Auf der Suche nach Wärme

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Kapitel 8

Das erste, woran ich mich erinnern kann, wenn ich an Anna denke, ist ihr Lächeln über beide Backen mit nur der Hälfte der Zähne im Mund. Sie sah zum Kreischen aus, aber ich war damals schon neidisch auf sie, da ich noch fast alle Milchzähne hatte. Wir müssen damals knapp 6 Jahre alt gewesen sein, denn die Schuleinführung war die erste Familienfeier, die wir gemeinsam verbrachten.

Anna ist meine Halbschwester, was wir jedoch erst viele Jahre später erfahren sollten.

Sie war über Jahre "nur" das Nachbarskind. Da das Durchschnittsalter in der Burgunderstraße jedoch bei mindestens 50 lag, war sie schon früh meine beste Freundin. Wir haben alles zusammen gemacht. Wir haben uns morgens getroffen und uns abends schweren Herzens getrennt, aber selbst dann haben wir uns mit Lichtzeichen noch einander zu verstehen gegeben, dass wir aneinander dachten. Wir waren unzertrennlich. Und auch nach Annas Einzug bei uns sollte sich daran überraschenderweise nichts ändern.

Antonio – Annas Vater – war mit Anna in die Burgunderstraße gezogen, als sie noch ein Kleinkind war. Er war alleinerziehend und vielleicht war es genau das, was mich von Anfang an mit Anna verband. Auch sie hatte nur ein Elternteil. Mein Vater ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als ich noch keine 2 Jahre alt war. Von Erzählungen und Bildern weiß ich, dass wir einander sehr nahestanden, doch persönliche Erinnerungen habe ich an diesen -mir auf wundersame Weise- so vertrauten Mann keine. Ich denke heute nicht mehr über den Verlust nach, aber wandern meine Gedanken zu ihm, so schmerzt Sehnsucht in meiner Brust.

Hatte ich -wenn auch nicht immer- meine Mutter an meiner Seite, so hatte Anna den Gegenpart eines Vaters.

Ich wusste von meiner Mutter. Es gab sie. Aber sie beehrte uns nur selten mit ihrer Anwesenheit. Ich liebte Anna, aber ihr Glück schürte meine Eifersucht. Während ich nicht nur Vater, sondern oft auch Mutter entbehren musste, spielte Antonio mit Anna im Garten. Ich beobachtete sie oft mit Tränen in den Augen. Noch heute habe ich das Bild vor Augen, wie sie im Rasen tollen und er sie mit Küssen übersät. Ich weiß noch, wie ich mir damals gewünscht habe, in ihrer Haut zu stecken.

Antonio und Anna halten sehr regelmäßigen Kontakt, wenn er auch nicht mehr vor Ort ist. Zu ihrem 6. Geburtstag musste er damals wegziehen.

Er arbeitete im Bergbau und das Werk, in welchem er arbeitete, wurde stillgelegt.

Nun war es für ihn an der Zeit anderweitig Arbeit zu suchen. Er war kräftig und leistete im Bergwerk gute Arbeit, was ihm dort schnelles Geld einbrachte. Allerdings hatte er fachlich keine anderen Fähigkeiten erworben, die ihm eine andere Arbeitsstelle ermöglicht hätten. So war er gezwungen, den anderen Bergbauarbeitern zu folgen zu deren - und nun auch seinem - nächsten Abtragungsort.

Aber er konnte nicht für sie sorgen. Er hatte lange Schichten vor sich, die ihm körperlich alles abverlangten. Er wäre physisch geschweige denn psychisch in der Lage dazu gewesen, sein Mädchen auf ihrem Weg in die Pubertät zu leiten. Und er - wie auch meine Familie- wussten damals schon, dass Annas Wurzeln nicht nur bei ihm, sondern ebenso in der Familie Thaler lagen. Meiner - und nun auch „unserer“ - Familie.

Für uns Mädchen war es damals nicht sonderlich abnormal, dass Anna zu uns zog; auch wenn wir von unserer Verwandtschaft damals noch nichts ahnten.

Natürlich war es für sie sehr hart, ihren Vater ziehen zu sehen, aber sie verstand, dass er nicht die Zeit noch das Wissen hatte, alleinig für sie zu sorgen. Und sie verbrachte ohnehin die halbe Kindheit mehr in unserem Hause als irgendwo anders.

Ich mochte sie, sie mochte mich und Oma Erna mochte sie auch. Also gab es für uns damals keinen Grund, warum sie nicht zu uns ziehen sollte.

Erst mit 12 Jahren sollten wir den wahren Grund ihres Einzugs erfahren.

Meine Mutter überraschte uns mit einem Besuch.

Meine Mutter ist ein freiheitsliebender Mensch, was bedeutet, dass sie nahezu ihr ganzes Leben auf Reisen war und ist. Sie hat nicht viel von meiner oder Annas Kindheit erlebt, ich habe sie nur ab und an gesehen. Dennoch habe ich nie bösartige Gefühle gegen sie gehegt. Sie war mir nicht sonderlich nahe, ich kann gewiss nicht von mütterlichen Gefühlen sprechen, aber sie war wie eine entfernt Verwandte, über deren Besuch sich doch jeder freute; wie eine Freundin, mit der man auch das ein- oder andere Geheimnis teilt, die aber - sowie aus den Augen - auch aus dem Sinn ist.

Vielleicht habe ich auch deswegen die bösartigen Gefühle gegen meine Mutter gehegt, weil mir die Familie vor Ort alles gab und gibt, was ich brauche.

Oma Erna ist meine Welt. Sie hat mich und später auch Anna mit einer Liebe großgezogen, die für fünf reichte. Sie hat uns mit Großmut, Großherzigkeit und dem richtigen Maß an Strenge, was zwei Pubertierende ab und an benötigen, erzogen.

Sie ist mein Vorbild und ich werde ihr auf ewig dankbar sein.

Und auch meine Tanten, die ebenfalls in der Burgunderstraße wohnten, waren herzlich und liebend, wenn auch fürchterlich geschwätzig.

Dadurch wogen sie die fehlende Liebe, die man aufgrund der Abwesenheit meiner Mutter - und des Vaters - vermuten würde, auf, und ich hatte nie das Gefühl, dass es mir an etwas gefehlt hat.

An dem Tag ihres Besuches kam es zu einem großen Streit zwischen Oma Erna und meiner Mutter. Wir hatten gerade gemeinsam Kaffee getrunken, Tante Hanna und Helene waren sofort vorbeigekommen als sie von der Ankunft meiner Mutter hörten. Während die beiden es sich am Kaffeetisch gemütlich gemacht haben mussten, waren meine Mutter und Oma Erna wohl in die Küche gegangen, um das Geschirr zu spülen.

Und - wie so oft - schienen sich in der Küche die intimsten Gespräche entwickelt zu haben.

Unser Haus ist nicht sonderlich hellhörig und Anna und ich waren zum Spielen nach oben in unser Zimmer gegangen. Da dieses jedoch genau über der Küche lag, hörten wir jede einzelne Anschuldigung mit.

" Verdammt nochmal, Karin, jetzt sei doch nicht so egoistisch. Ich verstehe ja, dass du es loswerden willst, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt. Die beiden stehen kurz vor den Zeugnissen und müssen in dem ein- oder anderen Fach noch ziemlich das Ruder rumreißen. Und Anna hatte erst gestern einen heftigen Streit mit einer Klassenkameradin, der ihr noch immer tief in den Knochen sitzt. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt"

"Mutti, ich bin 600 km gereist, um meinen beiden endlich die Wahrheit zu sagen. Sie haben ein Recht darauf, es zu erfahren. Ich bin mir sicher, dass es keine zusätzliche Belastung für sie wird. Es wird eine Erlösung v.a. für Anna sein, endlich zu erfahren, wer ihre Mutter ist; wenn sie nicht mehr grübeln muss"

"Du hast Recht. Sie HABEN ein Recht auf die Wahrheit. Aber zum Teufel nochmal nicht jetzt. Es WIRD eine Erlösung sein für Anna, zu wissen, wer ihre Mutter ist, aber auch nur dann, wenn sie die Gelegenheit bekommt, ihre Mutter wahrlich kennenzulernen und nicht, wenn sie nach wenigen Tagen wieder abfährt. SAGE ihr nicht nur, dass du ihre Mutter bist, sondern SEI ihr eine Mutter. BEIDEN! Nur dann ist die Wahrheit wirklich eine Erlösung. Maria ist stark - sie kann gut damit um, aber für Anna wäre es jetzt einfach zu viel. Und, mit Verlaub, ich glaube doch mit deinen Töchtern mehr Zeit verbracht zu haben und sie besser einzuschätzen zu wissen!"

Oma Erna war immer argumentativ und nie verletzend. Sie hatte sich eigentlich immer unter Kontrolle. So außer Rand und Band hatten wir UNSERE Oma noch nie erlebt und sollten wir auch nie wieder erleben.

Den ganzen Streit über hatten wir kein einziges Wort verloren. Blicke reichten völlig, um einander voll und ganz zu verstehen.

Tränen kullerten unseren ebenmäßigen Gesichtern herunter. Gesichter, die vom Leben noch nicht gezeichnet waren.

Ich nahm Annas Hände, sie zitterte. Worte waren überflüssig, aber ich hatte ohnehin nicht gewusst, was ich hätte sagen sollen. Hatte ich sie zu trösten? Waren es Tränen der Erleichterung? Ich konnte selbst nicht einmal sagen, warum ich weinte. Ich glaube nicht, dass sie es wusste. Heute denke ich, dass wir beide einfach von unseren Gefühlen übermannt wurden. Oma Erna hatte Recht. Das alles war zu viel für Anna. Aber auch für mich.

Anna und mich hatte diese Nachricht noch mehr miteinander verbunden. Wenn wir vorher nicht schon unzertrennlich gewesen wären, so wären wir es nach diesem Tage. Wir teilten alle Geheimnisse. Sie kannte mich tlw. besser als mich selbst und umgekehrt. Sie wurde nach Oma Erna und noch vor Tom zu einem der wichtigsten Menschen in meinem Leben. Unter anderen Umständen wäre sie die Erste gewesen, bei welcher ich Rat gesucht hätte, bei wem ich ohne Scheu hätte weinen können. Ja, unter anderen Umständen wäre sie diese Person gewesen.

Kapitel 9

Ich schiele über meine Augenbrauen hinweg auf die gegenüberliegende Wand. Meine Augenlider sind schwer. Ich weiß nicht, ob es des Alkohols oder der Tränen wegen ist. Ich hatte mit dem Sekt begonnen.

Ich hatte immer nach dem Motto gelebt, sich so wenig wie möglich von anderen abhängig zu machen und immer selbst dafür zu sorgen, dass man sich das Leben so angenehm als möglich gestaltet. Dazu gehört, dass man sich auch selbst etwas zum Geburtstag gönnt, dass man eine Kerze anzündet - auch, wenn man allein zu Abend ist. Und heute gehörte dazu, dass man auch in der ausweglosesten Situation auf sich selbst anstößt. In einem Anflug von "Wenn sich eine Tür schießt, öffnet sich irgendwo eine andere", habe ich mir also den Piccolo aus der Minibar geschnappt, ihn feierlich in einen Sektkelch gefüllt und mir selbst zugeprostet.

 

Den Sekt - und dem restlichen Inhalt der Minibar - später, liege ich noch immer auf dem Bett, mit dem Rücken an der Wand, die Beine weit von mir gestreckt, die Schultern sind nach vorne zusammengefallen, mein Kopf ist so schwer, dass mein Hals ihn nur noch auf halber Höhe zu halten vermag. Den Gläsern habe ich längst Adé gesagt.

Vor meinem inneren Auge läuft immer wieder ein- und dieselbe Szene ab: ich stelle mir vor, wie Tom mit Anna schläft. Ich sehe, wie er ihr die Klamotten vom Leib reißt; wie sein ganzer Körper nach dem ihren schreit; wie er kaum erwarten kann, in sie einzudringen. Ich sehe, wie er ihre Schultern küsst, und ihre Brust; wie seine Zunge haltlos in ihrem wühlt. Ich sehe sein lustverzerrtes Gesicht als er auf ihr reitet und wie er erschöpft über ihr zusammenfällt, nachdem er sich in ihr ergossen hat.

Ein- und derselbe Film, der in Dauerschleife läuft und plötzlich wird mir speiübel. Mir wird plötzlich heiß und mein Magen scheint sich zu einem gigantischen Knoten gefügt zu haben.

Ich schaffe es noch, den Rest Gin heil auf dem Nachttischschränkchen abzustellen und hechte ins Bad.

Kaum ein Bröckchen tanzt in der gelblich-braunen Flüssigkeit. Klar, ich habe auch seit gestern Mittag nichts mehr gegessen. Aber ein beißend saurer Geruch steigt mir in die Nase.

So liege ich mit dem Kopf auf meinem Arm auf der Klobrille und wieder überkommt mich unendliche Traurigkeit, Enttäuschung und Einsamkeit. Tränen rinnen über meine Wangen, meinen Arm und tropfen lautlos auf die Klobrille, wo ich beobachte, wie sie sich ins Klobecken stürzen.

Meine Schultern beginnen zu beben. In einem hitzigen Stakkato lässt mein Schluchzen sie auf- und ab hüpfen.

Ich mache meine Beine lang. Vorerst habe ich nicht die Kraft aufzustehen. So liege ich, umarme die Toilette und gehe in Gedanken zurück zu dem Pärchen, welchem ich diese Horrornacht zu verdanken habe.

Tom sagte: "Maria war damals noch in der Klinik".

Wir waren damals gerade mal ein halbes Jahr zusammen, noch frisch verliebt, der Blick von der rosaroten Brille verschleiert. Ich war auf dem Nachhauseweg von der Arbeit, in Vorfreude, und bin schlichtweg eingeschlafen. Und erst mehr als einen Monat später aufgewacht. Aufgrund schwerer innerer Verletzungen wurde ich in ein künstliches Koma gelegt. Erst für 3 Wochen, aber das Erwachen zog sich noch weit länger hinaus. Ich war erst nach 5 Wochen wieder ansprechbar, von Schmerzen und Verwirrung geplagt, aber -Gott sei Dank- ohne Folgeschäden. Bis jetzt.

Die Ärzte sagten damals, dass dennoch alles viel schneller und besser verlief als üblich. Ich weiß natürlich trotzdem, dass es für die Hinterbliebenen eine Ewigkeit schien. Das heißt, ich weiß es nicht, aber ich kann mir vorstellen, wie einen die Ungewissheit zerfrisst. Und ich weiß, dass beide tagein und tagaus bei mir im Krankenhaus waren.

Ich weiß, dass Anna genauso für mich empfindet, wie ich für sie und ich weiß, dass Tom mich innig liebt. Und ich verstehe auch, dass ihrer beider Liebe zu mir die Verbindung zwischen IHNEN beiden ausmacht. Aber niemals werde ich nachvollziehen können, wie beide so kopflos handeln konnten.

Anna ist eine absolute Schönheit. Sie hat den haselnussbraunen Teint ihres Vaters geerbt. Ihre Augen sind wie schwarze Knöpfe in mandelförmigen Schlitzen. Trotz der Unnahbarkeit, die ihre Erscheinung ausstrahlt, sind ihre Augen von einer Wärme erfüllt, die einnehmend ist. Sie hat ein strahlendes Lächeln, das jeden zum Schmelzen bringt und weiß-gebleckte, formschöne und gerade Zähne zum Vorschein bringt.

Sie hat eine Stupsnase, die ihrem herzförmigen Gesicht jedoch keine Niedlichkeit beimisst, sondern ihrem Feuer nichts nimmt. Auch ihre dicken, wie Satin glänzenden schwarzen Haare hat sie von ihren italienischen Vorfahren. Sie trägt sie immerschon lang, sodass sie ihr auf die wohlgeformten, festen Brüste fallen. Ihre Figur ist betörend.

Sie ist eine Erscheinung.! Und auch ihr Inneres strahlt. Sie hat einen frechen Humor, der noch jeden Mann einlud, die Herausforderung anzunehmen.

Kurzum, ich verstehe jeden, der ihr zu Füßen liegt.

Ich bin und war ihr ihrer Attraktivität immer bewusst und mir war klar, dass diese auch nicht vor Tom Halt macht. Ich wusste ob der Anziehungskraft, die sie auf ihn auslöste, aber ich wusste auch um die tiefe, innige Liebe, die er für mich empfand. Und ich habe mich immer zu überzeugen versucht, dass sein Verstand die Überhand über seinen Schwanz hätte. Wie konnte er sich der Versuchung nur hingeben. Wie konnte er für diese Minuten oder Stunden mich nur völlig vergessen? Oder dachte er, ich würde nicht mehr zurückkommen? Hatte er mich damals schon aufgegeben? Und gar sein neues Glück versuchen wollen?

Ich hasse ihn für das, was er getan hat. Und obwohl ich weiß, dass es mir nicht zusteht, kann ich nicht umhin, Anna noch viel mehr dafür zu hassen. Es ist primitiv und vielleicht mache ich es mir zu einfach, aber meiner Erfahrung nach, waren Männer immer stets einen Tick triebgesteuerter als Frauen. Oder zumindest für einen Moment länger in der Lage, Emotionen, die ihren Handlungen ggf. folgen würden, auszublenden. Die meisten Frauen, die meinen Weg bisher kreuzten, würde ich umsichtiger beschreiben, als dieselbe Anzahl der Männer, denen ich bisher begegnet bin.

Anna, du wusstest, dass ich in Tom einen Partner gefunden hatte; einen Mann, der WIRKLICH zu mir stand; jemanden, der mich genauso liebte, wie ich ihn. Und du wusstest, wie innig und wie lange ich mir das gewünscht hatte. Wie konntest du nur darüber hinwegsehen, um die Bestätigung zu bekommen, nach der du unentwegt verlangst.

Wir sind beide bei weitem nicht perfekt, sind beide über Leichen gegangen, um das zu bekommen, was wir wollten - du in der Liebe und ich im Beruf. Aber wie konntest du den Menschen, der dir am WICHTIGSTEN war so hintergehen? Wie konntest du mein Herz so mit Füßen treten. Verstehst du jetzt, dass du mir nicht nur die Liebe meines Lebens, sondern auch noch meine Schwester und beste Freundin genommen hast. Und dir?!

Ich denke an all die Jahre, in welcher ich sie in die Höhen und Tiefen meines Liebeslebens eingeweiht habe, an all die Momente, welche ich ihr detailgetreu zu beschreiben versuchte, wo sie doch so genau wusste, wovon ich sprach. Was muss ihr da durch den Kopf gegangen sein. Es ist so beschämend! Ich dachte, ich kannte sie so gut. Aber, wenn ich jetzt zurückdenke, habe ich nie Reue in ihrem Gesicht lesen können. Hast du jemals mit dir gerungen, es mir zu beichten?

Tom gewiss! Tom hat gewiss mehrere Male mich sich gerungen. Er ist ein eigentlich ein Softie und ich hatte immer geglaubt, er könnte nichts vor mir verbergen. Vielleicht darf ich das nicht, aber ich kann nicht umhin, unsere Beziehung, ihn - alles - in Frage zu stellen.

Trotz dieses unglaublichen Betrugs glaube ich dennoch, dass er sich oftmals wünschte, reinen Tisch zu machen. Geheimnisse fraßen ihn in der Regel auf.

Nach meinem Erwachen konnte er es mir nicht beichten - beide nicht. Sie konnten mir nicht einfach den neu gewonnen Boden unter den Füßen wegziehen. Und es war ein Kampf. Ich musste wieder Muskelmassen aufbauen, war in so vielen Situationen auf fremde Hilfe angewiesen. So vergingen die Wochen, in denen mich die Wahrheit wohl zerbrochen hätte. Noch mehr zerbrochen.

Und so verging vielleicht zu viel Zeit bis er an dem Punkt angelangt war, dass er (und vielleicht auch Anna) es ad Acta gelegt hatten und entschieden, dass es nicht wert war, mich so zu verletzen, wo es beiden doch nichts bedeutete.

Ich rede es mir schön. Warum nehme ich die beiden überhaupt in Schutz? Ich fürchte, ich brauche das jetzt. Ich muss in den beiden Wehmut sehen. Ich muss versuchen, in beiden Gewissensbisse zu erkennen, um dies heil zu überstehen.

Kapitel 10

Ich wage mir nicht die Augen zu öffnen. Ein einzelner Sonnenstrahl würde mein Gehirn jetzt zum Explodieren bringen. Mein Kopf schmerzt fürchterlich. Der Sekt, das Bier, der Gin und letztlich auch noch der Bourbon fordern jetzt ihren Tribut. Meine Glieder sind bleischwer. Ein weiterer Tag, den ich auf dem Zimmer verbringen werde. So kann es nicht weitergehen! Ich muss eine Entscheidung treffen. Wie soll es weitergehen?

Ich kann nicht klar denken. Ich brauche den Rat einer Person, die unbeeinflusster ist. Ich brauche eine vertraute Stimme, etwas Zuneigung in Form liebenswürdiger Worte und geistesabwesend wähle ich Oma Ernas Nummer.

"Thaler. Hallo", erklingt die vertraute, vom Alter brüchig gewordene, Stimme.

Ich hole tief Luft ... und lege auf. Was soll ich ihr sagen? Ihren Unmut gegen ihre einzig andere Enkeltochter hegen? Sie würde so oder so zwischen den Stühlen stehen. Und ich bin ohnehin noch nicht bereit über das Geschehene zu sprechen. Ich kann noch gar nicht darüber sprechen, ohne den nächsten Heulkrampf zu bekommen. Das würde ihr das Herz brechen und mich beschämen.

So liege ich den zweiten Tag infolge auf meinem Hotelzimmerbett. Ich liebte immer die Atmosphäre in Hotels, die Art, wie man umsorgt wurde; die überschwängliche Freundlichkeit, mit der man versuchte, dich in der Fremde heimelig fühlen zu machen. Aber dies war keine Geschäftsreise, bei der ich ein paar Stunden meine Rolle zu spielen hatte, um dann in die Privatheit meines Einzelzimmers abzutauchen, in der ich mit dem Wissen, dass zuhause ein liebender Mensch auf dich wartete, das Alleinsein genießen konnte. Nun habe ich das Gefühl in dem mittelgroßen Zimmer völlig unterzugehen, in dem Bett verloren zu sein.

Tränen wiegen mich leise in den Schlaf.

Als ich meine Augen wieder öffne, lächelt mir frech eine 11 entgegen. Ich hätte das Hotelzimmer längst geräumt haben müssen.

Widerwillig greife ich zum Telefon. Nicht nur meine müden Glieder versagen ihren Dienst, auch meinem Kopf und meiner Zunge ist jeglicher Kontakt zuwider. Hastig gebe ich meine Kreditkartennummer durch und verlängere um 3 Nächte.

Das gibt mir genügend Zeit, um zu überlegen, wie es weitergehen soll.

In diesem Moment tauchen Bilder in meinem Kopf auf. Bilder aus unserem Ostsee-Urlaub, den wir letzten Herbst unternommen hatten. Ich sehe uns, wie wir mit unseren Schals und Handschuhen, die Mützen tief ins Gesicht gezogen, um uns vor dem eisigen Wind zu schützen, den Sonnenuntergang entgegenblicken. Wieder sucht mich diese allumfassende Sicherheit heim, die ich spürte, als er mich in seine starken Arme nahm.

Ich sehe uns in diesem piekfeinen Restaurant in Madrid sitzen, wo ich völlig unangebrachterweise einen halsbrecherischen Lachanfall bekam, als Tom den Kampf gegen seinen Hummer aufnahm.

Mehr Bilder folgen und ich erkenne, dass ich mir nichts sehnlicher wünsche, als in diese Vergangenheit zurückzukehren. Zu gleichermaßen wird mir aber auch bewusst, dass diese Bilder Vergangenheit sind und ich sie nicht in der Zukunft heraufbeschwören kann. Ich wollte mein Leben mit Tom verbringen und unter anderen Umständen wöllte ich es noch. Und so sehr ich mir wünschen würde, ein anderer Mensch zu sein mit anderen Eigenschaften, so weiß ich doch, dass ich sehr nachtragend bin und ihm das nie vergessen könnte. Vergeben vielleicht, aber nie vergessen. Und ich möchte mich den ständigen Zweifeln, die mich dann plagen würden, nicht aussetzen. Ich glaube nicht, dass ich dem standhalten könnte.

Und je länger ich darüber nachdenke, desto fester steht mein Entschluss, nicht mehr zu Tom zurückzukehren. Und dieser Entschluss erfüllt mich mit einer Traurigkeit, die überwältigend ist. Aber meine Tränen sind versiegt, ich kann nicht mehr weinen.

Zu dieser Traurigkeit, deren Schwere ich nicht in Worte fassen kann, gesellt sich aber auch noch etwas anderes. Angst.

Ich habe den Entschluss gefasst, dass unsere Beziehung diese Bürde nicht tragen kann und ich Tom verlassen werde. Aber was soll dann werden? Wir teilen uns eine Wohnung. Wir haben weitestgehend einen Freundeskreis. Und ich könnte es nicht ertragen, ständig seine Anwesenheit zu spüren, ohne in seine Arme fallen zu können. Ich möchte ihm nicht wieder und wieder ins Gesicht blicken, welches sich vor meinem inneren Auge in dieses lustverzerrte entwickelt, welches er neben mir nun auch noch mit meiner liebsten Schwester teilte. Ich fürchte mich vor der Beschämtheit, die meine jahrelange Unwissenheit über den Betrug immer wieder in mir auslösen würde.

Nein, ich möchte nicht immer und wieder damit konfrontiert werden.

 

Bevor ich meinen Entschluss anzweifeln kann, überlege ich, welche bürokratischen oder finanziellen Hürden eine Trennung mit sich bringt. Welche Sachen teilen wir uns, stehen ihm bzw. mir zu?

Die Wohnung steht alleinig auf seinen Namen. Aufgrund der Verlobung und der in ferner Zukunft anstehenden Namensänderung, hatte alleinig er den Mietvertrag damals unterschrieben.

Meiner persönlichen Sachen und der Möbel wegen, die mir gehörten, würde ich nächste Woche sichergehen, dass er aus dem Haus ist und dann alles abholen.

Wir hatten - Gott sei Dank - noch kein gemeinsames Konto eröffnet. Und wenn ich nächste Woche zurück in die Wohnung gehen würde, würde ich unser Sparschwein, was wir für gemeinsame Urlaube aufgestellt hatten, plündern.

Ich muss erkennen, dass wir bisher wenige gemeinsame Verpflichtungen eingegangen waren. Hatte er die ganze Zeit noch damit gerechnet, dass es doch noch rauskommen würde? Dass wir uns vielleicht trennen würden? Hatte er bewusst keine gemeinsamen Verpflichtungen eingehen wollen?

Ich stelle fest, dass alles, was ich zu tun hatte, war, mir eine Wohnung zu suchen, mich umzumelden und meine Post (wie die von Bank und Krankenversicherung) ummelden zu lassen.

Der Entschluss, mich von Tom zu trennen, macht mich wieder nach vorne blicken. Auf einmal gibt es wieder eine Richtung und nicht mehr nur ein "Zurück". Ich muss nur überlegen, wie ich alles anstellen werde. Schaffe ich, ihm in die Augen zu blicken? In seine stechend grünen Augen, die immer Ehrlichkeit auszudrücken schienen, welche sie jetzt Lügen straft.

Nein, ich werde ihn nie wieder anblicken können. Ich werde ihn nie wieder anblicken können, ohne in seine Arme fallen zu wollen, um ihn kurz darauf ohrfeigen zu können. Er hat mein Herz tiefschwarz gefärbt. Meine Oma sagte immer: " Manchmal hasst man den Menschen am stärksten, den man am meisten liebt, weil er der einzige ist, der einen wirklich verletzen kann". Und das hatte er. Das hatten beide. Sie haben mir das Herz aus der Brust gerissen, es geschüttelt und draufgetreten. Ob ich es je wieder flicken konnte?

Ich werde ihn um jeden Preis meiden, das heißt auch, dass ich die Folgewoche der Arbeit fernbleiben muss. Er wird dort anrufen, vielleicht würde er mich sogar abholen wollen oder gar den ganzen Tag freinehmen, um dort aufzutauchen. Ich weiß, dass er mich trotz dieses Fehlschlags liebt und er um mich kämpfen wird. Das zu erleben, könnte ich nicht ertragen. Ich hätte Angst, meiner innigen Liebe zu ihm nicht standhalten zu können. Ich hätte Angst, dass sie meinen Verstand übermannt. Und dann klingt wieder seine Stimme in meinen Ohren. Der Stolz, der in seiner Stimme mitschwang, widerte mich an. Ich kann quasi vor mir sehen, wie er sich in dem neidvollen Blick von Jan suhlt, bevor ihn sein schlechtes Gewissen einholt.

Nein, ich werde ihm nicht gegenübertreten. Ich will ihn nie, nie wiedersehen.