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Loe katkendit
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»Du sachst ja gar nix«, bemerkte Jansen, der, wie meist, den Wagen lenkte, »was geht dir denn so durch den Kopf?«

Jansen selbst war kein Schnacker und stolz darauf, doch die andauernde Schweigsamkeit seines Kollegen, der sich sonst gern austauschte, schien ihn heute zu irritieren.

»Findest du das eigentlich normal, dass eine so junge Person Brustimplantate trägt?«, fragte Angermüller statt einer Antwort.

»Tscha«, machte Jansen und kaute auf seiner Unterlippe, »hört man ja öfter, dass die Leute sich immer jünger unters Messer legen – und nicht nur die Mädels.«

»Ja, stimmt. Die folgen irgend so einem Körperoptimierungswahn, wollen absolut perfekt sein und lassen einfach korrigieren, was ihnen nicht gefällt. Und wahrscheinlich glauben sie auch noch, mit einer neuen Nase oder einem strafferen Po wären alle Probleme ihres Lebens gelöst.«

»Wenn dat man so einfach wäre. Die sollten uns mal fragen, was, Kollege?«

»Wieso, hast du Probleme?«

»Nee, nur Hunger.«

»Da können wir was gegen tun. Wir sind ja schon in Niendorf. Fahr da mal rein, wo ›Hundestrand‹ auf dem Schild steht«, wies Angermüller seinen Kollegen an und deutete auf die kleine Straße, die rechts abging.

»Na, satt geworden?«

»Gerade so«, grinste Jansen, »nee, war gut der Burger, aber hätte ruhig ’n büschen mehr sein können.«

Angermüller hatte eine Niendorfer Fischsuppe genossen und war damit sehr zufrieden. An dieser recht schlicht aufgemachten Bude, die er vor einiger Zeit entdeckt hatte, schmeckte es ihm besser als in manch einem chic hergerichteten Restaurant.

Sie machten sich auf den Weg zum See, wo sie in der Siedlung neben der Badeanstalt mit ihren Befragungen begannen, allerdings ohne Ergebnis. Wie der Zeuge am Vortag geschildert hatte, standen die meisten Häuser um diese Jahreszeit noch leer, und die wenigen Bewohner, die sie angetroffen hatten, bedauerten, nicht weiterhelfen zu können.

In der Hoffnung auf mehr Erfolg fuhren die Kommissare weiter nach Klingberg, das auf der anderen Seite des Sees lag. Zumindest in dem Teil des hübschen kleinen Ortes, wo die Häuser etwas erhöht an der Uferstraße lagen, hatte man einen freien Blick auf die Badeanstalt am Ufer gegenüber.

Auch hier schienen viele Anwesen nur als Feriendomizile genutzt zu werden und waren momentan unbewohnt. Überall, wo sie bisher die Bewohner angetroffen hatten, äußerte man Bedauern, nicht weiterhelfen zu können. Niemand hatte etwas von einem Feuer bemerkt.

Sie warteten vor der Tür einer kleinen Villa, die wohl aus den 1920ern stammte, und der eine gründliche Restaurierung gutgetan hätte. Das Haus stand auf einem weitläufigen Grundstück in einem etwas verwilderten Garten mit vielen Obstbäumen. Gerade klingelte Jansen ein zweites Mal, da wurde die Tür aufgerissen.

»Wer stört?«

Ein massiger Typ in Jeans und Strickpulli musterte die Beamten missmutig über seine Lesebrille hinweg. Die Kommissare zückten ihre Dienstausweise, und Angermüller sagte zum wiederholten Mal seinen Spruch auf.

»Mein Name ist Angermüller, das ist mein Kollege Jansen. Wir sind von der Kripo Lübeck und würden gern wissen, ob Sie in den letzten Tagen am Pönitzer See etwas Ungewöhnliches beobachtet haben.«

»Ach, zwei echte Kommissare, wie interessant! Was könnte ich denn beobachtet haben?«

Der Mann schaute die beiden mit plötzlichem Interesse an.

»Das wollen wir ja von Ihnen wissen, Herr …«, Angermüller lugte auf das Klingelschild, »Herr Arthur Döpper?«

»Genau. Hat jemand Gift ins Wasser entsorgt? Oder gab’s ein Bootsunglück? Wurde eine Leiche versenkt?«

»Dazu können wir leider nichts sagen«, der Kommissar zeigte zum Hochparterre, »aber Sie haben aus dieser Loggia ja einen perfekten Blick über den See.«

»Aber leider keine Zeit, den ganzen Tag die schöne Aussicht zu genießen.«

»Wie auch immer, haben Sie am gegenüberliegenden Ufer etwas von einem Brand bemerkt, Rauch, Feuer …?«

Nach kurzem Nachdenken verneinte Arthur Döpper mit einem Kopfschütteln und schien auch schon wieder das Interesse an der Unterhaltung verloren zu haben.

»Nee, da kann ich leider nicht mit dienen, meine Herren. Und jetzt entschuldigen Sie mich, ich muss zurück an meinen Schreibtisch.«

Damit wollte er die Haustür schließen, doch Jansen deutete auf die beiden Namenschilder unter der Klingel und fragte schnell:

»Was ist mit diesem Herrn Durand, Ihrem Mitbewohner? Könnten wir den mal sprechen? Vielleicht hat der ja was mitbekommen.«

»Tut mir leid, Alain Durand ist momentan nicht hier. Der ist sowieso eher selten da, hat seinen Hauptwohnsitz in Frankreich. Im Westen, bei Arcachon, wenn Ihnen das was sagt. Also dann, auf Wiedersehen, ich habe zu arbeiten, für Monsieur Durand im Übrigen.«

Er nickte mit einem schiefen Grinsen, das eher überheblich als sympathisch wirkte, und schob die schwere Haustür zu. Erstaunt über das abrupte Ende des Gesprächs sahen Angermüller und Jansen sich an und zogen dann weiter zum Nachbargrundstück, wo hinter einem hohen Zaun ein schickes, modernes Hanghaus mit riesiger Dachterrasse thronte.

»Wohl alle ausgeflogen bei der Familie. Ach so, Familie Bogdanovic«, meinte Jansen, als auf sein Klingeln nichts passierte und sah interessiert zu dem stattlichen Gebäude.

»Du sagst das so, Familie Bogdanovic. Kennst du die?«

»Weiß nicht, keine Ahnung. Ich hatte vor Jahren mal mit einem Bogdanovic zu tun, als ich noch beim Rauschgift war. Von der Terrasse da oben haben die jedenfalls einen Spitzenblick über den See. Schade, dass keiner daheim ist.«

In dem vollkommen von Efeu überwucherten Häuschen nebenan wurde, kaum, dass Angermüller den Klingelknopf betätigt hatte, über dem »Eleonora Dose« auf einem getöpferten Schild stand, sofort die Tür geöffnet.

»Ach, da sind Sie ja. Immer rin in die gute Stube«, forderte sie eine Frau mit langem weißem Haar auf. Sie trug einen auffällig gemusterten Kaftan und um den Hals eine mächtige Glasperlenkette. Es war Angermüller sofort klar, dass sie nicht die Kommissare erwartet hatte, und er zückte seinen Ausweis, auf den sie einen verdutzten Blick warf.

»Kriminalpolizei?«

»Frau Dose, nehme ich an? Mein Name ist …«

»Sind Sie nicht wegen des Interviews hier?« unterbrach sie ihn. »Ich erwarte nämlich ein paar Journalisten, die über meine Forschungen zur Geschichte von Klingberg berichten wollen. Sicher wissen auch Sie nicht, dass unser Ort Anfang des letzten Jahrhunderts als eine Siedlung von Freidenkern entstanden ist. Vegetarismus, Nudismus, organische Architektur, Reformpädagogik – all das hat es hier gegeben, bis dann …«

»Das hört sich sehr interessant an, Frau Dose, aber wir sind wegen anderen Ermittlungen unterwegs und haben nur eine kurze Frage: Haben Sie in den letzten Tagen um den Pönitzer See etwas Auffälliges bemerkt, zum Beispiel ein Feuer, ungewöhnliche Rauchentwicklung?«

»Nichts, gar nichts«, bedauerte Frau Dose. »Ich war zwar fast die ganze Zeit zu Hause, aber so mit meinen Studien beschäftigt, da vergesse ich alles um mich herum, wissen Sie.«

»Dann entschuldigen Sie bitte die Störung. Wiedersehen, Frau Dose«, verabschiedete sich Angermüller.

»Kein Problem. Ja, Wiedersehen, und falls Sie mal das letzte Originalgebäude aus Klingbergs Gründerjahren sehen wollen: Unser sehr reger Kulturverein ist in der Kleinen Waldschänke untergebracht, einfach auf der Seestraße ein paar 100 Meter rechts.«

Mit einem kurzen Winken verschwand Frau Dose hinter ihrer Tür.

»Mann, die konnte ja schnacken«, kommentierte Jansen leicht ermattet, als sie wieder auf die Straße traten.

»Aber war doch ganz interessant. Wusstest du, dass Klingberg mal ein Hort von Freigeistern war? Ich nicht.«

»Nee, ich auch nicht. Aber das bringt doch alles nix hier, wir verdaddeln nur unsere Zeit.«

»Na komm, ein paar Versuche noch.«

»Du kannst manchmal aber auch ’n echter Sturkopp sein!«

Jansens Laune ging immer weiter in den Keller, als sie im Haus nebenan niemanden antrafen und die Bewohner des nächsten wieder nichts mitbekommen hatten.

Ein Van fuhr in den Carport auf dem Nachbargrundstück, die Hintertüren sprangen auf, und drei Jungs rannten lärmend auf die Haustür zu.

»Hey, das geht ja wohl gar nicht! Könnt ihr mal was tragen helfen, ihr Faulbären?«, rief eine junge Frau und stieg aus der Fahrertür. Mit lautem Geheul stürmte die Truppe zurück und stürzte sich auf den Kofferraum.

»Moment! Lino, nimmst du bitte die Tüte mit den Brötchen und Levi die mit den Äpfeln. Leon, mein Großer, du trägst die Limoflaschen. So, Abmarsch!«

»Guten Tag, Sie wohnen hier?«

»Ja«, antwortete zögerlich die Mutter der munteren Kids.

»Entschuldigen Sie …« Angermüller zeigte den Dienstausweis, stellte Jansen und sich vor und stellte ihr die Frage nach Beobachtungen rund um den See. Auch sie schüttelte nach kurzem Nachdenken den Kopf.

»Tut mir leid, da kann ich nicht helfen.«

»Mama, Mama«, rief aufgeregt der älteste, vielleicht zehn Jahre alte Junge, der nicht seinen Brüdern zum Haus gefolgt war und die Frage der Kommissare gehört hatte.

»Ich hab was gesehen, Mama!«

»Was hast du denn schon wieder gesehen, Leon?«, fragte seine Mutter und verdrehte die Augen.

»Wissen Sie, der Leon ist ein sehr fantasiebegabtes Kind und erzählt oft richtig spannende Geschichten«, wandte sie sich an Angermüller und Jansen.

»Ich hab aber ehrlich was gesehen, Mama!«, beharrte der Sohn, sichtlich wütend und enttäuscht von der Reaktion seiner Mutter.

»Verrätst du mir, was du gesehen hast, Leon?«

Das Kind tat Angermüller leid, und außerdem fand er es alt genug, um Beobachtungen genau wiederzugeben.

 

»Ich habe ein Feuer gesehen«, Leon stockte, »nein, eigentlich kein Feuer …«

»Leon!«

Seine Mutter machte eine ungeduldige Geste.

»Ich habe Rauch gesehen am See. Da drüben habe ich Rauch gesehen.«

Zumindest deutete der Junge in die richtige Richtung.

»Und wann war das?«, wollte Angermüller wissen, »gestern, oder am Montag oder Dienstag?«

Leon schaute erst ein wenig ratlos, die Mutter war schon wieder genervt.

»Jetzt weiß ich, das war mit Papa, als der uns zurückgebracht hat! Und Papa hat das auch gesehen, kannst ihn ja fragen.«

»Dann war das am Dienstag, da hat mein Mann die Kinder am frühen Abend hier abgeliefert. Zu spät natürlich, wie immer. Wir leben nämlich getrennt.«

»Könnten Sie uns Namen, Adresse und Telefonnummer Ihres Mannes geben?«

»Klar.«

Die Frau diktierte Jansen die Kontaktdaten, die Polizisten bedankten sich bei Leon, der mit großen Ohren neben seiner Mutter stehen geblieben war. Der Stolz des Jungen war nicht zu übersehen. Aufrecht und gemessenen Schrittes ging er in Richtung Haustür, wo ihn seine kleinen Brüder neugierig erwarteten.

Kapitel IV

Die Kaffeearomen waren überwältigend. Vicky hatte mit der Bestellung auf Mia warten wollen, doch wie immer kam ihre Mutter nicht pünktlich. Und so saß sie nun allein in der Rösterei vor ihrem kunstvoll dekorierten Milchkaffee, löffelte genüsslich von dem sahnigen Schaum und sah hinaus auf die Hüxstraße.

Freitags hatte sie keinen Dienst in dem Café des sozialen Projekts, wo sie im Rahmen ihrer Ausbildung Menschen mit Behinderung begleitete, die den Laden so eigenständig wie möglich betrieben. Eigentlich aber hatte sie den freien Tag nutzen und für ihre Prüfung lernen wollen. Als Mia frühmorgens angerufen hatte, war Vicky aber schon am Klang der Stimme klar, dass ihre Mutter sich in einem emotionalen Ausnahmezustand befand. Und ebenso klar war, dass ihr Idiot von Ehemann ihr nicht helfen konnte. Wahrscheinlich bekam er es nicht einmal mit. Also hatte sich Vicky notgedrungen mit ihrer Mutter für den späten Vormittag verabredet. Eine kleine Pause würde ihr beim Lernen vielleicht auch gut tun.

Inzwischen hatte sie ihren Kaffee schon halb ausgetrunken, als Mia auf dem Gehsteig gegenüber auftauchte. Mit ihrem geröteten Gesicht sah sie abgehetzt aus, von Fröhlichkeit keine Spur. Doch kaum entdeckte Mia ihre Tochter im Café, winkte sie ihr munter zu und setzte die vergnügte Miene auf, die alle Leute denken ließ, sie sei so ein wahnsinnig lustiger, unkomplizierter Mensch.

»Grüß dich, Vicky. Prima, dass du Zeit hast.«

»Hallo, Mia.«

Mia schälte sich aus ihrer Jacke, wickelte den lebhaft bunten Schal vom Hals und setzte sich ihr gegenüber, strahlend. Während sie sich neugierig in dem in einer liebevollen Mischung aus Alt und Neu eingerichteten Kaffeehaus umsah, tätschelte sie Vickys Hand.

»Ich find das richtig schön, nur wir zwei Hübschen in einem schicken Café! Du bist natürlich eingeladen.«

Sie griff nach der Karte.

»Was nehme ich denn mal? Weißt du schon, was du möchtest?«

Was war ihre Mutter doch für eine schlechte Schauspielerin. Es war so typisch, dass sie erst einmal auf eitel Sonnenschein machte – vielleicht merkte ja keiner, wie es in Wahrheit um sie stand.

»Ich möchte eines von den Panini, das mit Ziegenkäse und Gemüse«, verkündete Vicky, »und noch einen Milchkaffee.«

Mia winkte die Kellnerin heran, gab das Panino in Auftrag und bestellte für sich ein Croissant und einen handgefilterten Kaffee.

»Ich habe ja heute früh schon mit Ralf gefrühstückt und außerdem …«, sie tätschelte die kleine Wölbung ihres Bauchs und verzog das Gesicht. Ja, dachte Vicky, sie hat über den Winter wohl wieder zugenommen. Mia war eine begeisterte Köchin und Bäckerin, liebte aber mindestens ebenso das Essen und Genießen. In Vickys Erinnerung kämpfte ihre Mutter schon immer gegen zu viele Pfunde, versuchte die abartigsten Diäten mit wechselndem Erfolg, war total glücklich, wenn sie endlich ein paar Kilos verloren hatte, begann, wieder ihre Lieblingsspeisen zu kochen und zu essen, und alles ging wieder von vorne los.

»Na, wie geht’s dir, mein Kind?«

»Gut.«

»Ach, Vicky, erzähl doch mal ein bisschen. Was treibst du so?« »Im Moment lerne ich vor allem für meine Prüfung, hab ich doch neulich schon gesagt.«

Mia nahm normalerweise keinen großen Anteil an Vickys Leben, im Gegensatz zu dem ihrer anderen Tochter. Früher hatte Vicky darunter gelitten. Inzwischen war es ihr egal. Ihre Mutter vergötterte Karoline, und die behandelte sie wie ihre Haushälterin, was Mia nicht zu stören schien. Wenn sie aber Probleme oder Sorgen hatte, meldete die Mutter sich bei Vicky.

»Was bist du für ein fleißiges Kind!«

Mehr hatte Mia dazu nicht zu sagen, keine Fragen nach Vickys Arbeit, ob sie damit zufrieden war, was sie sich wohl von ihrer Ausbildung versprach.

»Stell dir vor, gestern hat mich Frau Behrens angerufen«, erzählte sie stattdessen. Frau Behrens war die Besitzerin des Cafés am See, für das Mia während der Saison arbeitete, köstliche Torten und anderes buk und manchmal auch im Service aushalf.

»Frau Behrens möchte sich zurückziehen, sie wird 70 und findet, sie hat genug gearbeitet. Und jetzt hat sie mich gefragt, ob ich das Café übernehmen will!«

»Und, willst du?«

Vielleicht würde es Mia ja guttun, Verantwortung zu tragen, vor allem auch, um wieder mehr Selbstbewusstsein zu entwickeln, überlegte Vicky.

»Ja, ich hätte große Lust dazu. Natürlich müsste das mit der Finanzierung geklärt werden, aber Frau Behrens hat mir ein sehr günstiges Angebot gemacht. Ich könnte den Preis sogar in Raten zahlen …«, Mia stockte kurz, »aber Ralf ist dagegen.«

»Das hätte ich mir ja denken können«, murmelte Vicky erbost, »und nun machst du es nicht?«

»Wahrscheinlich nicht. Wenn Ralf recht behält und irgendwas dabei schiefgeht …«

Dieser Mann schaffte es, Mia schon im Vorhinein sämtlichen Mut und Elan zu nehmen, sodass sie sich gar nichts mehr zutraute.

»Na ja, ich hab ja noch Zeit, darüber nachzudenken.«

»Ja, mach das. Wenn das finanziell irgendwie zu stemmen ist, fände ich das ganz toll für dich.«

Das zustimmende Nicken ihrer Mutter fiel nicht sehr überzeugt aus. Eine Kellnerin servierte ihre Bestellungen. Mia schnüffelte anerkennend an ihrem Filterkaffee.

»Oh, der duftet aber gut!«

Und wechselte das Thema.

»Hat sich deine Schwester inzwischen bei dir gemeldet?«

Hatte Vicky es doch gewusst. Karolines Ausbleiben war der eigentliche Anlass für dieses Treffen.

»Bei mir? Bei mir meldet sie sich doch nie.«

»Mein Gott, aber ich hab auch noch nichts von ihr gehört«, seufzte Mia, »ich mach mir solche Sorgen!«

»Eigentlich müsstest du inzwischen wissen, wie Karoline ist. Das ist doch schon öfter vorgekommen, vor allem seit sie mehr unterwegs ist für ihr Modezeugs«, erklärte Vicky leicht gereizt und nicht zum ersten Mal. Es wäre ja auch zu schön gewesen, sie hätten mal nicht über ihre Schwester gesprochen. Mia kramte ein Taschentuch heraus. Sie schien den Tränen nahe. Als Vicky das bemerkte, begann sie, den Arm ihrer Mutter zu streicheln.

»Die kommt schon wieder, bestimmt«, versuchte sie zu trösten. Im Grunde hasste sie diese Rolle. Eigentlich müsste es umgekehrt sein, die Mutter tröstet das Kind. Doch das hatte Vicky fast nie erlebt. Sie war zwar die Jüngere, aber Mias ganze Zuwendung hatte stets Karoline gegolten. Vicky musste immer um Aufmerksamkeit kämpfen, durfte vernünftig sein, unterstützen, trösten, einfach, weil alle sie für so stark hielten.

Ihre Mutter schluckte ein paar Mal, dann sagte sie:

»Ich erzähle dir jetzt was, aber du musst mir versprechen, dass deine Schwester nicht erfährt, dass ich mit dir darüber gesprochen habe!«

»Ich schwöre.«

»Karoline geht es in letzter Zeit nicht so gut. Das hat Hardy neulich auch gesagt. Ich glaube, ihr bekommt das Alleinleben nicht.«

So ein Quatsch, dachte Vicky sofort und kaute an einem Bissen von ihrem Panino. Sie erinnerte sich noch sehr gut, wie Karoline letzte Weihnachten geschwärmt hatte, wie froh sie war, sich getrennt zu haben, und wie sehr sie seither das Alleinleben genieße, erst recht, seit sie in die neue Wohnung gezogen war.

»Also, soweit ich das weiß, hat Karoline doch damals selbst ihren Freund aus der Wohnung geschmissen«, stellte Vicky fest, »ich meine, über ihre aktuelle Situation weiß ich nichts, aber bisher hat sie die meisten ihrer Beziehungen doch von sich aus beendet. Wieso eigentlich Hardy?«

»Ja, ich weiß. Das waren eben alles nicht die richtigen Partner für sie«, meinte Mia bekümmert. »Ach ja, der Hardy! Der würde so gut zu ihr passen. Aber sie sind und bleiben nur gute Freunde, sagen alle beide.«

»Haben die denn noch Kontakt?«

Vicky hatte Hardy schon seit Langem nicht gesehen. Er war in Kinderzeiten Karolines bester Freund gewesen, und ihre große Schwester hatte Vicky, »das Baby«, von ihren Spielen meist ausgeschlossen. Rollenspiele mit ihr selbst als Heldin waren Karolines Leidenschaft – sie als Heidi, Hardy der Geißenpeter, sie Arielle, er Prinz Erik – und für Vicky fielen immer nur undankbare Nebenrollen ab, wenn überhaupt. Auch wenn Hardy drei Jahre älter war, er hätte sie bestimmt mitspielen lassen, war Vicky überzeugt, denn er war ein ausgesprochen netter Junge – eigentlich viel zu nett für ihre Schwester.

»Ja, sie sehen sich wohl hin und wieder noch. Ab und zu ruft Hardy auch bei mir an, fragt, ob er irgendwas helfen kann. Ist doch nett, oder? Auf jeden Fall meldet er sich immer an meinem Geburtstag, eine treue Seele. Er hat sogar schon einmal Blumen vorbeigebracht.«

»War es das, worüber du mit niemandem reden solltest?«

»Ach, natürlich nicht. Das war was anderes, was Schlimmes …«

Mia holte tief Luft, als ob sie Mut brauchte, um das folgende auszusprechen.

»Karoline macht seit Anfang des Jahres eine Therapie, aber davon soll niemand was wissen.«

»Aber Mia, was ist daran denn schlimm? Aus einer Therapie muss man auch kein Geheimnis machen. Es ist doch gut, wenn es jemanden gibt, der einem aus einer schwierigen persönlichen Lage heraushelfen kann.«

»Aber Tonya …«

»Meine Schwester heißt Karoline«, korrigierte Vicky ungehalten.

»Karoline will eben nicht, dass jemand davon erfährt. Also bitte, sag ihr auf keinen Fall, dass ich es dir erzählt habe!«

Vicky verdrehte die Augen.

»Okay. Weißt du etwas über ihren Therapeuten?«

»Sie geht zu einer Frau Doktor Hardhaus, Hardinghaus oder so, irgendwo an der Musterbahn. Und sie hat gesagt, das tut ihr gut.«

Vicky war nicht direkt überrascht, dass ihre Schwester eine Therapie machte. Überraschend fand sie höchstens, dass Karoline erst jetzt Probleme mit ihrem öffentlich ausgestellten Leben bekommen hatte, über das man ganz leicht die Kontrolle verlieren konnte. Sie schaute ihre Mutter fragend an.

»Und warum bist du dann so besorgt?«

Einen Moment druckste Mia herum, bevor sie gestand:

»Ich hab halt Angst, dass sie sich was angetan haben könnte. Es ging ihr wirklich sehr schlecht.«

»Ach, Mia, doch nicht Karoline! Und wenn sie sich psychologische Hilfe gesucht hat, dann ist sie ja schon auf einem guten Weg. Und ich wette, spätestens morgen zu deinem Geburtstag ist sie da!«

»So, die Kriminaltechnik ist auch eingetroffen, dann können wir gleich anfangen. Guten Morgen zusammen«, eröffnete Angermüller die Morgenlage des K1.

Undeutliches Gemurmel kam aus der kleinen Gruppe, Ameise, der gerade erst zur Tür hereingehetzt war, ließ sich fluchend auf einen Stuhl in der hintersten Reihe fallen, während Harald Appels, der Leitende Kriminaldirektor, absichtlich laut als Einziger mit einem korrekten »Guten Morgen« antwortete. Nachdem er kurz etwas in sein iPad getippt hatte, schaute er aufmerksam wie ein Musterschüler zu Angermüller.

»Also vorgestern, am Mittwochnachmittag, entdeckte ein Hundebesitzer aus der Ferienhaussiedlung nebenan kurz nach 15 Uhr eine Brandleiche im Strandbad am Pönitzer See«, begann Angermüller, während Mehmet Grempel mit dem Beamer an der Wand Fotos des Fundortes mit dem teilverkohlten Körper aufflammen ließ.

»Bisher wissen wir nur, dass die Verbrennung der Leiche mit ziemlicher Sicherheit am späten Nachmittag, frühen Abend des Dienstag stattgefunden haben muss. Zeugen haben um die Zeit am Seeufer Rauch gesehen.«

 

Die Aussage des aufmerksamen Jungen aus Klingberg hatten sich die Kommissare noch am Donnerstag durch seinen Vater bestätigen lassen. Ja, Leon hatte am Dienstag als Erster und scheinbar Einziger die schmale Rauchsäule am anderen Ufer bemerkt und wäre am liebsten sofort zu der Stelle gefahren, da er vermutete, Indianer würden Rauchzeichen senden. Es war zwischen 16 und 17 am Nachmittag. Doch da sie ohnehin schon spät dran waren, wollte der Vater seine Söhne so schnell wie möglich bei seiner Frau abliefern, um Ärger zu vermeiden, und hatte Leons Wunsch abschlägig beschieden.

»Durch die Verbrennung der Leiche konnte die Rechtsmedizin den Todeszeitpunkt nicht mehr feststellen, wie im Bericht ausführlich begründet wird. Wir wissen also nur, dass sie mindestens seit Dienstag dort lag.«

Angermüller legte den Bericht beiseite und sah in die Runde.

»Leider werden unsere Ermittlungen dadurch weiter erschwert, dass es in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch sehr stark geregnet hat, das heißt, es gibt keine gesicherten Erkenntnisse, ob der Fundort auch der Tatort ist. Andreas, berichtest du bitte mal«, forderte Angermüller den Kriminaltechniker auf.

»Da gibt’s nix zu berichten«, beschwerte sich Ameise, als ob er einen der Anwesenden dafür verantwortlich machen wollte.

»Der Regen hat den Boden komplett aufgeweicht, weder Tritt- noch Schleifspuren waren auszumachen. Wir haben Zigarettenkippen eingesammelt und mehrere Verpackungen einer Sorte Schokoriegel. Mehmet war gestern noch einmal vor Ort und hat nichts Nennenswertes mehr entdeckt. Und auf den eingesammelten Fundstücken haben wir keine verwertbaren Spuren gefunden. Ist sowieso die Frage, ob sie überhaupt vom Täter stammen, da weder Kleidung noch sonstige persönliche Gegenstände in der Umgebung auszumachen waren. Der Mehmet hatte bei unserer ersten Inaugenscheinnahme nur so einen Verschluss entdeckt, wahrscheinlich von einem Kanister …«

Das Foto eines runden schwarzen Plastikverschlusses erschien an der Wand.

»Genau. Der könnte was mit der Tat zu tun haben, wie gesagt, könnte. Schon mal, weil es darauf gar keine Fingerabdrücke gibt. Ich habe ihn zum Brandsachverständigenteam zum LKA nach Kiel geschickt. Wenn überhaupt, dann können die ermitteln, ob und wenn ja, welcher Brandbeschleuniger sich in dem zugehörigen Kanister befunden hat.«

»Danke, Mehmet«, nickte der Kommissar, »die Obduktion hat ergeben, dass es sich bei dem Opfer um eine Frau handelt, 20, 21 Jahre alt, schlank, einen Meter 75 groß. Die Todesursache sind mehrere heftige Schläge mit einem harten, kantigen Gegenstand gegen den Hinterkopf.«

Mehmet untermauerte Angermüllers Ausführungen mit entsprechenden Aufnahmen der grausigen Details. Die Kollegen, auch Anja-Lena, die Jüngste im Team und einzige Frau, nahmen sie mit professionell unbewegten Mienen zur Kenntnis. Wie es dahinter aussah, ging keinen was an. Sie alle hatten im Job schon viele brutale Dinge ertragen müssen und jeder auf seine Art trainiert, damit umzugehen.

»Bis auf die Zeugen des Brandes hat niemand etwas von den Vorgängen am See bemerkt«, fuhr Angermüller fort.

»Anja-Lena und Thomas, ihr hattet euch die Datei der Vermissten und unbekannten Toten vorgenommen. Was gefunden?«

Niemann, der penible Aktenführer mit seinem phänomenalen Gedächtnis, schüttelte bedauernd den Kopf, genau wie Anja-Lena, die in diesem Fall mit ihm zusammenarbeitete.

»Wir haben wirklich gründlich geforscht, aber es haperte dann immer wieder an bestimmten Details, sodass sich kein einziges Match von unserem Opfer mit einer der vermissten Personen ergab, tut mir leid.«

»Dann hoffen wir mal auf unsere letzte Chance für eine schnelle Identifizierung. Das Opfer trug nämlich Brustimplantate.«

Ein Bild des verkohlten Brustkorbs mit den angeschmolzenen Kunststoffteilen erschien an der Wand.

»Auf dem einen Exemplar war die Seriennummer noch gut sichtbar.«

Ein leiser Pfiff ertönte aus der hinteren Stuhlreihe. Angermüller unterbrach sich und warf einen genervten Blick zu Ameise, der lüstern grienend mit seinen Händen zwei riesige Brüste vor seinem Oberkörper formte. Die Kollegen schüttelten unwillig die Köpfe, keiner lachte.

»Ich glaube, du bist irgendwie in der Pubertät stecken geblieben, Andreas, wenn dich nur die Erwähnung von Brustimplantaten dermaßen in Erregung versetzt«, kommentierte Angermüller ärgerlich, was bei Ameise nur ein Schulterzucken hervorrief.

»Staatsanwalt Lüthge hat schon vorgestern alles in die Wege geleitet, um möglichst schnell eine richterliche Anordnung für die Herausgabe der Daten durch die operierende Klinik zu erhalten. Damit können wir das Opfer sofort identifizieren.«

Mit besorgter Miene erhob sich der Behördenchef.

»Dann hoffen wir mal, dass wir bald Kontakt zu der Klinik bekommen, damit wir zügig an die Aufklärung gehen können.«

Wieder nett formuliert, dachte Angermüller, der wusste, wie seine Leute diesen Spruch hassten, denn der Einzige im Raum, der wenig bis gar nichts zur Aufklärung beitrug, war Harald Appels.

»Hat die Presse schon Wind von dem Fall bekommen?«, erkundigte der sich noch.

»Nicht, dass ich wüsste«, gab Angermüller Auskunft, »und ich hoffe, das bleibt auch noch eine Weile so.«

Nicht zuletzt wegen seines Chefs hoffte er das. Sobald ein spektakulärer Fall in den Medien landete, wollte Appels der Presse Erfolgsmeldungen liefern. In der Folge setzte er seine Leute ständig unter Druck, was sich eher negativ auswirkte, und manchmal musste man ihn sogar energisch daran hindern, mit seinen geschwätzigen Pressekonferenzen die Ermittlungsarbeit der ganzen Truppe zu torpedieren.

»Okay, Angermüller, du hältst mich auf dem Laufenden. Also, erfolgreichen Tag allerseits, ich muss weiter, Telefonkonferenz …«

Geschäftig eilte der Kriminaldirektor davon.

»Jaja, ist alles total wichtig, was der macht.«

Jansen schnitt eine Grimasse.

»Das war’s fürs Erste. Sobald wir die Personendaten des Opfers aus der Klinik haben, können wir hoffentlich richtig loslegen«, löste Angermüller das Treffen auf.

»Hier, aus der Heimat, wollte ich dir eigentlich schon gestern geben.«

Mehmet Grempel überreichte dem Kommissar eine kleine Papiertragetasche. Angermüller schaute neugierig hinein und beförderte zwei Päckchen in Plastikfolie eingeschweißte Coburger Bratwürste nach draußen.

»Hey, vielen Dank, das ist ja nett von dir. Hab ich seit dem letzten Sommer nicht mehr gegessen.«

»Wusste doch, dass du bestimmt schon Entzugserscheinungen hast«, grinste Mehmet. »Dann wünsch ich dir guten Hunger. Tschüs.«

Diese Bratwürste gab es nur in seiner oberfränkischen Heimat. Dort waberten weithin sichtbar die Duftwolken über den Marktplatz, wo die Spezialität in einer kleinen Bude über offenem Feuer auf Kiefernzapfen zubereitet wurde. Sie hatte einen ganz eigenen, köstlichen Geschmack, und Angermüller freute sich schon darauf. Allerdings drängten sich ihm beim Anblick der schlanken, auf dem Rost gebratenen Würste mit den schwarzen Bratspuren plötzlich ganz andere Bilder auf. Schnell schob er die Päckchen zurück in die Papiertüte und hoffte, die heimatliche Köstlichkeit irgendwann ohne makabres Kopfkino genießen zu können.

»So, ich muss dann los, was besorgen. Soll ich dir was zum Mittagessen mitbringen?«, fragte Angermüller seinen Kollegen, als sie wieder in ihren Büros saßen.

»Nee danke, ich wollte heute mal wieder einen Selbstversuch in der Kantine starten.«

»Du bist ja mutig! Dann wünsch ich gutes Überleben. Und wenn die Klinik sich wegen der Implantationsdaten melden sollte, ruf mich an.«

»Du bist mal wieder ein unverbesserlicher Optimist. Ich glaub nicht, dass wir da heute noch was erfahren.«

»Positiv denken, Claus! Spätestens am frühen Nachmittag bin ich zurück, ciao.«

Von seiner Dienststelle in der Possehlstraße bis zu der kleinen Straße hinterm Burgfeld benötigte Georg mit dem Fahrrad eine gute Viertelstunde. Dabei konnte er über sein Vorhaben nachdenken, seine privaten Dinge endlich wieder geradezurücken. Seit mehr als einer Woche hatten Derya und er sich nicht gesehen und kaum miteinander telefoniert.

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