Der Untergang des Abendkleides

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Menopause Turbosause

Freitagabend. Wir hängen in Kirstens Wohnzimmer herum, Kirsten, Lisa, ich und vier leere Flaschen Burgunder. Ich liege in den flauschigen Kissen des Sofas und komme nicht mehr heraus.

»Wie wäre es, wir machen mal wieder was Verrücktes?«, durchbricht Lisa die schläfrige Stille und richtet sich in ihrem Sofakissen auf.

»Was?«, fragt Kirsten. Ihr linkes Auge schimmert durch ihr Weinglas.

»Etwas, das wir schon immer tun wollten«, sagt Lisa. »Etwas, nach dem wir uns immer gesehnt haben.«

»Ein abbezahltes Eigenheim«, haucht Kirsten.

»Globaler Kommunismus«, rufe ich.

Lisa schüttelt den Kopf.

»Wir gründen eine Punkband«, sagt sie. »Das wollten wir doch immer. Damals, in der Schule, da waren wir kurz davor. Bis sich Ella in diesen bibeltreuen Christen verknallt hat, und aus war’s mit dem Traum.«

Kirstens Auge guckt jetzt über ihr Weinglas. Ich sinke noch tiefer in mein Kissen. Die Bandpläne, die hatte ich ganz vergessen. Den bibeltreuen Christen hatte ich auch ganz vergessen, aber jetzt kommt alles wieder hoch.

»Ich bin dabei«, sagt Kirsten und hebt einen Arm. »Ich bin die Sängerin.«

»Ich bin auch die Sängerin«, sage ich.

»Mist. Ich bin auch die Sängerin«, sagt Lisa.

Wir schweigen.

»Ist Punk nicht tot?«, frage ich.

Lisa stellt ihr Weinglas ab. Ihre Wangen geraten ins Glühen.

»Nicht Punk leicht verblühter Akademikerinnen«, sagt Lisa, »die teilweise sogar Kinder haben.«

Was da für Potenzial drinstecke. Für Radikalität, für Wut, für überschüssige Energie, die sich in unseren Texten freisetze und in unseren Kopfsprüngen in die pogende Menge. Ein innerer Aufruhr, der sich in unserem heiseren Brüllgesang Bahn bricht und als wütender Speichel ins Mikro tropft. Der all unsere verworrenen Sehnsüchte herunterbricht in dreckige Dreitonakkorde.

Ob man auch seinen Ärger mit der Autoversicherung in dreckige Dreitonakkorde gießen könne, fragt Kirsten, und Lisa sagt: »Das kann man.«

Wo wir auftreten sollen und in welchen Intervallen, auf welche Körperteile wir die Büroklammern stecken, in welcher Sprache wir singen, ob Deutsch, Englisch oder in irgendeinem radikalen Anarchodialekt, Plattdeutsch oder Nordhessisch, und wer die Instrumental-CD einlegt, wenn wir zu dritt ins Mikro grölen, dass der Speichel spritzt: All das denken wir an, aber nicht zu Ende.

»Wir brauchen Sicherheitsnadeln«, sagt Lisa. »Und wir brauchen richtig steile Iros.«

»Der Punker, den ich mal kannte«, sage ich, »hat seinen Iro immer mit Sperma in Form gebracht.«

Das bringt uns ins Grübeln.

»Wir brauchen Sperma«, sagt Lisa. »Und wir brauchen einen guten Bandnamen, der klassisch-anarchisch ist und doch mit unserer realen Lebenssituation irgendwie verwoben.«

»Eiternde Kaiserschnittnarbe«, schlägt Kirsten vor.

»Tod im Eigenheim«, lege ich nach.

»Kommando Klitoris«, erweitert Lisa die Liste. Lisa sagt, sie habe die aktuellen deutschen Punkbands gegoogelt, Zwangsentsamung hießen die oder Erigiert ist der größer. Nun gälte es, verkrustete patriarchale Strukturen aufzubrechen.

»Oder wie wäre es mit Menopause Turbosause

Dann rufen alle durcheinander: Frau Hölle, Blitzkrieg in der Baugemeinschaft, Einstürzende Drittstaaten, Rostige Rosenbüsche, Ausgeleierte Poporitze, Moshende Mütter

»Mütter, wieso denn Mütter«, mault Lisa. Warum wir sie andauernd diskriminierten, nur weil sie als Einzige von uns keine Kinder hätte. Man könne auch ohne Kinder keine Lebensfreude haben. Man könne auch ohne Kinder richtig scheiße drauf sein.

Ich schließe die Augen. Bildgewaltige Szenen schießen mir durch den Kopf wie der Alkohol durch die Venen. Ja, wir gründen eine Punkband. Wir werden auf rotzigen Festivals spielen, dort, wo die Bratwürste fünfzig Cent kosten und das Bier aus verbeulten Dosen schießt. In rostigen Kupferkesseln blubbert gammeliges Chili sin Carne, während die männlichen Punker uns zaudernd zulächeln. In zerfetzten Leggins und Netzhemden toben wir über die Bühne, und am Ende tritt Kirsten an den Bühnenrand und zeigt allen ihre Kaiserschnittnarbe.

Kirsten holt eine neue Weinflasche, ein guter Grauburgunder.

»Schlechter Grauburgunder«, sage ich, »auch ein guter Bandname.«

Jetzt geraten wir richtig in Wallung. Jetzt ist alles auf einmal klar. Wir werden auf Reisen gehen, in unserem Tourbus, wir sausen durch Rostock, Krakau, Minsk bis hinein in Putins Kreml. Wir werden Sex haben, mit zahnlosen Hausbesetzern und den Leitern der Goethe-Institute, beschwört Lisa.

»Wieso denn Goethe-Institute?«, frage ich.

»Weil eine A-cappella-Punkband von Frauen mit universitärer Bildung total in deren Förderkonzept passt«, erklärt Lisa.

Ob wir nicht lieber die FSJler der Goethe-Institute nehmen könnten, schlage ich vor, und alle sind einverstanden.

Ob ihre Kinder mitkommen dürften, will Kirsten wissen.

»Ja, die Kinder dürfen mit«, sagt Lisa, »aber nur im Gepäckfach.«

Und ihr Mann auch, denn irgendwoher bräuchten wir ja das viele Sperma.

Plötzlich scheint sich alles zu fügen. Plötzlich ist mir klar, warum ich meine Doktorarbeit hingeschmissen habe und warum ich den abgebrochenen Mercedes-Stern am Lederband immer noch besitze. Wir haben genug Kulturjobs gemacht, Windeln gewechselt und Softjazz gehört.

»Ich will nicht mehr jeden Tag die Fußbodenheizung spüren«, verkünde ich, ehe ich mein sechstes Weinglas exe. »Ich will mich nicht mehr fühlen wie in einem Song von Tocotronic

»Du hast gar keine Fußbodenheizung«, sagt Kirsten.

»Und natürlich schreibe ich die Texte«, rufe ich, nun kann mich nichts mehr halten.

»Mach richtig dreckige Metaphern rein«, beflügelt mich Kirsten, und Lisa lärmt: »Richtig gute Texte schreiben, das wolltest du doch immer!«

»Das wollte ich immer«, sage ich.

Anarchisches Liedgut spinnt sich in meinem Kopf wie von selbst, Songtitel kommen mir in den Sinn von nie da gewesener Wucht.

»Per Taxi in die Hölle«, »Fußpilz in Flensburg«, »Macht aus dem Staat – Couscoussalat« …

Kirsten sitzt stumm da, schaut auf ihre Socken.

»Eigentlich mag ich den Staat ganz gern«, sagt sie.

»Dumpfbacke«, sagt Lisa. »Das ist doch nur metaphorisch gemeint. Wir wollen aufrütteln, provozieren, sabotieren!«

Ich höre kaum zu, ganze Mitgrölrefrains brechen sich in meinem Kopf Bahn mit ungeahnter Wucht: »Hey, ihr Spießer, unsere Lieder brennen eure Städte nieder«, »Sie fiepen laut, sie kriechen raus – Ratten im Schauspielhaus«, oder Reformhaus? Dürfen sich Punkverse überhaupt reimen? Egal, wüste Liedzeilen fügen sich aneinander, brutaler als Battle-Rap, unappetitlicher als die Geburt meiner Tochter. Und ab und an ein bisschen Diskurs-Punk, aber nur für die Goethe-Institute. Ansonsten: dreckige, eingängige Zeilen, die sämtliche bürgerlichen Werte schreddern.

»Ich mag die bürgerlichen Werte eigentlich ganz gern«, sagt Kirsten.

»Scheiße Mann, ich mag die bürgerlichen Werte auch ganz gern«, sagt Lisa. »Das kann ja ruhig deine faschistische Privatmeinung sein, das musst du ja nicht gerade ins Mikro grölen.«

Kirsten sagt, Lisas Ton sei ihr jetzt zu schroff. Gewalt befürwortende Songtexte gern, aber in dem Ton nicht untereinander. Und wenn sie darüber nachdenke, sei es ihr irgendwie doch zu intim, wenn Lisa und ich das Sperma ihres Mannes im Haar trügen. Überhaupt sei sie sich gerade gar nicht mehr so sicher. Wie solle das mit der Tournee denn laufen, ihre Söhne müssten dienstags zum Hockey.

»Dann nehmen wir halt Analogsperma«, lenkt Lisa ein. »Dann kommt der Hockeylehrer halt mit. Jetzt darf nicht alles wieder platzen. Jetzt, wo wir so weit sind.«

»Analogsperma«, rufe ich. »Auch ein guter Bandname!«

»Wir kündigen unsere Jobs«, glüht Lisa. »Wir kündigen die Kitaplätze, den Generationenvertrag und den bürgerlichen Wertekanon. Fangen wir einfach an.«

»Jetzt gleich?«, frage ich. Lisa nickt. Sie habe dieses Wochenende sonst nichts Wichtiges vor.

»Okay«, sage ich.

»Okay«, sagt Kirsten. »Fangen wir damit an, Löcher in unsere Strickjacken zu schneiden.«

Ich stehe auf, wanke durchs Wohnzimmer.

»Weißt du, wo die Küchenschere liegt?«, ruft Kirsten.

»Ich glaube schon«, sage ich.

Pro und Kontra

Ich war neulich bei meinem 20-jährigen Abijubiläum, und es war richtig nett. Es war nicht mehr dieses Herumgepose wie vor zehn, fünfzehn Jahren, als alle noch beim Sortieren und Ankommen waren. Alle waren inzwischen irgendwo angekommen, wie fragwürdig auch immer. Die Dinge hatten sich ein wenig gesetzt. Wer jetzt kein Kind hatte, gebar keines mehr. Wer jetzt noch rauchte, tat es für immer. Wer jetzt eine nette Ehefrau hatte, verließ sie erst in fünf bis zehn Jahren. Einträchtig stand man beisammen, freute sich, dass man noch am Leben war, und nuckelte an seiner Flasche Herforder Pils.

»Und, Ella, was machst du noch mal?«, fragte Jörn, der draußen zwischen mir und dem Standaschenbecher stand. Wir rauchten. Hinter uns der geräumige Gasthof, in dem die Feier stieg, vor uns der nachtschwarze, westfälische Acker, der sich endlos vor unseren Füßen ausrollte bis zum Horizont.

»Bist du nicht Analytikerin?«

»Satirikerin«, sagte ich.

»Oho«, sagte Jörn.

Er blies den Rauch seiner Zigarette aus in kleinen, schnellen Stößen.

 

»Also … bist du links?«, fragte er.

»Hm. Schon«, sagte ich.

»Wow«, sagte Jörn. Danach schwieg er eine Weile, sog gedankenvoll an seiner Zigarette, Marke Benson & Hedges.

Dann, sagte Jörn, hätte ich vermutlich eine ganz andere Weltsicht als er. Dann, sagte er, dächte ich in vielen Dingen des Lebens quasi konträr zu ihm.

Das sei möglich, sagte ich.

Das sei fantastisch, sagte Jörn und strahlte mich an.

Ich müsse wissen, seit seinem Studium der BWL und dem ersten Job in der Investmentberatung hätten immer alle dieselbe Weltsicht wie er. Ganz genau dieselbe. Sogar sein fünfjähriger Sohn spare schon sein Taschengeld für einen BMW. Immer alle d’accord, immer alle auf einer Linie, sagte Jörn mit Bedauern in der Stimme. Da erweitere man ja niemals seinen Horizont.

»Für einen Investmentberater bist du richtig reflektiert«, sagte ich.

Das sei er, nickte Jörn. Und ich herrlich schön frech. Ah, das habe ihm die letzten Jahre, ach was, Jahrzehnte, so manches Mal gefehlt. Einmal infrage gestellt zu werden, einmal kontra zu bekommen, wie sehr er sich danach sehne.

Er sah mich an.

»Wir können uns streiten, Ella«, sagte Jörn. »Pro und Kontra, Rede und Gegenrede, hier und jetzt.«

»Okay«, sagte ich.

»Sag mal was«, sagte Jörn.

»Was?«, fragte ich.

»Egal«, präzisierte Jörn. Es interessiere ihn alles. »Greif irgendwas heraus aus der Fülle an Themen.«

Ich entfachte eine neue Zigarette und sagte, die Fülle an Themen würde mich grundsätzlich eher überfordern.

»Dann«, sagte Jörn und raufte sich das dunkle Haar, das auch schon mal voller war: »Sag: Wie findest du Autos?«

Er sah mich erwartungsvoll an.

Jetzt musste ich liefern. Ich wählte meine Worte mit Bedacht.

»Autos sind scheiße«, sagte ich. »Alle abschaffen. Alle ab in die Schrottpresse.«

»Autos … scheiße … alle abschaffen«, wiederholte Jörn. »Unfassbar! Als wäre das so einfach. Als ob da nicht die ganzen Arbeitsplätze dranhingen und die gesamte deutsche Volkswirtschaft.«

Er nahm aus seiner Benson & Hedges einen kräftigen Zug.

»Und Mindestlohn, wie findest du den?«

»Ab 20 Euro okay«, sagte ich.

»20 Euro«, staunte Jörn und schlug sich gegen die Stirn.

»Nein wie herrlich, nein wie realitätsfern«, sagte er und lachte leise in sich hinein. Als sei das nicht Ausweis reinsten Unwissens, ja kompletter Ignoranz.

»Und Flüchtlinge?«, fragte er. »Was sagst du zu den vielen Flüchtlingen?«

»Zu den Flüchtlingen sage ich Geflüchtete«, sagte ich.

»Geflüchtete«, rief Jörn. »Köstlich! Sagt man das so in der Antifa? Salbadert man so in der taz? Und was tun, deiner Meinung nach, mit den vielen Geflüchteten?«

Ich durfte ihn nicht enttäuschen.

»Alle reinlassen«, sagte ich.

»Alle reinlassen, fantastisch«, gluckste Jörn.

Langsam begann das Gespräch, richtig Spaß zu machen. Langsam begann auch ich, endlich einmal wieder zu fühlen, wer ich war und wo ich stand. Das war mir sonst nur selten klar, daheim bei meinen Leuten, in meiner vertrauten Welt.

»Und Walfang, was sagst du dazu?«, durchbrach Jörns übersprudelnde Stimme meine Gedanken.

»Nicht so toll«, sagte ich.

»Okay, finde ich auch«, murmelte er enttäuscht.

Dann fiel ihm etwas ein: »Aber wenn das Arbeitsplätze schafft?«

»Spielt keine Rolle!«, rief, nein, verkündete ich, spieh jede Silbe in den Nachthimmel. So langsam kam ich in Fahrt.

»Spielt keine Rolle«, japste Jörn. »Großartig, ja komplett krank. Was für ein Gespräch!«

Es war wirklich ein tolles Gespräch, das muss ich sagen. Wir hatten uns nichts zu sagen, aber das immerhin diametral.

Es war erstaunlich: Bei Tageslicht hätten wir uns gehasst, im Alltag wären wir uns seit dem Abitur nie mehr über den Weg gelaufen, außer vielleicht beim TÜV, aber hier und jetzt standen wir Seite an Seite, zwei Antipoden, vereint in Differenz, und sahen gemeinsam über den endlosen Acker bis zum Horizont. Der sich, so war es schemenhaft zu erkennen, in diesem Moment noch weiter ausdehnte, immer weiter, unendlich weit, ob bedingt durch literweise Pils oder dieses Gespräch, war nicht zu unterscheiden.

Ich dachte daran, den Arm um Jörns Schulter zu legen, aber ich tat es nicht.

»Ella, sieh auf den Acker«, sagte Jörn, wobei seine Stimme ein leichtes Crescendo hinlegte. »Schau genau hin. Was siehst du?«

»Monokultur«, sagte ich mit Grabesstimme. »Pestizide. Insektensterben. Vanitas.«

»Und ich den Technologiepark, der hier bald gebaut wird«, jubelte Jörn. »So verschieden sind wir. Du Destruktion, ich Konstruktion. Du billige Zigaretten, ich gute Zigaretten. Du Rosa Luxemburg, ich Jeff Bezos!«

Während ich noch versuchte, die beiden Genannten im Geiste zusammenzubringen, riss Jörn bereits beide Arme gen Himmel: »Ella, deine bloße Gegenwart irritiert und inspiriert mich zugleich. Deine herrlichen Denkfehler. Dein komplettes Unwissen. Deine hammergeile«, er sagte wirklich hammergeile, »Ignoranz. Jedes deiner Worte, jeder deiner Blicke, deine selbst gedrehten Ökokippen, ja sogar deine schlecht gefilzte Umhängetasche schreien mir ins Gesicht: Ich weltfremde Gutmenschtante verachte Leute wie dich!«

»Du lieber Himmel, du bist wirklich total bekloppt«, hauchte ich. »Ich verstehe dich nicht. Nichts an dir leuchtet mir ein.«

»Ich dich auch nicht«, strahlte Jörn.

»Oh, hallöchen, ihr beiden.«

Es war der nette Branko aus der Theater-AG.

»Na, was treibt ihr beiden denn so?«, fragte er, während er aus der Tasche seines Anoraks eine Schachtel Zigaretten herausfischte.

»Horizonterweiterung«, rief Jörn. »Zwiesprache. Neue Perspektiven gewinnen.«

»Wir quatschen hier gerade total konträr über die großen gesellschaftlichen Fragen«, krähte ich.

»Ist super«, riefen wir beide im Chor. »Mach mit. Erzähl uns von dir. Wer bist du? Wo stehst du? Was willst du vom Leben?«

Branko entzündete eine Camel und sagte, er arbeite als Berufsschullehrer, spiele Tuba in der Kirchenkapelle, engagiere sich ehrenamtlich bei den Johannitern, fahre einen schmucken Audi A8 und wähle CDU oder auch mal die Grünen. »Reicht das?«

»Uff«, sagte ich.

»Ach du Scheiße«, sagte Jörn und kratzte sich am Kopf. »Das passt jetzt leider gar nicht. Audi A8 und Helfersyndrom zugleich, und dann noch deine Balkanwurzeln, das ist zu mehrdimensional, wo sollen wir dich einordnen?« Das brächte alles durcheinander. Das würde hier noch mal ganz neue Fässer aufmachen.

»Und dann noch Camel-Zigaretten«, stöhnte Jörn. »Die konturloseste Marke der gesamten Tabakindustrie!«

Er sah sich um.

»Hey Branko, guck mal, die Tina. War das nicht deine Jugendliebe? Geh doch mal Hallo sagen«, sagte er und schob Branko ein Stück von uns weg.

»Und Tempolimit, wie findest du das?«, erkundigte sich Jörn, als Branko wieder verschwunden war, aber seine Stimme klang nun schon etwas träger. Das Gespräch hatte ein Stück an Schwung verloren. Frauenquote, Grundrente, die Vor- und Nachteile von Atomkraft, all das rissen wir noch halbherzig an. Ausgelaugt, aber auch zufrieden umarmten wir uns nachts um drei. Dann trennten sich unsere Wege.

Theater mit Tante

Ab 23 Uhr ist mit den Menschen nicht mehr viel los, vor allem in der U-Bahn. Gesichtszüge entgleiten. Oberkörper verlieren an Spannkraft. Schultern sacken gegen Fenster. Wildfremde Menschen schmiegen sich aneinander. Niemand sitzt mehr kerzengerade, außer meine Tante.

»Ich weiß nicht, ich weiß nicht«, sagt meine Tante auf dem Sitz neben mir und zupft an ihrem Abendkleid, dessen glänzender Saum den Boden streift.

Das Theaterstück, nun ja, es habe ihr schon ganz gut gefallen. In der Dramaturgie bestünden jedoch einige Mängel. Die Figurenkonstellation sei schwach gewesen und die Handlungsschritte nicht immer klar motiviert.

»Wie hieß das Stück noch gleich?«

»König der Löwen«, sage ich müde und spähe durchs Fenster, über die nachtschwarze Elbe.

»Und dieser junge Protagonist«, sagt meine Tante, »dieser adoleszente Löwe namens Simba war auch etwas eindimensional.«

Meine Tante ist Gymnasiallehrerin. Pensionierte Gymnasiallehrerin, das muss man wissen.

»Es ist ein Musical«, sage ich.

Das spiele keine Rolle, erklärt meine Tante. Bühnenaufführung sei Bühnenaufführung und müsse sich beweisen. Sie bleibe dabei: Einzelne Handlungsstränge seien unverständlich, ja komplett entbehrlich gewesen, genau wie dieses quälende Popcorngeraschel hinter uns.

»In den meisten deiner Opern ist die Handlung auch unverständlich«, sage ich.

»In den meisten Opern ist der Eintritt wenigstens so teuer, dass man sich die Frage gar nicht stellt«, kontert meine Tante. »Und auch dieser Gegenspieler, dieser Scar! Himmel, so durchschaubar wie die Witze in der Damenkloschlange.«

Apropos, eine so vollgepinkelte Klobrille habe sie seit der Uraufführung der Iphigenie in der Staatsoper nicht mehr gesehen.

Uns gegenüber sitzt ein älteres Paar in komplementärfarbenen Multifunktionsjacken. Die Frau umklammert ein Königder-Löwen-Programmheft, blickt uns wortlos an.

»Warum waren wir noch mal da drin?«, erkundigt sich meine Tante.

»Ein Freund arbeitet da und hat mir die Karten geschenkt«, spule ich zum dritten Mal ab. Einmal im Jahr machen meine Tante und ich einen »kulturellen Abend«, nur wir zwei. Die restlichen 364 Tage muss ich mich davon erholen.

»Und leider, leider war das Stück auch sehr epigonal«, stoßseufzt meine Tante. »Dasselbe Motiv des Brudermordes gibt es bereits bei Hamlet. Das muss man doch im Programmheft kennzeichnen.«

Aber gut, all die literarischen Referenzen seien ja auch erfrischend. Das schwierige Vater-Sohn-Verhältnis, herrlich, genau wie bei Kafka. Aber keine Verweise auf Schillers Räuber.

»Warum eigentlich nicht?«

Neugierig schaut meine Tante in die Runde. Die Frau gegenüber versteckt den Kopf hinter ihrem Programmheft.

»Vor allem dieses alberne Warzenschwein, dieser Pumba«, fährt meine Tante unbeirrt fort, »war doch ein wenig zu typisiert. Immer nur fröhlich, das ist doch niemand, außer diese Grinsekatze Markus Lanz. Und überhaupt, die moralische Essenz des Stücks, dieses ›Hakuna Matata‹, es gibt keine Probleme: Komisch eigentlich, dass das beim deutschen Publikum so gut ankommt. Dass wir, die wir jahrelang über die sogenannte Flüchtlingskrise gejammert haben, jetzt hier ›Hakuna Matata‹ im Takt mitklatschen – wenn es wenigstens im Takt gewesen wäre! –, ist doch ein wenig albern.«

»Die Fahrkarten bitte.«

Ein sehr großer Mann mit sehr großem Schnauzbart ragt plötzlich neben uns auf. Sein Brummbass erfüllt das Abteil. Ein angeklipptes Namensschild weist ihn als Kontrolleur aus.

Ich zeige meine Monatskarte, das Pärchen zeigt seine Wochenkarte, meine Tante ihr König-der-Löwen-Ticket.

»Die Fahrkarte bitte«, wiederholt der Kontrolleur. »Das ist nur eine Eintrittskarte.« Sein buschiger Schnurrbart wackelt bei jedem Wort.

»Huch«, sagt meine Tante. »Nur eine Eintrittskarte? Na so was. Ich dachte, da sei die Hin- und Rückfahrt mit drin.«

»Nope«, sagt der Kontrolleur.

»Bei der Staatsoper und dem Schauspielhaus ist das Bahnticket aber immer mit drin«, ereifert sich meine Tante. »Ich gehe normalerweise nämlich gar nicht in Musicals. Das populäre Musiktheater ist nicht ganz meine Welt, müssen Sie wissen. Das ist mir ein Tickchen zu unterkomplex. Also wenn Sie dann mal weiterwollen …«, sagt meine Tante und legt den silbergrauen Kopf leicht schräg, auf den Lippen ihr schönstes Jungmädchenlächeln.

»Dann steigen Sie beim nächsten Halt mit aus«, sagt der Kontrolleur. »Dann brauche ich Ihre Personalien.«

»Wie? Was?« Das Lächeln meiner Tante entgleist.

»Sie fahren schwarz«, fasst der Kontrolleur die Sachlage zusammen. »Das macht 60 Euro, plus eine namentliche Registrierung. Strafgesetzbuch, Paragraf 265a.«

»Ich und schwarzfahren?«, entfährt es meiner Tante. »Ich bin noch niemals schwarzgefahren. Ich habe noch nie etwas Illegales getan, außer Antidepressiva rezeptfrei aus Rumänien zu bestellen. Sehe ich etwa aus wie ein Schwarzfahrer? Wenn jemand kein Schwarzfahrer ist, dann ich!«

»Wer sieht denn dann aus wie ein Schwarzfahrer?«, fragt der Kontrolleur.

 

»Na, der da«, sagt meine Tante und zeigt auf einen friedlich dösenden Lederjackenträger einen Vierersitz weiter.

»Oder der«, ihr Zeigefinger weist auf einen jungen Mann mit fettigem Haar und Sporttasche.

So langsam wird die Situation etwas unangenehm.

»Komm, Tantchen, ist schon okay«, zupfe ich sie am Ärmel ihres Boleros. »Kann jedem passieren. Bei der nächsten Station steigen wir …«

»Mein Mann ist Arzt!«, wirft meine Tante argumentativ in die Waagschale.

»Aha«, entgegnet der Kontrolleur und verschränkt die Arme.

»Genau genommen Augenarzt«, verbessert meine Tante. »Mit eigener Praxis. Er praktiziert noch. Wenn Sie mal zu einer Untersuchung vorbeikommen möchten, natürlich kostenlos …«

»Soso«, sagt der Kontrolleur. »Das macht dann 1.500 Euro wegen versuchter Bestechung eines städtischen Mitarbeiters. Paragraf 334«, erklärt der Kontrolleur die veränderte Sachlage.

Meine Tante wird kreidebleich.

»Nur Spaß«, sagt der Kontrolleur. »Aber beim nächsten Halt steigen Sie mit aus. Personalien aufnehmen, 60 Euro Bußgeld, da kommen wir nicht drum herum.«

Meine Tante hockt da, inzwischen nicht mehr ganz so aufrecht, eher in sich zusammengesunken wie eine verletzte Amsel.

Doch dann, wie von einem Marionettenspieler an Schultern und Kopf hochgezogen, richtet sie sich wieder auf. Drückt den Rücken durch, reckt das gepuderte Kinn, fixiert ihren schnauzbärtigen Widerpart und erhebt sich von ihrem Sitz, während die U-Bahn bremst.

»Jetzt hören Sie mir einmal zu«, sagt meine Tante mit bebender Stimme. »Jetzt schauen Sie mich einmal an. Ich bin eine Frau. Ich bin über sechzig. Ich trage handgenähte Pumps. Ich bin das Gegenteil eines klassischen Schwarzfahrers. Ich bin Lehrerin. Pensionierte Gymnasiallehrerin, Deutsch und Latein. Ego in finem!«

Augenlider öffnen sich. Fahrgäste recken die Hälse. Zwei Dutzend Augenpaare sind mittlerweile auf meine Tante gerichtet, gespannt darauf, was kommen mag. Ich ducke mich aus dem Blickfeld und spiele unauffällig an meinem Rucksack.

Der glühende Blick meiner Tante schwenkt wie ein Bühnenscheinwerfer hin und her. Dann reckt sie beide Arme gen Himmel.

»Meine Damen und Herren, sehen Sie mich an, bevor Sie über mich urteilen, ehe ich verdammt werde wie Fräulein Julie, sozial geächtet wie Effi Briest. Ich kann den Erlkönig auswendig. Ich spiele Klarinette. Ich helfe kleinen Igeln über die Straße. Einst, es war letztes Frühjahr, da ging eine arglistige Frau auf mich zu und wollte mir ihre bereits benutzte U-Bahn-Tageskarte weiterverkaufen, aber ich sagte Nein. Ich sagte: Liebe Frau, das ist nicht rechtens, denken Sie an Paragraf …, wie heißt der noch mal?, und ich schritt entschlossen in die Gegenrichtung«, deklamiert meine Tante durchs Abteil und wedelt mit einer Hand durch die Luft, während sie mit der anderen versucht, dem Kontrolleur unauffällig einen Fünfzigeuroschein in die Hand zu schieben, doch vergebens.

»Ich bin eine ehrbare Frau«, ruft meine Tante. »Ich bin belesen, kultiviert, konfirmiert und komplett epiliert. Ich würde nie etwas Böses tun, außer im Bett mit meinem lieben Mann. – Ha, jetzt sind wir vorbeigefahren!«, ruft sie und zeigt auf die Tür, die sich in diesem Moment erneut schließt.

Dann wird ihr Blick wieder ernst.

»Und jetzt, so Gott will, halten Sie über mich Gericht. So sei es.«

Meine Tante gleitet zurück auf ihren Sitz, senkt das Haupt.

»Nu sag doch auch mal was«, knufft sie mir gegen die Schulter.

»Das mit den Igeln stimmt«, nicke ich in die Runde.

»Ich will nicht vorbestraft sein«, bäumt meine Tante sich ein letztes Mal auf. »Ich habe eine Zukunft. Ich brauche eine lupenreine Schufa-Auskunft. Ich brauche diese neue Ferienwohnung auf Föhr!«

Die letzten Worte flüstert sie fast: »Verliere ich jetzt meinen Beamtenstatus?«

»Und Ihre staatliche Beihilfe plus sämtliche überzogenen Pensionsansprüche«, knurrt der Kontrolleur, »wenn Sie Ihre dunkelrot bepinselte Schnute nicht endlich halten und aufhören, mich mit Ihrem Opernglas in den Bauch zu piksen!«

»Ach«, fährt meine Tante hoch, ihre Augen blitzen auf, jetzt ist sie wieder die Alte: »Woher weiß denn überhaupt ein kleiner städtischer Hilfsarbeiter wie Sie, was Beihilfe ist?«

»So viele Staatsdiener, wie hier schwarzfahren, da weiß man das irgendwann«, blafft der Kontrolleur zurück.

»Tantchen«, bemühe ich mich, mediativ einzugreifen, »Tantchen, Hakuna Matata«, versuche ich, die allgemeine Anspannung zu lösen.

»Ach was«, schnaubt sie. »Sein Hakuna Matata kann sich dieses fette Warzenschwein in seinen fellbekränzten Anus stecken!«

So langsam kommt meine Tante richtig in Fahrt. So langsam leuchten ihre Wangen frisch durchblutet.

»Non est bonum«, gellt meine Tante. »Nichts ist in Ordnung, das ist es, in Deutschland, und hier und jetzt! – Haha, schon wieder vorbeigefahren!«

»Ich scheiße auf Ihr Bildungsgeblubber«, verliert der Kontrolleur die Geduld. »Ich bräuchte Ihre Personalien!«

»Brauche, nicht bräuchte«, schrillt meine Tante. »Der fehlerhafte Konjunktiv bringt Ihnen hier gar nichts!«

»Scheiß die Wand an«, dröhnt der Kontrolleur durchs Abteil, dass sämtliche Haltegriffe ins Wanken geraten. »Jetzt schieben Sie gleich Ihren samtverpackten Hintern nach draußen, Sie zahlen und basta. Das hier ist ein Rechtsstaat!«

»Wie viel ein Rechtsstaat wert ist«, höhnt meine Tante, »wissen wir spätestens seit Hamlet. Den Sie vermutlich für ein Möbelstück von Ikea halten. Wissen Sie überhaupt, wer das ist? Wissen Sie, was Schwarzfahren auf Altgriechisch heißt, Sie outgesourcter ÖPNV-Knecht auf freier Mitarbeiterbasis?«, krakeelt meine Tante, wobei sich ihre Stimme dreimal überschlägt.

Wie es ausging, weiß ich nicht, ich bin beim nächsten Halt einfach ausgestiegen. Ich glaube, meine Tante hat es gar nicht bemerkt. Das Letzte, was ich sah, als ich mich auf dem Bahnsteig noch einmal umdrehte und durch die Fenster der wieder anrollenden U-Bahn sah, waren die Funken sprühenden Augen meiner Tante und der gewaltige, zornbebende Schnauzbart des Kontrolleurs.

Ich glaube, es ging noch länger.

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