Auf der Suche nach Wärme

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Kapitel 11

Ich hatte mir bereits im Kopf zurechtgelegt, was ich wie zu Kathrin sagen würde, aber als ich mir zuhöre, wie ich auf ihren Anrufbeantworter spreche, bin ich von mir selbst erschrocken. Nicht, über das, was ich sage, sondern über die Kälte, die Ausdruckslosigkeit, die meine Stimme bestimmt. Jegliche Fröhlichkeit ist gewichen und ich schaffe es nicht einmal, ihr etwas mehr Neutralität zu verleihen. Kurz und bündig erkläre ich ihr, dass ich die Woche nicht kommen kann und entschuldige mich für die Mehrarbeit, die ich ihr damit zumute. Vielleicht etwas zu kurz. Ich werde später klarstellen müssen, dass meine Eisigkeit nicht auf unser Verhältnis zu projizieren ist. Später? Aber wann? Werde ich überhaupt weiter mit Kathrin arbeiten UND Tom meiden können? Ob oder ob nicht, muss ich in dieser Woche für mich herausfinden, aber zumindest gibt mir die vorgetäuschte Krankheit Zeit.

Kapitel 12

Wenige Stunden später an diesem Montagmorgen, erhalte ich E-Mail von Kathrin.

"Liebe Maria,

Vielen Dank für deinen Anruf. Durch deine frühe Rückmeldung hatte ich die Möglichkeit, das Meeting mit Herrn Leher später anzusetzen, ich konnte unser beider Anteile übernehmen und Herr Leher will höchstwahrscheinlich mit uns ins Geschäft kommen.

Es lief also trotz deiner Abwesenheit (du fehlst mir selbstverständlich sehr) gut und du brauchst du keinerlei Gedanken machen, dass ich dir dein Fehlen übelnehmen würde. Ich wünsche dir schnelle Genesung und freue mich auf deine Rückkehr.

Liebe Grüße

Kathrin

Und fünf Minuten später:

"Liebe Maria,

Entschuldige! Ich bin es schon wieder.

Ich weiß, es geht mich nichts an und dir war unser geschäftliches Verhältnis immer sehr wichtig. Mir geht es ganz genauso! Auch ich pflegte immer Berufliches und Privates zu trennen. Daher nahm ich mit Freuden an, dass du ähnlich dachtest, aber Maria: du bist eine tolle Frau, die ich nicht nur als Kollegin geschätzt gelernt habe. Daher erlaube ich mir, dir auch als - wenn ich so sagen darf - Freundin einen Rat zu geben.

Rede mit ihm! Ich weiß nicht, was vorgefallen ist und es geht mich auch nichts an, aber - ich glaube - 80% aller Beziehungsprobleme lassen sich durch eine ordentliche Diskussion aus der Welt schaffen.

Tom ruft seit meiner Ankunft heute Morgen halb 9 im 10-Minuten-Takt an. Ich hatte nach der Besprechung drei Mitteilungen auf dem Anrufbeantworter. Was immer er getan hat, er leidet fürchterlich darunter und bittet inständig um die Möglichkeit, dir seine Sicht der Dinge zu erklären.

Entschuldige, wenn ich mir zu viel herausnehme, als deine Chefin auch noch dein Privatleben zu bestimmen, aber - wie ich schon sagte - es ist ein Rat einer Freundin und nicht deiner Chefin.

Liebe Grüße

Kathrin"

Ich bin zerrüttet. Ich hatte mich bereits gegen ihn entschieden. Diese Nachricht macht es so viel schwieriger.

Natürlich kernt da etwas in mir, was vor Freude zerspringen mag. Welche Frau freut es nicht, wenn um sie gekämpft wird? Und hier kämpft der Mann um meine Liebe, den ich so innig liebe.

Zu gleichermaßen mischt sich da aber noch ein anderes Gefühl bei. Das Gefühl, oder vielmehr die traurige Erkenntnis, dass der Kampf zwecklos ist. Dass ich unserer Liebe keine Zukunft mehr gebe, vielleicht sogar nicht mehr geben will. Ich bin verletzt.

Meine Güte, mir wirbeln so viele Gedanken in meinem Kopf herum. Trauer trifft Erleichterung, Enttäuschung misst sich mit Verbundenheit. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen. Treffe ich die richtige Entscheidung? Lohnt es, an dieser festzuhalten?

Mein Blick fällt auf das Telefon. Oma Erna. Mehr in Trance als entschlossen wähle ich ihre Nummer.

Und wieder dieses herzerwärmende krächzende: "Thaler. Hallo"

Ich zögere. Sie ist die einzige vertraute Person, die mir geblieben ist, aber was soll ich sagen? Habe ich das Recht, meine Probleme über andere zu stellen und ihr Kopfzerbrechen zu riskieren?

"Maria?", reißt sie mich aus meinen Gedanken. "Maria, mein Liebling, bist du das?", ihre Stimme ist viel weicher geworden. Heiße Tränen bahnen sich den Weg zu meinem Kinn. Sie tropfen lautlos in meinen Schoß. Leises Schluchzen beginnt, den Raum zu erfüllen. Doch plötzlich stört etwas die Geborgenheit, die mich für kurze Zeit eingelullt hatte. Sie weiß es? Meine Augen weiten sich. Ich schnappe nach Luft. Da klang etwas anderes in ihrer Stimme mit. Mitleid. Was weiß sie? Oder: was wusste sie die ganze Zeit schon? War das nur unendliche Empathie in Bezug auf mein Verschwundensein oder hatte sich Anna ihr bereits viel früher anvertraut? Wusste sie um den Betrug? Hat auch sie mir die Wahrheit verheimlicht? Und wer wusste es noch?

Entrüstet knallte ich den Hörer auf die Station.

Ich muss hier weg!

Kapitel 13

Erzürnt stürzte ich mich auf meine Handtasche und krame die wenigen Sachen, die ich mitgebracht hatte, zusammen. Es ist nicht viel. Selbst über die zwei Einkaufstüten habe ich mich mittlerweile hergemacht.

Am Ende trage ich dieselben Klamotten von Freitag und nicht mehr als meine Handtasche obendrein.

Ich habe bis morgen bezahlt, aber das ist mir egal. Ich will nur weg. Soweit wie möglich. An einen Ort, der mich vergessen lässt; an einen Ort, der mir die Möglichkeit eines Neuanfangs gibt.

Ich will nie wieder in eines der Gesichter blicken, hinter deren Fassade sich Mitleid versteckte, welches sie jetzt in vollem Umfang zutage kommen lassen würden. Mit der Imagination, dass dies jetzt den vorigen Betrug aufwiegen würde.

Ich hasse sie! Ich hasse sie alle.

Sowie ich einen Fuß vor mein Hotelzimmer setze, bilde ich mir ein, augenblicklich unter Beobachtung zu stehen.

In jedem Gast, der an mir vorbeiläuft, glaube ich, auf einmal einen Bekannten zu erkennen. Ich wundere mich selbst über den großen Bekanntenkreis, den ich plötzlich zu haben scheine. Um nichts in der Welt möchte ich jetzt auf jemanden treffen, den ich kenne. Jemanden, der möglicherweise schon um die Geschehnisse wusste. Jemand, der mich an der Flucht hindern könnte.

Erleichtert atme ich auf, als ich die Rezeption erreiche. Ein junges Pickelgesicht blitzt mich mit seiner Zahnspange an.

"Guten Morgen. Was kann ich für sie tun?", fragt er zuvorkommend.

"Ich möchte auschecken", entgegne ich ihm ungerührt seiner Freundlichkeit. Der Stolz in meiner Stimme hallt nach. Schutzmechanismus, denke ich, obwohl ich über die Kälte in meiner Stimme verwundert bin.

"Thaler ist mein Name"

"Natürlich, Frau Thaler. Sehr gern", er widmet sich voller Tatendrang dem Computer, ein Lächeln umschmiegt noch immer seine prallen, fuchsia-farbenen Lippen.

Verwunderung huscht über sein Gesicht.

"Frau Thaler, wie ich sehe, hatten sie ursprünglich bis zum Mittwoch gebucht. Darf ich…"

Ich falle ihm ins Wort: "Es war alles in bester Ordnung. Bitte ziehen sie die Kosten für die Minibar ab und alles ist erledigt"

Sein Kopf ist um 5 cm nach unten gesunken. Er fühlt sich nicht mehr wohl in seiner Haut. Seine Augen umspielt ein nervöses Zucken.

Unter anderen Umständen hätte ich Mitleid mit dem Jungen gehabt, der wohl gerade erst in seiner Ausbildung steckt. Aber momentan fürchte ich nur um mich. Ich kann diese Umgebung, ich kann diese Menschen, die diese Stadt erfüllt und die mir plötzlich alle so vertraut sind, nicht länger ertragen.

"Ähm, natürlich, Frau Thaler. Welche Getränke soll ich ihnen abrechnen?"

"Alle"

Für einen Sekundenbruchteil war sein Gesicht zu einem Fragezeichen geballt, aber als er aufschaute und mein ungerührtes Gesicht sah, zwang er sich zur Besonnenheit.

"Selbstverständlich", er hat zu seiner alten Form zurückgefunden und zieht mir alle Kosten von meinem Konto ab.

Zu unserer beider Erleichterung stapfe ich schnellstmöglich aus dem Hotel.

Kapitel 14

Vor dem Hotel bleibe ich stehen. Unschlüssig. Wo soll ich hin?

Ich schaue nach links, ich mache einen Schritt nach rechts... Vor lauter Hektik steige ich zur U-Bahn hinunter. Schnellstmöglich aus dem Sichtfeld verschwinden. Schnellstmöglich vom Erdboden verschluckt werden. U3, U5 - all diese Bahnen können mich nur hamburg-weit entführen. Sollte ich hier Zuflucht finden? Da, wo man vielleicht letzten Endes am wenigsten suchen wird? Irgendwo im Umland?!

Ich habe es immer gehasst, wenn die Leute mitten im Wege stehen blieben. Wenn man ein Päuschen einlegen will, kann man das doch getrost am Wegesrande machen. Und nun bin ich es, die verloren in der Mitte der U-Bahnhaltestelle steht und auf dem Schildern "U3" und "U5" nach einem Wegweiser sucht. Aber so lange ich die Schilder auch anstarre - sie verändern sich nicht. Meine Schultern senken sich. Die Anspannung, die mich die ganze bei Atem gehalten hatte, wird von dem Gefühl des Verlorensein erstickt.

Man rempelt mich an. Einige entschuldigen sich flüchtig, andere werfen mir genervte Blicke zu. Sonst hätte ich wohl eher zu letztere Gruppe gehört.

Aber da fällt mein Blick auf das Schild "ZOH" - den Busbahnhof. Ein Flixbus. Oder irgendein anderes Busunternehmen. Ich werde einfach irgendeinen Bus nehmen. Der nächste, der fährt. Und dann geradewegs in eine andere Stadt.

Ein kastanienbrauner Schopf begrüßt mich mürrisch.

 

"Moin! Was kann ich für sie tun?", sie lunzt mich über ihre rahmenlose Lesebrille an, die Augen tief in ihren Höhlen. Ich muss sie wohl bei ihren Kreuzworträtseln gestört haben.

"Wann und wohin geht der nächste Bus?"

Sie hebt eine Augenbraue. Sie hebt alleinig eine Augenbraue und schaut mich für den Bruchteil einer Sekunde zu lange an.

"Da scheint es wohl jemand ziemlich eilig zu haben, hm?!", sie legt ihren Kopf schief und setzt ihren üppigen, alten Körper schwerfällig in Bewegung.

Ich mache mir nicht die Mühe ihre Neugierde zu befriedigen.

Hochnäsig starrt sie auf ihren Computer. Auf ihre Uhr. Und wieder auf ihren Computer.

"Wie eilig hast du es?"

Herausfordernd schaue ich sie an und sie antwortet mit einem Kopfnicken in meine Richtung: " Der da fährt in 5 Minuten. Fährt nach Berlin. Sin noch ´n paar Plätze frei", ihr Kinn zeigt auf den Bus unmittelbar hinter mir.

Ich überlege nur eine Sekunde und beginne in meiner Tasche nach meinem Portemonnaie zu kramen.

"Den nehme ich"

Sie grinst. Sie glaubt wohl, mich zu 100% lesen zu können, diese alte Schachtel.

"Macht 11,99 Euro", ungeduldig schiebt sie ihre Hand durch den Schlitz.

"Ist das all ihr Gepäck?", schielt sie auf meine Handtasche. Ich scheine sie zu amüsieren. Als Antwort drücke ich ihr meine Kreditkarte in die Hand. Sie schüttelt fast unmerklich mit dem Kopf und brabbelt irgendetwas vor sich hin, was ich -Gott sei Dank- nicht verstehe.

Als sie mir meine Kreditkarte wiedergibt und die Tickets rüberreicht, reiße ich ihr alles förmlich aus der Hand und stürze in Richtung Bus. Heute mache ich mir wohl keine Freunde.

Der Bus ist wohlig temperiert. Mein Blick huscht blitzschnell über die wenigen Gesichter, aber dieses Mal sehe ich nicht in lauter bekannte. Ich lasse mich von der Dunkelheit des Busses einlullen und wiege mich in Sicherheit. An einer der getönten Scheiben vergrabe ich meinen Kopf, meine Tasche auf dem Nachbarssitz, um ungewollten Gesprächspartnern zu entgehen. Ich bin dankbar für die Haare, die mir ins Gesicht fallen und mich vor weiteren Blicken schützen.

Meine Augen brennen und die graue Außenwelt verschwimmt.

Die Luft der Klimaanlage trifft auf meine glühenden Wangen und kühlt meine heißen Tränen.

Es sind Tränen der Trauer, aber auch Tränen des Abschieds. Des Abschieds von Tom, des Abschieds von Hamburg - der Stadt, die ich mit ihm so lieben gelernt hatte. Tränen des Abschieds von mir und dem Leben, welches ich hier geführt hatte, denn das lasse ich hiermit hinter mir.

Kapitel 15

Drei Stunden Weinen. Meine Augen sind blutunterlaufen und schwer und geschwollen. Ich dachte, ich hätte keine Tränen mehr zu weinen, aber es sind noch Sturzbäche geflossen. Meine Kehle ist noch wie zugeschnürt. Mein Hals tut weh vom Schluchzen. Das Salz brennt auf meiner Oberlippe.

Ich habe alle Tränen geweint. Ich schwöre mir, dass, wenn ich aus diesem Bus aussteige, ich mein Leben wieder in die Hand nehme. Ein neues Leben.

Wir passieren das Schild, was unsere baldige Ankunft verkündet: "Berlin". Die schwarzen Buchstaben starren mich vor dem gold-gelben Hintergrund an.

Ich wappne mich.

Wir kurven noch 20 Minuten in dieser zugestopften Stadt umher bis mich die grauen Betonklötze grüßen.

Ich versuche diese hässlichen 70er-Jahre-Bauten nicht mit dem gläsernen -ohnehin auch schon hässlichen- Busbahnhofsgebäude in Hamburg zu vergleichen.

Das ist ein Neuanfang, der zu nichts in Relation steht.

Der Bus kommt zum Stehen. Noch bevor sich die Türen öffnen, stehen die wenigen Passagiere wie aufgereiht im Gang. Niemand möchte die Schande über sich ergehen lassen, der letzte an seinem Gepäck zu sein.

Die Tür öffnet sich und sie rammeln hinaus. Ein Mann tritt der Frau vor ihm in die Fersen, sodass diese stolpert. Sie funkelt ihn und er hebt abwehrend seine Hände.

Der Sturm ist vorbei.

Ich atme tief durch und greife meine Handtasche. Die Sonnenbrille sitzt seit einer viertel Stunde fest auf meiner Nase.

Ich recke mein Kinn und stehe auf. Wortlos stolziere ich an dem Busfahrer vorbei und laufe mit gezielten Schritten an der Meute, die auf ihre Koffer wartet, vorbei, in Richtung U-Bahn.

Ich kann ihre Blicke spüren. Wie tausend kleine Nadelstiche bearbeiten sie meinen Nacken. Würden sie einander kennen, würde mich sicher auch ein Flüstern begleiten. Zu meinem Glück sind sie einander ebenso fremd, wie mir und keiner traut sich, den ersten Schritt auf den anderen zuzugehen, vor allem nicht nachdem man sich drei Stunden lang erfolgreich ignoriert hatte.

Aber ich merke auch wie mich andere Passagiere beäugen. Passagiere, die nichts von den letzten drei Stunden wissen. Und ihre Blicke zeigen Anerkennung, Neid und - die der männlichen Beobachter - Begierde. Zumindest für jene kann ich die Illusion aufrechterhalten. Immerhin trage ich ein schickes Kostüm. Niemand von ihnen weiß, dass ich seit mehreren Tagen nichts anderes getragen habe. Mein Kinn überragt alles, was man leichthin als Arroganz missdeuten - und nicht dem eigentlichen Selbstschutz zuschreiben könnte. Niemand von ihnen weiß, dass die Zielsicherheit nur daher rührt, dass ich in Berlin studiert hatte und daher den Weg vom Busbahnhof zum U-Bahnhof in- und auswendig kenne. Es war nur eine kurze Strecke, die ich damals tausendfach gegangen war - meist voll beladen mit mehr Gepäck als ich eigentlich tragen konnte. Durch die Unterführung, über die Brücke und schon habe ich die erste und meine U-Bahnstation erreicht. Und niemand weiß, dass ich von hier an nicht weiterweiß. Niemand weiß, dass ich in Berlin kein anderes Ziel als die U-Bahnstation, als die Flucht hatte. Aber ich bin außer Reichweite meiner Beobachter und so würde es auch mein Geheimnis bleiben.

Kapitel 16

Ich fahre in Richtung Zentrum. Aus der Gewohnheit heraus, steige ich am Potsdamer Platz aus. Hier war ich immer hergefahren, um in der Staatsbibliothek zu Berlin zu recherchieren. In dem ersten Hotel, was in mein Blickfeld rutschen würde, würde ich mir vorübergehend ein Zimmer nehmen.

Sowie ich die Rolltreppe hinauffahre, taucht langsam das Logo „Der Bäcker Feihl“ vor mir auf. Wie oft hatte mir hier ein Käsebrötchen als Frühstück gedient?!

Ich muss umgeben sein von Hotels. Hier sind einige der touristischen Hauptattraktionen: Hochhausensemble kämpfen neben dem Sony Center und der historischen Bedeutung des Potsdamer Platz selbst um die Aufmerksamkeit des Besuchers. Dennoch: Weil ich nie danach gesucht hatte, weiß ich nicht, wohin ich gehen soll. Also entschließe ich mich für den einzig bekannten Weg: den, der in Richtung Bibliothek führt.

Mein Blick wandert die Häuser-Fassaden entlang. Ich passiere Andys Diner & Bar, The Mandala Hotel und das Legoland Discovery Center und fast gewinne ich den Eindruck, dass sich alle möglichen Unterkünfte vor mir versteckt halten. Bis es mir aus dem Augenwinkel zuzwinkert: mein neues Zuhause.

Es kann sich nicht mit dem Nobelschuppen messen, indem ich meine letzte Nacht verbrachte. Aber das gibt mein Geldbeutel auch nicht auf Dauer her. Es ist eher eines dieser neumodischen Business-Hotels, die vor Modernität und Kreativität strotzen. Anstelle des Schlüssels mit dem riesenhaften langen Messingglobus gibt es hier Schlüsselkarten. Und, um der breiten Masse zu gefallen, werden Gegenstände, die einen persönlichen Touch verleihen könnten, strikt vermieden. Eins, zwei, drei könnte sich noch jemand heimisch fühlen.

Ich klinge verbittert. Das bin ich wohl auch. Trauer wird zu Taubheit und wird dann wieder von Wut übertrampelt. Eigentlich will ich nur sagen, dass ich kleine Pensionen bevorzuge, aber für die eine Woche wird dieses Hotel seinen Dienst tun.

Ich habe mir ein Zimmer für eine Woche genommen. Ich muss den Kopf frei kriegen; mir einen Plan machen, wie es weitergehen soll.

Auf meinem Zimmer angekommen, nehme ich erst einmal eine ausgedehnte Dusche. Die Trauer, bilde ich mir ein, habe ich hinter mir gelassen. Es geht jetzt auf zu neuen Ufern. Aber auch die Reise hat Spuren hinterlassen. Mein Gesicht fühlt sich trocken an. Salzige Tränen haben ihm die Feuchtigkeit entzogen. Der Schweiß der Nervosität entdeckt zu werden, klebt noch an meiner Haut. Ich genieße wie heiße Tropfen auf mein Gesicht plätschern und stelle mir vor, wie sie bei ihrem Aufprall bis an die verglaste Duschwand spritzen. Ich genieße wie sich noch warme Rinnsale meinen Nacken herunterbahnen; wie das Wasser von meinen mittlerweile durchnässten Haarspitzen tropft. Für einen Moment gewinne ich den Eindruck, als könnte mich die Dusche von meinen Sorgen reinwaschen; für einen Moment schaffe ich zu vergessen. Die letzten Spuren der Vergangenheit rubble ich mit dem Handtuch weg.

Doch sowie ich zurück ins Zimmer laufe und mein Blick auf mein Kostüm fällt - mein Outfit der ganzen letzten Tage und mein einziges Outfit vor Ort - merke ich schnell, dass es mehr braucht, als eine heiße Dusche, um die Vergangenheit zu bewältigen.

Es ist höchste Zeit, dass ich wieder mehr aus mir mache und meinen Kleiderschrank aufzubessern, ist kein schlechter Anfang. Ich befinde also Shoppen als den nächsten Schritt in mein neues Leben. So schlüpfe ich also zum x-ten Mal in mein Kostüm, schnappe mir meine Handtasche und bin auf dem Weg zur Einkaufsstraße, bevor ich "a" sagen kann.

Es ist schön, mich wieder in aufregenderen Klamotten wiederzufinden. Ich bin kein Model, gehöre nicht zu den herausragenden Schönheiten, aber ich habe eine ansehnliche Figur und durchaus ein attraktives Erscheinungsbild. Mein Verlobter hat mir nie Restriktionen bezüglich meiner Kleidung gemacht, aber ich wusste, dass ihm allzu aufreizende oder außergewöhnliche Outfits an mir missfielen und da ich auch ihm gefallen wollte, orientierte ich mein Einkaufs-Verhalten daran.

Erst jetzt fällt mir auf, wie ich es ausnutze, mich nach niemanden als mir selbst und meinem Geschmack zu richten. Ich habe mich in meiner Beziehung nie eingeschränkt gefühlt und dennoch habe ich das Gefühl, mich nun neu zu entfalten.

In Kürze werde ich Job-Interviews führen müssen und dazu mit angemessener Kleidung ausgestattet sein, aber erst einmal kaufe ich all das, was mir schlichtweg gefällt - ohne jegliche Beeinflussung.

Und dann spricht mich dieses verführerische Cocktail-Kleid vom Schaufenster an. Es ist schwarz mit einem aufgedruckten Blumenmuster, aber es wirkt überhaupt nicht fraulich. Mit seinem tiefen Ausschnitt bis fast auf Höhe des Bauchnabels wirkt es viel eher sexy und dennoch verspielt. Außergewöhnlich! Mit einem außergewöhnlichen Preis, wie ich feststellen muss, sowie ich in die Boutique gestürmt bin.

Ich habe auf meiner Arbeit gut verdient, aber ich werde den hiesigen Lebensstil nicht ewig führen können. Dennoch landet das Schmuckstück in meinen Einkaufstüten. Ich war schon immer der Typ, der sich ab und an gerne einmal etwas gönnte und ich halte fest, dass in der momentanen Situation, alles, was dazu führt, dass sich meine Stimmung aufhellt, gestattet ist.

Zurück im Hotelzimmer lasse ich mich erschöpft auf´s Bett fallen. Zum ersten Mal seit der Schreckensnachricht spüre ich neben der Schwärze, die mein Leben eingenommen hat, auch ein Gefühl der Befriedigung.

Als ich meine Augen wieder öffne, ist die Außenwelt bereits in ein schummriges Dämmerlicht gelullt. Ich muss wohl erschöpfter gewesen sein, als ich dachte. Meine Einkaufstüten liegen über Bett und Boden verteilt. Ich greife nach MEINEM Kleid. Der Stoff ist seidig weich und elastisch. Ich stülpe es über und erfreue mich daran, wie betörend es meine Hüften umschmiegt. "Ich sollte dich ausführen", murmle ich vor mich hin. Und das tue ich! Es ist 6 Uhr. Kein schlechter Zeitpunkt für einen Cocktail, befinde ich. Ich binde meine Haare zu einem legeren Zopf. Viel mehr gibt das wenige Equipment, was ich bei mir habe nicht her. Aber ich habe genügend Schminke, womit ich den Rest ordentlich aufpoliere. Um einiges mehr, als ich das für gewöhnlich tun würde. Selbstsicher bewundere ich das Resultat im Spiegel. Ich BIN eine attraktive Frau! Bewaffnet mit einer Clutch, die ich mir passend zum Kleid besorgt habe, begebe ich mich in Richtung Hotelbar, welche die Krone des Hotels im bildet. Á la "Sex and the City" und passend zur Metropole Berlin bestelle ich mir einen "Cosmopolitan" und versuche die Aussicht in mich aufzunehmen. Was mir nicht wirklich gelingt, denn ich kann dieser grauen Stadt nach wie vor nicht viel abgewinnen.

 

"Puh! Und ich dachte schon, ich wäre der Einzige, der sich um diese Zeit einen Drink genehmigt!", werde ich aus meinen Gedanken gerissen.

Ich schaue von ihm zu meinem Drink und zurück zu ihm.

"Ich schätze, ich kann Ihnen das nicht als Limo verkaufen, was?!", entgegne ich schmunzelnd.

Als Antwort legt er seinen Kopf schräg und verzieht seine Lippen zu einem gequälten Lächeln. Antwort genug.

"Darf ich?", er zeigt auf den Platz gegenüber.

Er ist um Einiges älter als ich. 10 Jahre wahrscheinlich. Sein volles Haar ist am Ansatz ergraut. Sein Gesicht ist vom Leben gezeichnet und dennoch strahlt er eine Anziehungskraft wie George Clooney aus. Er hat einen sexy Drei-Tage-Bart, der seinem perfekt-sitzenden, azurblauen Anzug mit passender Krawatte die Steifheit nimmt.

Ich bin aus der Übung und normalerweise hätte ich jeden Flirt ausgeschlagen aus Angst ihn mit Schüchternheit schnell zum Erliegen zu bringen. Aber die hiesige Situation ist alles andere als angespannt. Er strahlt eine Ruhe aus, die sich auf mich zu übertragen schien.

"Bitte", ich gebe ihm mit einem ruhigen, langsamen einzigen Nicken zu verstehen, dass er willkommen sei.

"Bruno", er reicht mir die Hand quer über den Tisch, nachdem er sich gesetzt hat.

"Maria", entgegne ich ihm mit einem Lächeln.

Sein Händedruck ist fest und warm. Nicht so fest, als dass es den Eindruck erwecken würde, dass er mir etwas zu beweisen hätte. Fest als ein Zeichen von Sicherheit. Seine Hand ist nicht schwitzig oder kalt vor Nervosität. Ihre Wärme durchflutet meinen Körper angenehm.

Er dreht sich zur Bar und gibt dem Kellner zu verstehen, dass wir das jeweilige Getränk ein zweites Mal wünschen.

Bruno ist sicher nicht aus der Übung.

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