Kullmann jagt einen Polizistenmörder

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Bei diesen Gedanken seufzte sie.

Kullmanns Weggang würde viele Veränderungen bringen. Dabei war es ausgerechnet Kullmann, der immer beteuerte, jeder Mensch sei zu ersetzen. In seinem Fall war sich Anke nicht so sicher.

*

Der Stall lag am Rande von Saarbrücken im Stadtteil Gersweiler. Es war eine große Reitanlage direkt am Stadtwald mit zwei Reithallen und einem großen Außenplatz. Als Anke vorfuhr, sah sie, dass großer Betrieb auf dem Reitplatz herrschte. Viele Reiter gaben zusammen mit ihren Pferden ein sehr lebendiges Bild ab. Einige Pferde bewegten sich sehr gelassen und zufrieden und erhielten ständig Lob von ihren Reitern. Andere Reiter hingegen wirkten so, als müssten sie ständig gegen ihr Pferd ankämpfen, wodurch Reiter und Pferd äußerst verkrampft aussahen. Ständig nörgelten sie an den Pferden herum, die darauf wiederum nur noch widerspenstiger reagierten, was manchmal ausgesprochen lustig wirkte.

Anke tauchte in eine andere Welt, wenn sie Wiehern hörte und den Duft von Ammoniak roch. Manche lästerten von Gestank, andere sogen diesen Geruch ein und empfanden ihn als eine Wohltat für die Nase. So auch Anke. Sie baute sich hier eine heile Welt auf, in der sie eine Sprache lernte, die meilenweit von dem formalen, trockenen Amtsdeutsch entfernt war, zu dem sie ihr Beruf verpflichtete. Wer wusste schon, was beim Striegeln, Trensen oder Satteln zu tun war, was Schenkelweichen, am Zügel gehen oder in einer Abteilung reiten bedeutete. Das sollte auch so bleiben, und Anke würde sich nie verpflichtet fühlen, diese Dinge einem Außenstehenden zu erläutern. Die vielen neuen Wörter waren wie die geheimen Pforten, die sich früher nur in Märchen für sie geöffnet hatten. Jetzt konnte sie ganz für sich mit diesen Wörtern den Zugang zu ihrem Reiten ermöglichen. Sie befanden sich in ihrem Besitz und waren dort wohl verwahrt. Und sie schafften auch neue Beziehungen zu den anderen Reitern in dem bunten Karussell von Ablehnung und Freundschaft, von Neid und Vertrauen, das sich mit vielen Überraschungen drehte und immer wieder mit neuem Leben füllte. Genau wie im Dienst, kam es ihr in den Sinn, nur mit anderen Vorzeichen. Hier konnte sie sich jederzeit zurückziehen und sich schützen. Ihren Dienst verrichtete sie mit zuversichtlichem Ehrgeiz; hier konnte sie die vielen Vorschriften vergessen.

Kaum war sie aus ihrem Auto ausgestiegen, wurde sie von einem lustigen kleinen Hund begrüßt, der so begeistert an ihren Beinen hochsprang, als hätte er sie schon lange vermisst. Anke kannte den kleinen schwarz-weiß gescheckten Jack-Russel-Terrier; es war Rambo, einer von Susannes Hunden, der Reitlehrerin.

Nach dieser wilden Begrüßung ging sie zielstrebig auf die Stallungen zu. Die Fenster der Pferdeboxen waren alle geöffnet, und neugierige Köpfe schauten heraus. Erwartungsvoll rief sie Rondos Namen. Rondo war der Fuchswallach, den sie in den Schulstunden ritt. Das große Pferd reagierte tatsächlich mit einem leisen Brummeln auf ihre Stimme. Glücklich ging sie auf ihn zu und begrüßte ihn mit Leckerli und Möhren, die sie immer bei sich trug, wenn sie zum Stall fuhr. Aufgeregt betrat sie die Stallgasse, um das Pferd aus der Box heraus auf die Anbindestelle vor dem Stall zu führen, als sie erschrocken zurückweichen musste. Peter Biehler, Besitzer zweier großer Turnierpferde, kam mit seinem Schimmelwallach gerade aus der Stallgasse heraus und führte das Pferd rücksichtslos an ihr vorbei, so dass Anke Mühe hatte, sich nicht von dem riesengroßen Pferd auf die Füße treten zu lassen.

»Kannst du mich nicht vorwarnen?«, rief sie empört, doch Peter tat so, als hörte er nichts. Verärgert schüttelte Anke den Kopf. Sie kannte Peter Biehler zufällig dienstlich, denn er war bei der Verkehrspolizei beschäftigt. Mit dieser Dienststelle kam Anke selten in Berührung, was sie gerade in diesem Moment als großes Glück empfand. »Benimmst du dich auf deiner Dienststelle genauso unverschämt?«, fragte sie, erhielt aber keine Antwort von Peter Biehler.

»Du kennst doch die Wohlverhaltenspflicht der Polizei, die sich auf unser Verhalten im Privatbereich bezieht? Das betrifft auch dich«, fügte sie noch erboster an, als plötzlich ein Reiter aus der dunklen Stallgasse auf sie zutrat und meinte: »Stör dich nicht daran, Peter ist unverbesserlich.«

Erstaunt schaute sie zu ihm hinauf und sah in das sympathische Gesicht eines Mannes, den sie noch nicht kannte. Er hatte hellblonde Haare und so strahlend blaue Augen, dass sie es sogar in der dunklen Stallgasse deutlich erkennen konnte. Sein Lächeln wirkte hypnotisierend auf sie, sodass Anke sofort ihre Wut auf Peter Biehler vergaß.

»Ich bin Robert.«

Als Rondo begann, mit den Hufen gegen die Boxenwand zu schlagen, ging Anke zu ihm in die Box, zog ihm das Halfter über den Kopf und führte ihn damit aus der Stallgasse zum Anbindeplatz, der in der wärmenden Frühlingssonne lag.

»Ich habe dir schon einige Male beim Reiten zugesehen und erkannt, dass du Talent hast«, folgte Robert ihr. Anke fühlte sich sehr geschmeichelt. Außerdem gefiel ihr Robert. Sein Lachen wirkte so ansteckend und seine ruhige Stimme so aufrichtig. Sie hegte keinen Zweifel an seinen Worten.

Als sie Rondo auf den Reitplatz führte, spürte sie großes Unbehagen, das sich auch sofort auf den sonst so ruhigen Wallach übertrug. Immerhin war es das erste Mal, dass sie draußen reiten sollte. Dort fehlte ihr einfach der vermeintliche Schutz der Halle, der ihr das Gefühl gab, dass das Pferd nicht weit laufen konnte. Aber hier auf dem Reitplatz, der von keiner Seite abgesperrt war, sah alles ganz anders aus. Wenn ihr hier das Pferd einfach durchgehen sollte, konnte es mit ihr hinlaufen, wohin es wollte, falls sie nicht schon vorher auf den harten Boden gefallen wäre. Den ganzen Tag hatte sie sich unbändig auf die erste Stunde im Freien gefreut, doch als sie sah, wie rücksichtslos Peter Biehler über den Platz galoppierte, ahnte sie, dass es eine schwere Herausforderung für sie werden würde, unter diesen Bedingungen auf dem Reitplatz zu reiten.

Sie stieg in den Sattel.

Wie ein Wilder jagte Peter Biehler seinen Schimmel über den großen Reitplatz, als gäbe es keine Bahnregeln. Einige Hindernisse standen auf dem Platz, über die er sprang, ohne vorher darauf aufmerksam zu machen. Er zwang die übrigen Reiter selbst zu erahnen, was er als nächstes vorhätte, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Am Rand des Reitplatzes stand Peters Frau Sybille. Ihre strohblonden, dauergewellten Haare schimmerten grell in der Sonne und ständig feuerte sie ihren Mann mit schrillen Rufen an. Als Anke in ihre Nähe kam, hörte sie: »Toll, mein Schatz. Das hast du wunderbar gemacht.«

Das Einzige, was Anke von Peter Biehler wahrnahm, war, dass er Helmut Keller, einem Turnierreiter, in die Quere geritten war, so dass dieser sein Pferd hastig herumreißen musste, um nicht mit Peters Schimmel zusammenzustoßen. Helmut Keller fiel Anke gelegentlich auf, wie er gekonnt seine Pferde trainierte. Seine reiterlichen Fähigkeiten waren in ihren Augen bewundernswert. Insgeheim wünschte Anke sich, wie Helmut Keller auf dem Pferd sitzen zu können. Gerne schaute sie ihm beim Reiten zu, weil sie glaubte, allein vom Zugucken eine Menge von ihm lernen zu können.

»Du Idiot!«, schrie Helmut Keller wütend, womit er Anke ganz unsanft aus ihren Gedanken riss. »Auf dem Außenplatz gelten dieselben Bahnregeln wie in der Halle. Aber wahrscheinlich kennst du die noch gar nicht.«

Peter Biehler lachte nur gehässig und galoppierte gerade zum Trotz noch einmal besonders dicht an Helmut Kellers Pferd vorbei.

»Du kannst wohl nicht anders: immer nur Scheiße bauen und anderen in die Quere reiten?«

»Das musst du gerade sagen. Wer hat denn hier die große Scheiße gebaut?«, lachte Peter Biehler so zynisch, dass es Anke eiskalt den Rücken herunter lief. Boshaftigkeit schwang in seinem Tonfall mit.

»Glaub nicht, dass du mir drohen kannst«, erwiderte Helmut Keller nicht weniger feindselig, doch Peter Biehler lachte nur überheblich, erwiderte nichts mehr.

Vorsichtig ritt Anke im Schritt ganz am Rand des Platzes entlang, um sich von diesen beiden Streithähnen fernzuhalten. Aber schon nach kurzer Zeit rief die Reitlehrerin Anke zu sich und meinte, dass sie sich der Abteilung anschließen sollte, weil sie ihre Reitschüler nicht korrigieren könnte, wenn sie alle durcheinander ritten. Anke nickte und ritt los.

Völlig konzentriert begann Anke mit den Übungen, die die Reitlehrerin ihr auftrug. Die Rittigkeit des Pferdes zu erlangen, war das Grundprinzip des Reitens, was nur durch gymnastizierende Übungen, wie Schenkelweichen oder Tempowechsel zu erreichen war. Anke spürte, dass ihre Arbeit Erfolg hatte, weil Rondos verkrampfter Rücken sich entspannte. Er begann zufrieden an seinem Gebiss zu kauen, das direkt mit den Zügeln verbunden war, die Anke in beiden Händen hielt und mit denen sie ihre Paraden gab, von denen die Reitlehrerin immer wieder sprach.

Doch plötzlich sah sie ganz dicht vor ihrem Pferd den großen Schimmel von Peter Biehler, der gerade im Begriff war, das Hindernis anzureiten, das in der Mitte der Bahn stand. Er war direkt vor ihr abgebogen, so dass er ihrem Pferd den Weg abschnitt. Rondo erschrak so sehr, dass er zuerst einen heftigen Satz zur Seite machte und anschließend wilde Bocksprünge veranstaltete. Lange Zeit gelang es Anke, sich im Sattel zu halten, doch dann ließ die Kraft nach und mit aller Wucht fiel sie zu Boden.

Zuerst sah sie nichts mehr, ihr war schwarz vor den Augen. Dann glaubte sie, ersticken zu müssen. Sie bekam keine Luft mehr. Nach Atem ringend wälzte sie sich im Sand, bis Robert zu ihr gelaufen kam, sie auf den Rücken legte und sie in dieser Stellung auf den Boden lagerte.

»Ganz ruhig, Anke. Bleib so liegen, die Luft kommt wieder«, sprach er auf sie ein.

 

Er hatte Recht. Plötzlich war der Krampf verschwunden. Gierig atmete Anke ein.

»Mein Gott, was war das?«, fragte sie, als sie endlich wieder sprechen konnte.

»Das war einfach nur eine Verkrampfung der Brustmuskulatur. Das passiert schon mal bei einem heftigen Sturz. Da bist du keine Ausnahme. Hoffentlich ist sonst nichts passiert«, erklärte Robert mit seiner ruhigen Stimme, die Anke so angenehm empfand.

Er half ihr beim Aufstehen und beobachtete sie aufmerksam, um erkennen zu können, ob sie sich irgendeine Verletzung an den Knochen zugezogen hatte. Dankend lächelte Anke ihn an und versicherte ihm, dass es ihr gut ging. Erst als er diese Gewissheit hatte, entfernte er sich einige Meter von ihr, weil er der Reitlehrerin Platz machen wollte, die auf die beiden zukam. Genau in diesem Augenblick kam Peter von hinten auf Robert zugeritten und rief mit einer überlauten Stimme: »Verschwinde vom Platz, du Erbschleicher. Du störst hier.«

Verwirrt schaute Anke auf Peter, dessen Gesicht hasserfüllt war. Was hatte das nun wieder zu bedeuten? Legte Peter sich hier im Stall mit jedem an, koste es, was es wolle?

Über diese Frage konnte sie jedoch nicht lange nachdenken, weil die Reitlehrerin sich zu ihr gesellte. Sie führte Rondo neben sich her, der ganz geduldig aussah, als wäre nichts geschehen.

Erleichtert nahm Anke Rondos Zügel in die Hand und stieg wieder in den Sattel. Deutlich spürte sie, dass ihre Unsicherheit noch größer geworden war, aber die Reitlehrerin hatte ihr immer wieder geraten, nach einem Sturz schnell wieder aufzusteigen, weil man nur so das angsterregende Erlebnis des Sturzes vergessen könnte.

»Rondo hat sich wirklich erschreckt«, erklärte die Reitlehrerin. »Ich habe Peter zwar angehalten, sich wenigstens während der Reitstunden an die Bahnregeln zu halten, aber es hat nichts genutzt. Die anderen Reitschüler und ich haben beschlossen, in die Halle auszuweichen.«

Diese Idee fand Anke klasse. Sie sah gerade, wie Peter wieder einem Reiter gnadenlos in den Weg ritt und diesen anschrie: »Du hast wohl schon wieder so viel gesoffen, dass du nicht mehr klar sehen kannst.« Der Mann tat so, als habe er nichts gehört und ritt unbeirrt weiter. Doch damit gab Peter sich nicht zufrieden. Wütend fügte er an: »Vergiss nicht, ich bin bei der Verkehrspolizei. Das, was du säufst, reicht locker für den Führerschein. Ein Anruf genügt.«

Nun brachte der Mann sein Pferd zum Halten, schaute auf Peter Biehler und fragte ihn: »Willst du mir drohen? Das kann ich auch. Ich habe schon herausbekommen, wer dein Chef ist und glaube mir, noch so eine Bemerkung und ich werde deinem Chef mal einen Bericht erstatten, wie du dich als Bulle hier im Reitstall aufführst. Das hat Folgen.«

Diese Drohung überhörte Biehler. Unverdrossen ritt er das nächste Hindernis an.

»Ist er das Hindernis überhaupt gesprungen, für das ich vom Pferd fallen musste?«, interessierte sich Anke nun, nachdem sie den Eindruck gewonnen hatte, dass Biehler sich ausnahmslos mit jedem im Stall anlegte.

»Nein! Es war das Übliche, das Pferd hat verweigert«, lachte Robert. »Jetzt meint er, dass du daran schuld bist.«

»Klar, Biehler braucht jemanden, dem er die Schuld geben kann.«

»Weißt du, bei Leuten, deren Ansprüche von ihren Fähigkeiten sehr weit entfernt sind, fällt mir oft auf, dass sie anderen die Schuld für ihr Versagen zuweisen wollen«, stimmte Robert zu.

Wieder ritt Peter den hohen Oxer an, gab seinem Pferd ordentlich die Sporen und sprang los. Zu Ankes Belustigung sprang Peter alleine, ohne sein Pferd. Der Schimmel schien schlauer als sein Reiter zu sein, denn er blieb vor dem Hindernis stehen und schaute seinem Reiter zu, wie er mit Wucht in die vielen Stangen donnerte und mit einem lauten Krachen auf dem Boden aufschlug.

Anke konnte sich ihr Lachen einfach nicht verkneifen. Das geschieht ihm gerade recht, dachte sie.

Obwohl sie noch nicht sehr viel vom Reiten verstand, erkannte sie ganz deutlich, dass Biehler kein Gefühl für Pferde hatte. Das Einzige, was er bereits besaß, war eine plumpe Überheblichkeit, die er nicht nur hier zeigte. Auf seiner Dienststelle verhielt er sich genauso. Von ihrem Kollegen Bernhard Diez erfuhr Anke regelmäßig, wie schwierig es war, mit ihm zusammenzuarbeiten.

Sie ritt durch das Hallentor und fand Anschluss an ihre Abteilung. Durch den Sturz fühlte Anke sich etwas mulmig, aber sie ritt mutig die Stunde zu Ende.

Spät am Abend schlenderte sie gemeinsam mit Robert zum Parkplatz, wo nur noch zwei Autos standen. Neben Roberts silbergrauem Mercedes-Geländewagen ML 500 wirkte Ankes alter Polo noch kleiner als sonst.

»Am Sonntag reitet Peter Biehler auf dem Turnier in St. Arnual. Was hältst du davon, wenn wir dort zuschauen? Es wird bestimmt ganz lustig«, schlug Robert zum Abschied vor.

Als Anke Biehlers Namen hörte, erinnerte sie sich wieder daran, wie er sich auf dem Reitplatz aufgeführt hatte. Nun konnte sie nicht mehr umhin, Robert zu fragen: »Was meinte Peter eigentlich mit der Bemerkung Erbschleicher

»Das ist eine lange Geschichte, die ich dir am Sonntag erzählen werde«, schlug Robert verschmitzt vor, so dass Anke der Verabredung zum Turnier zustimmen musste. Außerdem wollte sie wirklich wissen, wie Biehler sich auf einem Turnier schlagen wollte, wenn er es noch nicht einmal im Training schaffte, über einen Oxer zu springen.

Kapitel 2

Am nächsten Morgen kam Anke zum ersten Mal zu spät zur Arbeit. Die Schmerzen im Genick und in der Schulter hatten sie fast die ganze Nacht wach gehalten. Außerdem spürte sie einen äußerst ungewohnten und quälenden Schmerz in ihrer Brustmuskulatur. Eine Erinnerung an die kurzzeitige Verkrampfung, als sie um Luft ringen musste. Erst am Morgen war sie eingeschlafen, aber nach zwei Stunden hatte gnadenlos der Wecker gerappelt. Der Schmerz war so schlimm, dass sie alle Mühe hatte, aus dem Bett aufzustehen. Völlig übernächtigt fühlte sie sich, als sie durch den langen Flur in ihr Büro schlurfte. Sogar Beine und Gesäß schmerzten bei jedem Schritt. Dabei hatte sie doch tatsächlich gedacht, dass diese Phase endlich vorüber sei, als sie nach jeder Reitstunde sämtliche Muskeln spürte, von deren Existenz sie früher niemals auch nur das Geringste geahnt hatte.

Hübner hatte ihre schlechte Verfassung sofort bemerkt und eilte ihr mit höhnischen Kommentaren hinterher. Anke wunderte sich über sein Verhalten. Inzwischen waren sie seit zwei Jahren getrennt. Ihre Beziehung war nur noch freundschaftlicher und kollegialer Natur, trotz Hübners steter Hoffnung, sie würden wieder ein Paar. Aber mit diesen abfälligen Bemerkungen über ihre Schmerzen nach dem Sturz vom Pferd verbaute er sich jede noch so kleine Chance. Dessen müsste er sich doch bewusst sein.

Anke hinderte ihn daran, in ihren Dienstraum einzutreten, indem sie ihm heftig die Tür vor der Nase zuschlug. Sie hatte keine Lust, mit ihm zu reden, wenn er in dieser Stimmung war. Als erstes kochte sie Kaffee, worauf Kullmann mit Sicherheit schon sehnsüchtig wartete. Während die schwarze Brühe knatternd durch den Filter lief, überlegte sie, welchen schmerzenden Körperteil sie zuerst massieren sollte. Aber sie entschloss stattdessen, sich so wenig wie möglich zu bewegen, weil nur dann der Schmerz nachließ.

Mit einer Tasse Kaffee in der zitternden Hand betrat sie nach einer Weile Kullmanns Büro.

Als Kullmann aufsah, wollte er lächeln, aber als er Anke sah, fragte er erschrocken: »Was ist passiert?«

»Ich bin gestern vom Pferd gefallen«, erklärte Anke abwinkend, womit sie Kullmann zum Lachen bringen konnte.

»Sie kennen meine Überzeugung: Sport ist Mord.« Kullmann wirkte erleichtert. »Ich bin ja froh, dass Sie sich nicht verletzt haben. Schließlich sind Sie hier der Sonnenschein in diesen grauen Büroräumen. Was wäre ich nur ohne Sie?«

»Sie sind gut«, tadelte Anke gespielt und ließ sich umständlich auf den Stuhl gegenüber vom Schreibtisch sinken, »Sie verlassen uns in einem halben Jahr. Und was bin ich dann ohne Sie?«

»Ich gehe in Pension, das heißt aber nicht, dass ich nicht mehr da sein werde«, versicherte Kullmann.

»Ja, das weiß ich, trotzdem werden Sie mir sehr fehlen«, bekannte Anke.

»Zuerst müssen wir den Fall Luise Spengler zum Abschluss bringen. Vorher werde ich nicht zur Ruhe kommen.«

Nachdenklich verließ Anke das Zimmer und begab sich an ihren Platz. Sie konnte Kullmanns Sorgen gut verstehen, da sie selbst am besten wusste, wie schwer es war, im Fall Spengler weiterzukommen. Diese zähe Arbeit vermischte sich mit ihren Zweifeln, warum Kullmann so verbissen an seiner Überzeugung festhielt, dass Luise Spengler ermordet worden war. Diese Beharrlichkeit gab ihr das unbestimmte Gefühl, dass für ihren Chef mehr dahinter steckte als nur ein Fall, der bearbeitet werden musste. Aber mit dieser Vermutung hielt sie sich bedeckt, weil sie befürchtete, Kullmann damit zu verärgern.

Zunächst machte sie sich an die Arbeit, die auf ihrem Schreibtisch lag. Der Berg Akten wartete ohnehin schon lange darauf, von ihr bearbeitet zu werden. Wann war die Zeit günstiger als gerade jetzt. Ihre Verfassung fesselte sie regelrecht an den Stuhl, und deshalb wollte sie die Gelegenheit nutzen.

»Na, du flottes Reitermäuschen«, betrat Esche ihr Büro und schenkte sich ohne zu fragen Kaffee ein.

»Spar dir deine blöden Kommentare«, konterte Anke böse.

Heute trug Esche einen Anzug, dessen Marke Anke nicht kannte, weil sie sich bei den Edelklamotten nicht so gut auskannte. Tadellos erschien sein Aussehen. Er sparte nicht an protzigen Zutaten, trug auch heute wieder seine Goldkette, die Anke trotz ihres offensichtlichen Wertes nicht gefiel. Er sah aus wie ein Zuhälter. Und wenn sie gleichzeitig Esches Verhalten beobachtete, empfand sie diesen Vergleich gar nicht mal so unmöglich. Dieses modische Gehabe hatte er am Anfang seiner Dienstzeit noch nicht gezeigt, das wusste Anke genau. Erst in der letzten Zeit legte er immer mehr Wert auf seine äußere Erscheinung, wobei es schon verwunderlich war, wie er sich diesen Designerkram leisten konnte. Wenn er jedoch glaubte, damit seine Chancen bei ihr aufzubessern, dann täuschte er sich. Trotz seines guten Aussehens blieb sein Auftreten unverändert vulgär. Sie war seine geschmacklosen Annäherungsversuche leid, ja sie fürchtete sich davor. Wenn er nur im gleichen Raum war wie sie, spürte sie, wie sie sich verkrampfte und sich am liebsten unsichtbar machen würde, weil sie von ihm nicht gesehen werden wollte. Er hatte einen Blick, als könnte er durch ihre Kleider hindurch sehen – in seiner Gegenwart fühlte sie sich ständig nackt.

»Gibt es Neues in Sachen Luise Spengler?«, fragte Esche wie so oft, und Anke verneinte wie so oft.

Seit Nimmsgerns Tod arbeitete Esche auf eigenen Wunsch mit Hübner zusammen an dem Fall des ermordeten Kollegen. Sein Interesse an ihren Fortschritten im Fall Spengler erstaunte sie daher, weil er nicht zu seiner Arbeit gehörte. Sie hegte den Verdacht, er wollte kontrollieren, dass sie nicht mehr erreichte als er. Schließlich ging es um eine Beförderung, und da lagen alle auf der Lauer. Leider ließen ausgerechnet jetzt die Ergebnisse auf sich warten.

Bevor Esche das Büro verließ, meinte er noch: »Du wirkst angeschlagen. Bist du vom Pferd gefallen?«

Über diese Frage ärgerte Anke sich, weil die Ironie nicht zu überhören war. Warum bereitete es den Kollegen so große Freude, wenn sie Schmerzen hatte?

»Die einen fallen vielleicht vom Pferd, andere fallen nur blöd auf. Verschwinde jetzt! Ich muss meine Arbeit machen.«

Darüber konnte Esche nur lachen. Belustigt fügte er an: »Deine Entscheidung für den Reitsport war wirklich eine glänzende Idee. Seitdem musst du Probleme lösen, die du vorher nicht hattest.«

Wutschnaubend warf Anke eine Akte nach ihm, doch er hatte die Tür schnell genug zugeschlagen, so dass der Papierstapel dagegen prallte.

*

Nach Feierabend beschloss Anke kurzerhand, in den Stall zu fahren. Sie hoffte, Robert wieder zu sehen. Seit sie den gutaussehenden Mann kennengelernt hatte, wollte er nicht mehr aus ihrem Kopf. Schon lange hatte sie dieses Gefühl nicht mehr gekannt, das Kribbeln im Bauch, als seien dort tausend Schmetterlinge zum Leben erwacht.

Als sie auf den Stall zuging, hörte sie Stimmen. Mit jedem Schritt, den sie näher an das Gebäude herantrat, wurden die Stimmen lauter. Neugierig schlich Anke sich die letzten Meter heran, damit sie etwas verstehen konnte.

»Ich weiß zufällig, wie es in Altenheimen zugeht. Du brauchst nicht zu glauben, du könntest mich für dumm verkaufen. Die Alte hat dir das Erbe versprochen und ein paar Tage später ist sie tot. Das ist kein Zufall, und ich werde dir das beweisen«, schrie gerade Peter Biehler. Unüberhörbarer Hass schwang in seiner Stimme mit, der Anke frösteln ließ.

 

»Ich weiß nicht, was dich das angeht, aber wenn du dir die Finger verbrennen willst, bitte schön.« Anke erschrak, denn die andere Stimme gehörte eindeutig zu Robert.

»Wer sich hier die Finger verbrennt, werden wir ja noch sehen«, konterte Biehler.

»Weißt du, was mir an der Sache am meisten Spaß macht: Du kommst um vor Neid. Dir ist dein Geld schon lange hoch zu Kopfe gestiegen. Noch nie in deinem Leben hast du einen Gedanken daran verschwenden müssen, wie wichtig es ist, die eigene Existenz zu sichern, weil dir alles in den Schoß gefallen ist«, ließ Robert sich nicht aus dem Konzept bringen.

»Mein Geld steht mir zu, das geht dich nichts an«, stellte Biehler klar.

»Du bist vom Geld so verdorben, dass du unfähig bist, anderen etwas zu gönnen«, überging Robert einfach Biehlers Kommentar.

»Ich werde dafür sorgen, dass jeder erfährt, wie du zu deinem Geld gekommen bist – nämlich über den Tod deiner Tante«, wurde Biehler immer lauter.

»Wie denn? Du bist Verkehrspolizist und hast gar keine Befugnisse, außerhalb deiner verantwortlichen Zuständigkeit zu recherchieren, wo es nichts zu recherchieren gibt.«

Anke sah, wie die beiden mit verzerrten Gesichtern sich dicht gegenüberstanden. Bei dieser Szene fiel ihr wieder ein, wie gehässig und öffentlich Peter ihn am Vortag noch »Erbschleicher« genannt hatte. Nun begann sie zu verstehen, was er damit gemeint hatte. Aber warum wollte er das Erbe anfechten? War es nur Neid oder steckte mehr dahinter?

Nachdenklich verließ Anke diese Ecke der Stallgasse wieder, wo sie fast von Peters Frau Sybille, die einen großen Fuchswallach neben sich herführte, überrannt wurde.

»Kannst du dich nicht ankündigen, bevor du die Leute umrennst?«, schimpfte Anke, doch Sybille würdigte sie nicht eines Blickes.

Kopfschüttelnd ging Anke hinaus in den sonnigen Hof.

»Anke, wie schön, dich heute hier zu sehen«, kam Robert auf sie zu. Mit seinen himmelblauen Augen strahlte er sie an, dass Anke sofort ihre Zweifel in weite Ferne schob. Welch eine Ausstrahlung er doch hatte, staunte sie. Er trug Reithosen, die seine sportliche Figur betonten, und ein blaues Hemd, das sein ebenmäßiges Gesicht noch freundlicher wirken ließ. Er weiß sich zu kleiden, dachte Anke und kam sich neben ihm so gewöhnlich vor. Wie immer trug sie eine verwaschene Jeans und ein weites T-Shirt. Vielleicht sollte sie an ihrer Garderobe etwas ändern.

Biehler kam mit seinem Fuchswallach aus dem Stall, von dem Anke vor wenigen Minuten fast umgerannt worden wäre. Er stieg auf das große Pferd auf und ritt auf den Außenplatz, der voller Hindernisse stand.

»Ich gestehe dir, dass ich eben etwas von eurem Gespräch mitbekommen habe«, meinte Anke, während sie nach draußen blickte.

»Das möchte ich dir erklären.«

Verwundert über die Ernsthaftigkeit, mit der Robert plötzlich sprach, schaute Anke ihn an.

»Es ist ganz einfach: ich habe viel Geld von meiner Tante Katharina geerbt. Sie war Patientin in dem Altenheim, in dem ich als Altenpfleger arbeite. Sie hat keine Familie. Was spricht also dagegen, dass sie ihren einzigen Neffen beerbt?«

»Nichts. Nur was stört Peter Biehler daran? Hat er auch einen Anspruch auf das Geld?«

»Nein, er hat von einer früheren Freundin den Floh ins Ohr gesetzt bekommen, dass es kein Zufall ist, dass die Tante wenige Tage, nachdem sie das Testament aufgesetzt hatte, gestorben ist.«

»Biehler meint also, du hättest nachgeholfen?«, staunte Anke über die grausame Bedeutung dieser Unterstellung.

Robert nickte.

»Wie kann diese frühere Freundin so etwas behaupten? Arbeitet sie auch in dem Altenheim?«

»Nein, ich kenne diese Frau nicht. Angeblich hatte sie einen Verwandten in unserem Altenheim, der dort ebenfalls plötzlich verstorben ist. Das Problem ist, dass alte Menschen sterben, nur wollen die Angehörigen das nicht einsehen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass in unserem Haus Sterbehilfe geleistet wird.«

»In letzter Zeit sind in Deutschland einige Fälle von Sterbehilfe in Altenheimen aufgedeckt worden. Da wird die Polizei gleich hellhörig, wenn ein älterer Patient unter verdächtigen Umständen stirbt. Kein normal denkender Altenpfleger würde dieses Risiko eingehen«, stimmte Anke zu.

Als sie sich dem Reitplatz näherten, hörten sie ein lautes Streitgespräch zwischen Peter Biehler und Nadja Basten. Gemeinsam mit einem anderen Reiter war Nadja damit beschäftigt, die Hindernisse zu einem Parcours umzubauen, der in der Springstunde trainiert werden sollte. Sie warf die Stangen eines Oxers auf den Boden und stellte die Ständer an einen anderen Platz, als Biehler sie laut anschrie: »Stell das Hindernis gefälligst wieder so hin, wie es gestanden hat. Was meinst du, warum ich mir das so aufbaue?«

Ein kleiner braun-weiß gescheckter Hund sprang immer zwischen Nadja und Biehler hin und her und bellte den Reiter unentwegt an.

Nadja schaute Biehler böse an und giftete zurück: »Jeder hier weiß, dass heute Springstunde ist, und jeder weiß, dass man dafür einen Parcours aufbauen muss. Nur du nicht. Wenn du springen willst, dann mach das an einem anderen Tag.«

Aber Biehler wollte nicht nachgeben. Unwirsch blaffte er zurück: »Dann bau doch wenigstens etwas auf, das man springen kann, und wirf nicht alles durcheinander.«

Immer noch bellte der kleine Hund dazwischen, dass Anke Mühe hatte, alles zu verstehen.

»Du glaubst doch nicht im Ernst, dass ich hier Hindernisse aufbaue, während du ohne Rücksicht darüber springst.«

»Das darf doch nicht wahr sein!«, schrie Biehler außer sich.

Aber für Nadja war das Thema erledigt. Gerade zum Trotz ließ sie alle Stangen kreuz und quer auf dem Boden liegen, damit Biehler gar keine Möglichkeit zum Springen bekam. Ihm blieb nichts anderes übrig, als um den Stangensalat herumzureiten. Nur der kleine Hund hatte eine Riesenfreude an dem Wirrwarr. Munter sprang er von allen Seiten darüber und freute sich über das Lob, das er von Nadja dafür bekam.

Nadja wollte gerade den Reitplatz verlassen, als Biehler ganz dicht an ihr vorbei ritt, sodass sie schon befürchtete, er wollte sie umreiten.

»Du wirst mich noch kennen lernen, Fräuleinchen«, rief er ihr drohend zu.

»Wenn du mich umreitest, dann ist aber was los hier«, konterte Nadja nicht minder böse.

»Halt bloß die Schnauze!«, schrie Biehler ungehalten. »Wenn hier was los ist, wirst du das schon merken.«

»Ich lass mir von dir nicht sagen, dass ich die Schnauze halten soll.«

Mit diesen Worten verließ Nadja den Platz.

Anke hatte genug gesehen und verließ den Reitstall.

*

Es wurde ein Tag, wie er schöner nicht sein konnte. Die Vögel zwitscherten zum Tagesanbruch so laut, dass Anke davon geweckt wurde. Froh gelaunt stand sie auf und stellte mit Entzücken fest, dass ihr Muskelkater und die Prellungen im Schulterbereich und im Genick fast überhaupt nicht mehr schmerzten. Beschwingt hüpfte sie von ihrem Schlafzimmer in die Küche und frühstückte am offenen Fenster, das zur Quienstraße zeigte, um diesem herrlichen Frühlingstag ganz nahe zu sein.

Alles war ruhig zu dieser frühen Stunde. Aber Anke wollte nicht länger schlafen, weil sie Angst hatte, zu viel von diesem schönen Tag zu verpassen. Als Robert in seinen Luxusgeländewagen vorfuhr, wartete sie schon ganz ungeduldig, weil sie es kaum noch erwarten konnte, mit ihm zum Turnier zu fahren.