Der Tote unterm Weihnachtsbaum

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Kapitel 4

Rosenkranz, der der Anweisung seines Vorgesetzten gefolgt war, hatte, nachdem er die Notizen über die Vernehmung der Köchin auf Vollständigkeit überprüft hatte, die Villa verlassen und sich auf die Suche nach dem Gärtner begeben.

Der hatte, nachdem er gebeten worden war, das Gelände nicht zu verlassen, alle Wege und Zufahrten vom Schnee befreit und befand sich nun, wie ihm einer der Kollegen verriet, in einem der abseits gelegenen ehemaligen Wirtschaftsgebäude.

Rosenkranz begab sich in den verschneiten Park und wanderte den vom Schnee befreiten Weg entlang, der einen leichten Hügel hinauf, direkt zur Vorderseite der Gebäude führte.

Er rüttelte an Türen. Sie waren verschlossen.

Wieder vernahm er, dieses Mal ganz aus der Nähe, das Bellen eines eher kleinen Hundes, das in ein Winseln endete. Nach einer Weile erklang erneutes Bellen. Bereits vor einiger Zeit hatte ein ähnliches Bellen seine Aufmerksamkeit erregt.

Sicher war der Gärtner nicht weit. Er ging um die Gebäude herum.

Die bereits im Westen stehende Sonne strahlte von einem noch immer blauen Himmel. Doch die Luft war eisig kalt. Zwölf Grad unter Null hatte der Wetterbericht vorausgesagt. Die Kälte brannte in seinem Gesicht. Mit zusammengekniffenen Augen und einem leisen Seufzer des Bedauerns sah er über die schöne Winterlandschaft. Ideales Wetter zum Skifahren. Ursprünglich wollte er mit zwei Freunden über die Feiertage in die Berge fahren. Das war, bevor er erfahren hatte, dass er sich zum Dienst bereit halten sollte.

Seit einem Jahr arbeitete in der Mordkommission, und er hatte es keinen Tag bereut.

Für die Zukunft hatte er ehrgeizige Pläne. Gegen seinen Chef, dem er vor sechs Monaten zugeteilt worden war, hatte er nichts. Auch wenn man ihn einstimmig vor den Kommissar gewarnt hatte.

Denn Kommissar Höflich war, wegen seiner vielen Grillen und aufgrund seiner unorthodoxen Methoden, denen er sich bediente, nicht gerade beliebt. Doch Rosenkranz hatte sich arrangiert und bewunderte seinen Chef sogar ein wenig.

Dessen skurrile Züge und spontane Wutausbrüche waren ihm seltsam vertraut und störten ihn daher nicht sonderlich. Nur diese gelegentlichen Feindseligkeiten und dieses oftmals unpassende und herablassende Machtgehabe kratzten an seinem ohnehin schwächelnden Selbstbewusstsein.

Jetzt allerdings musste er lächeln, als er an seinen Chef und dessen offensichtliche Affinität für die dicke Köchin dachte.

„Ein eigenartig robustes Exemplar“, schmunzelte Rosenkranz, „und genau so skurril wie ihr Bewunderer.“ Im Gegensatz zu Höflich fand er an ihr nichts Bewundernswertes. In seinen Augen war sie grobschlächtig und irgendwie … ihm fiel nicht ein, was.

Nun ja, er kannte sie nicht weiter. Doch offensichtlich sah sein Chef etwas in ihr, was er nicht sehen konnte.

Eine Portion privates Glück würde dem Kommissar nicht schaden. Er, Rosenkranz, gönnte es ihm jedenfalls von Herzen.

Ihm stieg Pferdegeruch in die Nase. Als er um die Ecke bog, sah er in einer Ummauerung einen Misthaufen dampfen.

Von einem Hund keine Spur. Er würde später nach ihm suchen.

Das Tor zum Pferdestall war nur angelehnt. Als er es öffnete, knarrte es in den Angeln.

Muss wohl mal geölt werden, dachte Rosenkranz, als er eintrat und von Pferdedunst und dem weniger starken Geruchsgemisch von Hafer und Lederzaumzeug eingehüllt wurde.

Im Stall war das Licht gedämpft, eine Wohltat für die Augen, und im Gegensatz zu den Außentemperaturen erträglich warm.

An der Wand entlang befanden sich vier Pferdeboxen, drei davon waren bewohnt.

Auf der Suche nach dem letzten zu vernehmenden Zeugen ging Rosenkranz langsam, um seine Bewohner nicht zu erschrecken, von Box zu Box.

Ein großer Apfelschimmel und eine braune Stute befanden sich in den ersten Boxen. Neugierig kamen sie näher. Große, feuchte, braune Augen waren prüfend auf ihn gerichtet. Weiße Dampfwolken stieg auf in der frostigen Stallluft.

Die nächste Box war leer.

Als er an die vierte Box trat, sah er sich einem Pferdehintern gegenüber. Der dazugehörige Kopf drehte sich zu ihm um und schüttelte grüßend seine Mähne. Langsam ging er weiter und tätschelte kurz mit einer Hand die dargebrachte Kehrseite.

Gerade wollte er sich abwenden, stutzte jedoch und kehrte zurück.

Tatsächlich, auf einer Hinterseite der kräftigen grauen Stute lag eine menschliche Hand. Und daran befand sich ein Arm. Der wiederum war an einem Körper befestigt, welcher mit dem dazugehörigen Kopf an dem mächtigen Bauch des Tieres ruhte. Ein Pferdeknecht.

Durch das kleine Fenster am oberen Rand drangen spärlich Sonnenstrahlen durch die schmutzige Scheibe. Rosenkranz blinzelte verwundert auf das Bild, das sich ihm bot. Wie ein Relikt aus vergangenen Zeiten wirkte es auf ihn. Es gehörte nicht zu der Hightech-Welt, die er gewohnt war, in der Computer, iPhones und iPads unerlässlich waren.

Und dabei war es so einfach. Ein Mann ruhte, nachdem er die Ernte eingebracht, die Felder umgepflügt und den Wald in Brennholz verwandelt hatte, erschöpft am warmen Bauch seines ebenfalls erschöpften Pferdes und döste friedlich vor sich hin.

Nein, so einfach war es dann doch nicht. Der Mann hier wusste um die jetzige Welt und auch, dass er nicht in sie hineinpasste. Denn er trank.

Neben dem Heuballen, auf dem er saß, stand eine bereits über die Hälfte geleerte Wodkaflasche. In einer Ecke lagen leere Weinflaschen.

Die graue Stute stand ruhig auf ihrem Platz, so als wüsste sie um den seligen Rausch und die damit verbundene Ruhebedürftigkeit ihres derzeitigen Mitbewohners. Nur hin und wieder schüttelte sie ihr edles Haupt oder fächelte ein wenig mit dem Schweif, wie um die aufkommende Langeweile zu vertreiben.

Und nur dann schien ein Strahl vom Diesseits in das umnebelte Bewusstsein des Schlummernden zu dringen, denn immer dann begann er ihr die kräftige Hinterbacke zu tätscheln. Das tat er so lange bis die erschöpfte Hand erschlaffte. Nach einer Weile begann das Spiel von vorn.

Nachdem Rosenkranz dies eine Zeitlang mit angesehen hatte, trat er näher, räusperte sich und rief mit aller Vorsicht, denn er wollte diese private Idylle nicht allzu plump zerstören, nach dem Gärtner.

Doch statt des Angesprochenen reagierte die sensible Stute. Sie drehte sich abermals zu ihm um, schüttelte prustend das Haupt und betrachtete ihn mit sanften, feuchten Augen. Mechanisch wurde ihr gerade wieder einmal die Hinterseite getätschelt.

Schnell und etwas lauter rief Rosenkranz noch einmal den Namen des Gärtners.

Mit mehreren Sekunden Verzögerung und unendlich langsam löste der Angesprochene den Kopf von der Flanke des Pferdes und wandte sich zögernd dem Störenfried zu.

„Herr Bergeslow, nehme ich an?“ Froh, dass der Mann nicht sturzbetrunken war, nickte Rosenkranz ihm freundlich zu.

„Falsch!“, grunzte der denn auch prompt. Als er den irritierten Gesichtsausdruck von Rosenkranz wahrnahm, fügte er undeutlich hinzu: „Von Bergeslow bitte. So viel Zeit muss sein!“

„Ah ja, entschuldigen Sie, Herr von Bergeslow. Sie sind hier der Gärtner?“

Von Bergeslow rutschte auf seinem Heuballen herum, klopfte der sanften Stute nochmals das Hinterteil und sah mit zusammengekniffenen Augen zum Fenster empor, durch das die Sonne schräg ihre Strahlen schickte.

Ohne Rosenkranz anzublicken murmelte er: „Im Moment ja. Ich mache sozusagen alles. Was wünschen Sie?“

„Ich bin sozusagen von der Polizei und wollte Ihnen einige Fragen stellen. Mein Name ist Rosenkranz“

Der Mann sah Rosenkranz erschrocken an. „Was wollen Sie von mir?! Ich habe nichts getan!“ Offenbar hatte er vergessen, dass im Haus ein Mord geschehen war. Rosenkranz musste ihn beruhigen.

„Das behauptet ja keiner. Aber wie Sie wissen, ist Ihr Arbeitgeber, Herr Maus, aus noch ungeklärten Gründen … ehm … nicht mehr am Leben. Daher muss Kommissar Höflich Ihnen, wie allen anderen Zeugen auch, einige Fragen stellen. Ich bin …“

„Aber ich weiß gar nichts!“, unterbrach Herr von Bergeslow mit schriller Stimme.

„Ich bin“, begann Rosenkranz erneut, „nun gekommen, Sie ins Haus zu ho … ehm zu bitten.“

Der Gärtner zögerte. Dann nahm er einen großen Schluck aus der Wodkaflasche. „Zum Warmhalten“, erklärte er.

„Klar.“ Rosenkranz zeigte Verständnis.

Dann musste Herr von Bergeslow erst einmal nachdenken. Dabei kratzte er sich das von grauen Bartstoppeln bedeckte Kinn. Langsam schien es ihm wieder einzufallen. Rosenkranz wartete. Nach einem zweiten Schluck war die Erinnerung wieder da.

„Und Sie können mir dafür garantieren, dass mich niemand verhaftet und mitnimmt und in eine Zelle steckt?“ Besorgt sah er Rosenkranz an.

„Wenn Sie nichts getan haben, wird Sie niemand verhaften. Das garantiere ich Ihnen.“ Geduldig wartend stand Rosenkranz vor der Box.

„Ach dann bleibe ich lieber hier.“ Mit diesen Worten lehnte sich Herr von Bergeslow wieder gegen den Bauch der Stute und bettete die Wodkaflasche auf seinen Schoß.

„Ich fürchte aber, dass das so einfach nicht geht.“ Rosenkranz suchte nach überzeugenderen Argumenten. „Wenn Sie sich weigern auszusagen, wird man vermuten, dass Sie unter Umständen schuldig sind, Sie mitnehmen und womöglich in eine Zelle stecken.“

„Nein!“, zeterte von Bergeslow. „Nicht in eine Zelle!“

„Gut. Dann kommen Sie also mit ins Haus.“ Das war eine Feststellung. Rosenkranz sah wie der Gärtner mit sich rang. Schließlich erhob er sich schwankend. „Gut, für ein paar Minuten.“

Es dauerte dann noch einige Zeit, bis sie beide am Haus ankamen, denn Herr von Bergeslow hatte mittlerweile einen Alkoholpegel im Blut, der ihm das Laufen erheblich erschwerte.

 

Rosenkranz brachte ihn in die Bibliothek und machte sich dann auf die Suche nach seinem Chef. Den Hund hatte er vergessen.

Als er durch die Halle ging, kam er an der Küche vorbei und dachte sich, dass er ebenso gut einmal hineingehen und nach den Zeuginnen sehen konnte.

Als er eintrat, empfingen ihn fröhliche Stimmen. Weihnachtspunsch wurde ausgeschenkt und Wünsche zum Fest ausgetauscht. Ein besonders Vorwitziger stimmte sogar ein Weihnachtslied an. Es war warm und gemütlich.

Rosenkranz brauchte nicht lange, ehe er sie entdeckte. Ihr blondes Haar leuchtete zwischen Schultern und Köpfen hervor. Anita Klingbeil unterhielt sich gerade mit Tropfstein, der zweite Mann nach Kirschkern bei der Spurensicherung. Mit zwei Schritten war er bei Ihnen, mischte sich ein wenig ins Gespräch und klinkte Tropfstein dann ganz raus, in dem er seine eigene Wichtigkeit ein wenig hervorhob.

Das Ganze war nicht schwer, denn Tropfstein war, wie der Name schon sagte, ein Tropf. Eingeschnappt zog er ab.

Endlich hatte Rosenkranz sie für sich allein und verstrickte sich mit ihr in ein Gespräch.

Normalerweise war er ein pflichtbewusster Mitarbeiter. Trotzdem waren für kurze Zeit der Gärtner, der Mord und der Kommissar vergessen.

Kapitel 5

Als Kommissar Höflich durch den Hintereingang in die Halle trat, fiel er dem Gesuchten, nämlich Kirschkern, direkt und im wahrsten Sinne des Wortes in die Arme. Und das alles andere als elegant.

Das Team der Spurensicherung, das bis auf einige wenige Details seine Arbeit beendet hatte, begann zusammenzupacken. Wenigstens das nahm Höflich wahr, als er, noch vom Schnee und der langsam untergehenden Wintersonne geblendet, in den etwas dunkleren Raum trat.

Doch was er nicht bemerkte, war das Detail, oder besser Knüppel, den jungen Praktikanten, der auf dem Boden nahe der Tür herumkroch, den Kopf verborgen unter einem kostbaren Rokoko Stuhl, das Hinterteil in die Höhe gereckt, ein Ärgernis für jeden nichtsahnenden Eintretenden.

Ehe Kommissar Höflich wusste wie ihm geschah, stießen seine Knie an einen Gegenstand, während sich bereits seine Füße vom Boden lösten und er sich, platt vor Verwunderung, fallen sah, mit dem Kopf zuallererst. Vergessen waren alle Abrolltechniken. Gab es sie überhaupt? Vergessen waren die eigenen Hände, die ihn hätten schützen müssen, steckten sie doch noch immer gemütlich in den Hosentaschen, in der einen umfassten sie einen Knetball, in der anderen die notwendigen Zigaretten.

So sah er, gelähmt vor Schreck, den edlen Parkettboden auf sich zukommen und erahnte bereits den unvermeidlich schrecklichen Aufprall, als er sich plötzlich an beiden Schultern gepackt fühlte. Nur wenige Zentimeter trennten seine Nase noch vom Boden, als er im unfreiwilligen freien Fall von Kirschkern und einem seiner Mitarbeiter gestoppt werden konnte.

Mühsam und entschieden zu unsportlich rappelte er sich auf. Die Hilfe von Kirschkern und seinem Faktotum hatte er dabei von sich gewiesen. Es war auch so schon peinlich genug. Blinzelnd sah er sich um. So gut wie alle Personen, so schien es ihm, die sich zu dieser Stunde im Haus befanden, standen um ihn herum. Na gut, fast alle. Vielleicht hätte er sich verneigen sollen.

„Mist!“ Höflich konnte nicht verhindern, dass ihm vor Verlegenheit ganz heiß wurde. Wenigstens konnte er Rosenkranz nirgends entdecken.

„Nichts passiert!“ Verärgert wandte er sich an die Umstehenden: „Stehen Sie hier nicht so herum! Gehen Sie wieder an Ihre Arbeit, wenn ich bitten darf! Es gibt hier nichts zu gucken!“

Schmunzelnd zogen sie sich zurück.

Dann fiel sein wütender Blick auf den schuldigen Knüppel, der ihn, noch immer am Boden kauernd, mit großen blauen Augen ansah.

Das reizte ihn nun wirklich. Gerade wollte er über den jungen Praktikanten seinen Ärger ausschütten, als er von Kirschkern unterbrochen und weggezogen wurde.

So jäh in seinem Wutausbruch behindert, konnte er dem jungen Mann nur noch einige böse Blicke zu werfen und „Unerhört“ murmeln.

Sogleich wandte er sich dann auch an Kirschkern: „Sie sollten sich mit besseren Leuten umgeben! Zu ungeschickt …! Ja wirklich! Das sollten Sie!“

„Werde ich tun. Aber hören Sie: Der Kleine krabbelte auf meinen Befehl da herum. Konnte ja keiner wissen, dass Sie gerade dann und durch diese Hintertür kommen. Was wollten Sie eigentlich hinterm Haus. Na egal.“ Kirschkern atmete ein paarmal durch. Dann rückte er mit der Neuigkeit heraus: „Übrigens haben wir unter diesem Stuhl da den Schal der Sekretärin gefunden. Und raten Sie mal, wozu der verwendet wurde!?“

Stirnrunzelnd sah Höflich seinen Kollegen an. Schwerfällig setzten sich seine grauen Zellen in Bewegung. „Ahhhh …“, machte er dann.

„Ja, genau!“ Kirschkern war sehr professionell. „Sie hat sie damit eingewickelt.“

„Eingewickelt?“

„Ja! Die Gans!“ Der Mann von der Spurensicherung trat von einem Bein auf das andere. Doch Höflich musste erst einmal alle Informationen in seinem Kopf nummerieren. Trotzdem versuchte er ein wissendes Gesicht aufzusetzen.

„So! Aha.“

„Ja! Vor etwa einer Stunde hatte Knüppel den Schal gefunden und die Spuren entdeckt. Ging natürlich sofort ins Labor. Die Gans war bereits schon vorher hingeflattert. Haha! Jetzt haben wir ihr den Schal geschickt!“ Er grinste.

„Wie? Die Gans braucht einen Schal?“ Höflich hatte den Faden verloren. Kirschkern jedoch verlor langsam die Geduld.

„Nicht die Gans! Die Mörderin!“

Na endlich. Jetzt hatte sich der Kreis wieder geschlossen. Damit konnte der Kommissar etwas anfangen. Er legte zwei Finger an die Schläfe, schüttelte den Kopf und fragte: „Wieso um alles in der Welt glauben Sie, dass es sich um eine Mörderin handelt?“

„Sagte ich das nicht? An dem sichergestellten Schal befinden sich Frostspuren, genau wie am Kopf der Leiche. Die Untersuchungen im Labor ergaben, dass die Frostspuren von eben der gefrosteten Weihnachtsgans herrühren, die neben dem Haus gefunden wurde. Im Übrigen handelt es sich bei der Weihnachtsgans, genau wie wir vermutet hatten, um die Tatwaffe, an der obendrein Wollfasern von dem betreffenden Schal nachgewiesen wurden. Dieser Schal gehört der Sekretärin des Toten.“ Kirschkern holte tief Luft: „Nach meinem Dafürhalten ist das ein unumstößliches Indiz dafür, dass sie die Mörderin sein könnte.“

Kommissar Höflich stand stumm da und sah so lange auf einen ganz bestimmten Punkt an der Wand vor ihm, dass Kirschkern nicht umhin konnte, ebenfalls diesen imaginären Punkt an der Wand gegenüber zu suchen.

Was er jedoch sah, war eine Fotografie von einer Familie. Das Bild strahlte Harmonie aus. Zusehen waren die Eltern mit zwei halbwüchsigen Kindern und einem kleinen Hund. Ein Foto aus dem Familienalbum der Familie Maus aus guten Tagen.

Im Hintergrund, etwas weiter entfernt, entdeckte er hinter hohen alten Bäumen einzelne Häuser, wie an einen Hügel geklebt. Vielleicht ein kleiner Bauernhof, dachte er so nebenbei.

Der Kommissar indes schritt mit auf dem Rücken verschränkten Händen auf und ab, von Wand zu Wand. Hin und wieder blickte er auf die Fotografie.

„Möglich“, meinte er. „Vielleicht aber auch nicht. Der Mörder hätte sich den Schal nur zu nehmen brauchen, sagen wir, wenn die Besitzerin ihn beim letzten Besuch einfach bloß vergessen hatte.“

„Ja“, sagte Kirschkern, „aber können Sie das Gegenteil beweisen? Hat die betreffende Dame ein Alibi?“

„Nein. Das kann man nicht gerade sagen. Vielleicht haben Sie Recht.“ Abrupt wandte er sich um. „Wo ist eigentlich mein Assistent?“

Als Kommissar Höflich mit Kirschkern die Küche betreten wollte, stießen sie auf einigen Widerstand. Wie sich herausstellte, bestand dieser Widerstand aus dem knochigen Rücken von Kirschkerns Praktikanten, Knüppel. Der war nämlich der letzte in der Schlange der Mitarbeiter des Landeskriminalamtes, die, wie Höflich einen Moment später entrüstet feststellte, nach einem heißen Punsch anstanden.

Ein Durchkommen war mit Schwierigkeiten verbunden, denn, obwohl der modern ausgestattete und trotzdem gemütlich wirkende Raum nicht unbedingt klein war, fühlte Höflich, der klaustrophobisch veranlagt war, aufgrund der Vielzahl der anwesenden Personen plötzlich leichte Panik aufsteigen. Normalerweise wäre er postwendend wieder gegangen. Doch das hier ging auch ihn an, und es war ganz bestimmt nicht so, wie es sein sollte.

Einige Beamte hatten sich gerade mit ihrem Punsch gemütlich plaudernd am Esstisch niedergelassen. Andere nippten an ihren Tassen an der Fensterbank lehnend, wiederum andere saßen auf hohen Hockern am Tresen.

Das waren offensichtlich die, welche bereits nach einem zweiten Glas Ausschau hielten. Denn auf dem Tresen stand auf einer Heizplatte ein riesiger Topf, aus dem Lulu, die Köchin, mit rosigen Wangen und einer Kelle bewaffnet den Punsch ausschenkte.

Sie hatte ihn noch nicht bemerkt, und sagte, rückwärts blickend, gerade etwas zu Irina Maus, die als Einzige ernst und mit abweisend verschränkten Armen am Küchenbufett lehnte. Daraufhin schaute diese mit einem verächtlichen Blick in die Runde.

Freundlich lächelnd wandte sich die Köchin dem Nächsten zu.

Höflich blickte um sich. Am Fenster entdeckte er den rothaarigen Schopf von Rosenkranz, der vertraulich mit der Hauptverdächtigen Anita Klingbeil plauderte. Vor verhaltener Wut ballte er beide Fäuste. Was war das hier? Ein nach einem langen Winterspaziergang wohlverdienter, sorgloser Glühweinumtrunk? Hatten sie alle vergessen, dass es hier um einen Mord ging und sie sich im Dienst befanden? Sprachlos schüttelte er den Kopf.

Gerade rief einer der Leichtfertigen in die Runde: „Küchenpartys sind doch immer die Gemütlichsten …“, als er dem strafenden Blick des Kommissars begegnete. Erschrocken zog er sich daraufhin zurück und versuchte sich hinter seinem Nachbarn unsichtbar zu machen.

„Ich muss doch wohl sehr bitten!“ Mit diesen Worten versuchte Höflich dem Treiben ein Ende zu setzen, doch seine Stimme ging in dem fröhlichen Lärm unter. Plötzlich fühlte er seinen Arm ergriffen und von Kirschkern in den Vorratsraum gezogen.

Doch ehe Kirschkern etwas sagen konnte, platzte Höflich heraus: „Das hat augenblicklich ein Ende.“ Er schnaufte wütend. „Was ist das eigentlich hier?! Ein Leichenschmaus mit Glühweinbesäufnis!!“

„Nein, natürlich nicht. Sie sollten sich beruhigen.“ Kirschkern gab sich alle Mühe.

„Ich will mich aber nicht beruhigen! Das ist unerhört!“ Dabei dachte er kurz daran, dass er sich vor nicht allzu langer Zeit selbst einen heißen Punsch gewünscht hatte. Doch er hatte verzichtet. Was er konnte, konnten seine Kollegen schließlich auch. Nervös kramte er nach einer Zigarette.

Erst dieser unrühmliche Sturz vor versammelter Mannschaft, der ihn aus seinem Gleichgewicht katapultiert hatte. Und nun das hier. Ein Umtrunk im Dienst. Niemand hatte ihn auch nur wahrgenommen, als er sich dagegen aussprechen wollte.

Das kam einer Meuterei gleich. Jawohl! Er zitterte noch immer vor Wut, wie die Zigarette zwischen seinen Lippen.

„Hören Sie Höflich“, versuchte es Kirschkern erneut. Dabei legte er einen Arm um seinen Kommissar. Misstrauisch betrachtete dieser jedoch die Hand auf seiner Schulter und dann seinen Kollegen. Zögernd zog Kirschkern den Arm zurück.

„Die Leute sind mit allem fertig. Sie haben gute Arbeit geleistet. Alles, jede Spur wurde untersucht und Proben davon ins Labor geschickt. Der Tote befindet sich in der Pathologie. Alle nötigen Berichte werden Sie morgen auf Ihrem Schreibtisch haben. Jetzt haben sie Feierabend. Außerdem ist Heiligabend.“

„Vielen Dank, dass Sie mich daran erinnern“, sagte Höflich sarkastisch, denn er hatte immer wieder versucht, nicht so oft daran zu denken.

„Auch für mich wäre Heiligabend, hätte ich keinen Dienst. Doch so ist er für uns unwichtig.“

„Jawohl!“ Kirschkern fiel nichts mehr ein, was er noch hätte sagen können, um Höflich zu besänftigen. „Wie schon gesagt“, meinte er nur, „die Kollegen sind mit allem fertig.“

„Nun, ich bin aber noch nicht fertig. Wie kam es eigentlich zu dieser kleinen Weihnachtsfeier?“

„Oh, die Dame des Hauses, Frau Maus, hatte angeboten, wegen der Kälte und … wegen des … nahen Feierabends, einen Punsch aus dem Rotweinbestand des Verstorbenen zu spendieren. Ich habe es erlaubt.“ Kommissar Höflich horchte auf. „Frau Maus? Sie meinen diese kaltherzige Dame? Das Eheweib des Verstorbenen? Getrennt lebend, versteht sich!“

 

„Ja. Sie ist eine wirkliche Dame. So schön und elegant und ganz und gar nicht kaltherzig. Wie kommen Sie eigentlich darauf?“

„Und wie kommen Sie dazu, die Erlaubnis zu geben, hm?“

„Warum nicht?!“ Kirschkern mochte diese Art von Verunsicherung ganz und gar nicht.

„Weil diese schöne und elegante Dame, wie Sie sie nennen, den Mord begangen haben könnte. Was wäre, wenn sie mit dieser netten Beschäftigung gern fortfahren würde und etwas in den Wein getan hat. Den passenden Gesichtsausdruck dazu hatte sie jedenfalls.“

Boshaft beobachtete Höflich seinen langjährigen Kollegen, wie dieser etwas blasser wurde. Dabei schnupperte er unsinnigerweise an seinem Punsch. Schließlich hatte er bereits davon getrunken.

„Wie …! Meinen Sie? Ach hören Sie doch auf!“ Kirschkern war etwas aus dem Gleichgewicht geraten, wenn auch nur kurz.

Lächelnd tat er es als Scherz ab, trank jedoch nichts mehr.

Kommissar Höflich hatte sich wieder dem fröhlichen Lärm in der Küche zugewandt.

Er seufzte. Was hätte sein großes Vorbild, Hercule Poirot, wohl getan. In Gedanken strich er sich über den Kopf.

Was er am meisten fürchtete, war ein Autoritätsverlust, begleitet von diesem spöttischen Grinsen, welches er nach seinem peinlichen Sturz bei einigen Umstehenden meinte beobachtet zu haben. Ähnliche Ereignisse waren ihm nicht unbekannt.

Er könnte natürlich versuchen, dieser Party ein sofortiges Ende zu setzen.

Doch was wäre, wenn sie nicht auf ihn hörten? Welch eine unsäglich entwürdigende Situation! Und wenn sie es doch taten und murrend gingen? Diese unpassende Weihnachtsparty hätte zwar ein Ende gefunden. Doch er würde in jedem Fall als Spielverderber dastehen. Nein, das war nichts für ihn. Sollten sie doch Glühwein in sich hineinschütten und ihre Köpfe heißreden. Er hatte hier einen Job zu erledigen. „Hm.“ Ernst blickte er in die Runde, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und wippte auf den Füßen hin und her.

Dabei begegnete er dem Blick der Köchin. Leicht errötend lächelte sie ihm fast schuldbewusst zu. Dabei hob sie den Arm, als wollte sie ihm zuwinken, stoppte jedoch auf halber Höhe und ließ ihn dann sinken.

Starr blickte er auf die Köchin, wie sie da so stand, üppig in ihrem blasslila Kleid. Seine Gedanken überschlugen sich. Sie war genau sein Typ. Wie schön wäre es … Er spürte, wie ihm ebenfalls die Röte in die Wangen schoss. Seine Mundwinkel verzogen sich zu einem angedeuteten Lächeln. Aber nur kurz. Dienst war schließlich Dienst. Dann ging er mit strengem Blick auf seinen Assistenten zu, der noch immer in der Nähe von Anita Klingbeil mit seligem Grinsen am Fenster klebte.

Ein herrischer Wink mit dem Finger und ein herausgeschleudertes „Kommen Sie mit!“, brachte Rosenkranz, mit einem Seitenblick auf seine Nachbarin, in Bewegung. Er folgte seinem Chef durch die Küche in die Halle. Dort trafen sie abermals auf Kirschkern, der gerade ein Telefonat beendet hatte.

„Haben fix und fertig den Baum geschmückt und warten mit dem Essen auf mich“, sagte er freundlich mit einem Blick auf das Telefon in seiner Hand. „Denke, unsere Arbeit ist hier für heute getan.“

„Ja. Ach Kirschkern, seien Sie so freundlich und beenden Sie das bunte Treiben in der Küche und schicken Sie die Bande von der Spurensicherung endlich nach Hause.“

„Hatte ich ohnehin vor. Ihnen beiden noch ein frohes Fest.“ Damit verschwand er mit dem Mantel über dem Arm in der Küche.“

„Und nun zu Ihnen!“ Rosenkranz zuckte zusammen.

„Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, mit der Hauptverdächtigen auf so vertraulichem Fuß …! Lesen Sie doch mal die Dienstvorschriften, Sie Kriminalist Sie!“ Kommissar Höflich versuchte, seinem Ärger Herr zu werden.

„Ich habe mich doch nur unterhalten“, verteidigte sich Rosenkranz. Hauptverdächtige also.

„Glauben Sie etwa, sie interessiert sich für Sie!? Hm?“ Höflich beugte sich vor und belauerte seinen Assistenten. „Mitnichten!“, beantwortete er selbst seine Frage. „Machen Sie sich keine Hoffnungen.“

„Warum nicht?“ Rosenkranz wurde dabei rot bis in die ebenfalls roten Haarwurzeln.

„Weil die Dame als Hauptverdächtige nämlich arg in der Klemme steckt, und ihr daher jedes Interesse sowie jegliche Anteilnahme, und sei es auch nur von einem wie Ihnen Rosenkranz, sehr gelegen kommen muss.“ Höflich hatte die Maserung der Holztäfelung studiert und sah nun seinen immer noch überaus roten Assistenten an. Als er die Betroffenheit in dessen Blick sah, tat es ihm plötzlich Leid. Er räusperte sich: „Oder besser gerade von einem Polizisten wie Ihnen. Ehm ja. Nun, haben Sie sich um unseren nächsten Zeugen, den Gärtner gekümmert?“ Damit war er zum nächsten Tagesordnungspunkt übergegangen. Die Zeit drängte. Draußen wurde es bereits dunkel.

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