groß. Es hatte sich herumgesprochen. Außerdem hatte es im „Heumarkt“, dem hiesigen Provinzblatt gestanden. Das Land war aufgekauft worden, von keinem Geringeren, als Anatol Maus.

Höflich blinzelte, denn der Schnee blendete ein wenig, und auch die späte Wintersonne, die gerade hinter den Bäumen stand, schickte ihren sanften goldenen Glanz zwischen ihnen hindurch.

Dieser Glanz erwärmte sein Herz, und ihm fiel wieder ein, dass morgen Weihnachten war.

Höflich war nicht verheiratet, und er hatte auch keine Kinder. Das und die Tatsache, dass auch sonst niemand auf ihn wartete, außer vielleicht seine betagte Tante, ließen ihm die Freiheit, seinen Urlaub so zu gestalten, wie es seinen Vorlieben entsprach.

Er bevorzugte gute, besondere Hotels mit nostalgischem Ambiente. In so einem Hotel hätte er gern seine Weihnachtsferien verbracht.

Brauchte er jemand anderen dazu?

Nein. Er wollte wie sein großes Vorbild, Hercule Poiroit, vor einem ausgesuchten Mittagessen in einem schönen alten Hotel sitzend an seinem Sherry nippen und seinen grauen Zellen eine Ruhepause gönnen.

In aller Entspanntheit wollte er dann, wie er es gern in den seltenen Fällen von Ausgeglichenheit tat, die anderen Gäste beobachten und ihnen Geschichten andichten, wobei er ihnen, um dem Ganzen eine besondere Würze zu geben, dunkle Geheimnisse unterzuschieben gedachte.

Wie in einer heimlichen Übereinstimmung begannen in diesem Moment die Glocken zu läuten, als Einladung zur Christvesper. Er wäre gern in eine Kirche gegangen.

Stattdessen steckte er in einem Mordfall, der ihm Rätsel aufgab. Das war nicht bei allen Fällen so. Bei einigen war es klar ersichtlich, wer der Täter war. Oftmals stellte sich dieser selbst. Ihm blieb dann in der Hauptsache die Aufgabe, die Aussagen zu überprüfen und Berichte für den Staatsanwalt anzufertigen. Überhaupt war sehr viel Verwaltungsarbeit erforderlich.

Doch hier lag der Fall anders. Es musste ermittelt, geprüft und überlegt werden. Hier war kriminalistischer Spürsinn erforderlich. Jawohl.

Dieser Fall forderte ihn heraus. Seufzend wandte er sich wieder dem Eingang zu. Er musste mit Kirschkern sprechen. Das Hotel musste warten.