Rahel

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Für Rahel selbst war diese Art von ehrlichem Denken und ehrlichem Mitteilen der Gedankenresultate so sehr geistige Lebensbedingung wie das Ein- und Ausatmen es im körperlichen Sinne war. In dieser Lebensnotwendigkeit der Ehrlichkeit liegt das, was Rahel am tiefsten von anderen unterscheidet. Alle denken mehr oder weniger zu gunsten eines bestimmten Glaubens, Gedankens oder Gefühls und enthalten sich selbst und anderen das vor, was diesen widerstreiten könnte. Rahel ist hingegen, wie sie selbst sagt, »unschuldig« in ihrer Gedankenarbeit. Was Rahel bei Angelus Silesius liebt, daß er sich unschuldsvoll fragend an Gott wendet, keine Antwort verlangt, und keine Behauptungen aufstellt, sondern voll von »demütigem Verzicht« ist und zugleich eine »Kinderseele voll Mut«, dies alles kann man von Rahel selbst sagen. Diese Kindlichkeit Rahels heben auch ihre Freunde hervor.

Sie ist die Grundlage ihres Mutes, über alles geradeheraus zu sprechen, unbekümmert wie es wirke, naiv-tiefsinnig wie das Kind es tut, das Kind, dem das Ueberlieferte, das Traditionelle, das Anerkannte noch nicht seinen bewaffneten Hinterhalt, seine Zäune aus Stacheldraht gezeigt hat, sondern das sich unerschrocken und ungezwungen bewegt, solange es voraussetzungslos, selbstdenkend ist, ein Selbstentdecker. Aber das blieb eben Rahel all ihr Lebtag. Rahels Einfluß auf ihre gleichalterigen Freunde wirkt namentlich in dieser Richtung, wie die angeführte Aeußerung gegen Bokelmann zeigt. Der hochbegabte Arzt Daniel Veit, Rahels ältester Freund, erzählt, wie willig er sich von Rahel leiten ließ, denn sie wollte nicht herrschen, obgleich sie es unbewußt durch die Macht der höchstmenschlichen Natur tat, durch ihre »liebe, fürstliche Seele«.

G. von Brinckmann – ein Schwede von Geburt, der aber an einer deutschen Universität seine Bildung erworben und sich dann als Diplomat in Europas Hauptstädten die feinste Kultur der Zeit angeeignet hatte – ist schon in Rahels Jugend einer ihrer verständnisvollsten Freunde. Er, wie Veit, schreibt Rahel einen tiefen Einfluß auf seine Entwicklung zu. Brinckmann sagte, daß er durch Rahels Ermahnungen zum »Geistesmut« einen so starken Eindruck empfing, als wäre er plötzlich in eine neue Geisteswelt versetzt worden. Rahels Geisteskraft, ihre Selbständigkeit, ihre Ueberzeugung, daß man »höhere Sittlichkeit durch höhere Freiheit« erreicht, all dies wandelte in mehreren Fällen seine eigenen Gesichtspunkte um. »Was ich bei den Weisen, den Frommen vergebens gesucht: unverschleierte Wahrheit, Selbständigkeit des Geistes und Innigkeit des Gefühls, kam mir in dem Dachstübchen dieser seltenen Selbstdenkerin als eine geheiligte Offenbarung entgegen«, schreibt Brinckmann. In ihr »heilig klopfendes Herz« zu blicken, vertrauten Gedankenaustausch mit ihr zu pflegen, wurde ihm, sagt er, ein Bedürfnis, so leidenschaftlich wie eine Liebe. Vor Weisen und Fürsten rühmte er sich, Rahels Schüler gewesen zu sein; und sein ganzes Lebenlang dauerte ihr Einfluß auf ihn gleich »geisteskräftig und hochmenschlich« fort.

Ihr ganzes Lebenlang sagt Rahel in hundert verschiedenen Wendungen, sie habe immer gewußt, daß sie nichts anderes besitzen könne und würde als sich selbst; sie habe sich darum »an die Kraft ihres eigenen Herzens« und an das gehalten, »was mein Geist mir zeigt«; sie habe gewußt, daß nur, wenn sie sich in den ihr von der Natur angewiesenen Gebieten halte, sie »mächtig« sei, in allen andern »nichtig«. Oft spricht sie auch über »den großen durchgehenden Zusammenhang aller meiner Fähigkeiten, den ewig unzerstörbaren Zusammenhang und das unaufhörliche Zusammenwirken meines Gemütes und meines Geistes.«

In diesem Sinne kann sie sagen: »Ich bin so einzig als die größte Erscheinung dieser Erde. Der größte Künstler, Philosoph oder Dichter ist nicht über mir. Wir sind vom selben Element, im selben Rang und gehören zusammen.« Diese Aeußerung Rahels muß im Zusammenhang mit ihrer oben geschilderten Wesensart verstanden werden. Wer die angeführten Worte als Ueberhebung auslegt, weiß nichts von der Selbstgewißheit der großen Individualität, einer Gewißheit, die ebenso gebieterisch ist wie die jeder anderen Genialität.

Daß Rahel unablässig den Wert der Individualität verkündigte, hätte nicht viel bedeutet, wenn sie ihn nicht auch zugleich selbst verkörpert hätte. Vom Beginn ihres Lebens bis zu seinem Ende, von der ersten Stunde eines jeden Tages bis zur letzten, kam bei Rahel niemals das vor, was sie mit einem glücklichen Ausdruck »Lebenspausen« nannte. Alle erinnern wir uns an Stunden und Zeiten, die nicht vom eigensten Leben der Persönlichkeit durchdrungen waren; wo wir uns aufs Geratewohl treiben ließen, wo der Bogen des Willens erschlafft war oder ein anderer ihn spannte; wo wir in einer Art Halbschlummer der Seele gehandelt, gesprochen, geurteilt haben. Es gibt kaum eine große Persönlichkeit, bei der man solche Pausen nicht nachweisen könnte: bei Rahel niemals. Betrübt oder fröhlich, krank oder gesund, ruhend oder tätig, schenkte sie aus der Fülle ihres Wesens den Becher des Augenblicks bis zum Rande voll. Dies wird uns durch alles bestätigt was Rahel geschrieben und durch alles, was über sie geschrieben worden ist. Daß sie in einem »Wald von Menschen« lebt, hindert sie wohl wie jedes von uns Gesellschaftswesen ihre eigenen Zweige so weit auszubreiten, als sie reichen könnten. Aber es wandelt ihr Wesen ebensowenig um, als z. B. das Wesen der Buche von dem rings herum wachsenden Tannenwald umgewandelt wird. Sie ist ebenso naturnotwendig und naiv wie der wachsende Baum, sie selbst – wenn auch nicht ihr ganzes Selbst. »Warum sollt' ich nicht natürlich sein?« ruft Rahel aus: »Ich könnte nichts Besseres und Mannigfaltigeres affektieren.« Ein andermal: »Wenn eine Guillotine vor mir stünde, wüßt ich's nicht zu sagen, was ich bin: hilfreich bin ich und atmend, sonst kann ich mich auf nichts besinnen.«

Die hier unten zusammengestellten Aeußerungen sind beide charakteristisch. Denn Rahels Bewußtsein ihres Wesens und Wertes ist ebenso wirklich wie ihre Unbewußtheit, was nur dem in seelischer Beziehung rohen Menschen unmöglich scheint und doch der für alle großen ursprünglichen Naturen charakteristische Zug ist! Gerade weil Rahel in jedem Augenblick einheitlich ist, hält die eine Eigenschaft der anderen das Gleichgewicht: ihre Reizbarkeit wird nicht hysterisch, ihre Empfindsamkeit nicht sentimental, ihr Witz nicht ironisch, ihre Analyse nicht Vivisektion, ihre Unmittelbarkeit nicht kindisch und ihre Bewußtheit nicht Selbstbespiegelung. Geist und Gemüt, Grübeln und Handeln, Ernst und Heiterkeit, alles ist bei ihr aus einem Gusse; nichts widerspricht sich oder hebt sich auf, alles bekräftigt und steigert sich in dieser einheitlichen Natur. Psychologen, vor allem Schleiermacher, betonten gerade diesen Zug als Rahel Grundwesen. Man sehe den Abschnitt »Geselligkeit«

* * *

Daß das Unbewußte die Kraftquelle unserer Natur ist, drückte Rahel unter anderem mit diesen Worten aus: »Im wahren, festen Schlaf geht die Seele nach Hause, sie badet in Gottes See, sonst hielt' sie nicht aus.«

Aber zugleich weiß Rahel, daß der Grundtrieb ihres Wesens der Durst nach Klarheit ist. Ihre ehrliche, scharfsinnige Selbstanalyse sagt ihr, daß dieser Trieb bei ihr nicht nur der allgemeine der Menschennatur ist, sondern zugleich eine Notwehr: nur das Denken über die Dinge hält die Fugen ihres Wesens zusammen, so explosiv wirken die persönlichen Erlebnisse in ihr. Sie kann nichts ruhig nehmen: alles, wofern es überhaupt die Macht hat, sie zu berühren, wird »unübersteiglich wichtig«; und sie hat ohne Zweifel recht, wenn sie sagt, daß sie dem Wahnsinn nahe wäre, wenn sie nicht zu ihren anderen Leidenschaften auch die hätte, über die Dinge nachzudenken, sie nicht nur zu durchleiden. Mit anderen Worten, zu ihren übrigen Leiden hat sie auch noch die Leiden des Denkens.« »Ich muß von allem wissen, wie es wird, wie es ist. So habe ich von Kindheit an den größten Trieb gehabt, Leichen zu besehen.« »Ich wäre ein sehr für aller Augen verkrüppeltes Geschöpf geworden, läge nicht großartige Betrachtung der Natur aller Dinge in mir und jenes Vergessen der Persönlichkeit, ohne welches die genialischsten Menschen auf der Erde und in jeder Wissenschaft keine wären.« »Von Jugend an ging es reich und der Wahrheit gemäß in mir her. Natur wirkte scharf und richtig auf scharfe Organe: ein felsenfestes, empfindliches Herz hatte sie mir mitgegeben, das alle anderen Organe immerzu und redlich belebte.« Ein andermal: »Die Gaben, die ich habe, hat man nicht umsonst: man muß dafür ausstehen! Mein scharfes Wissen, Sondern und Scheiden, das große Meer in mir, mein präziser, tiefer großer Zusammenhang mit der Natur; kurz das bißchen Bewußtsein darüber, was hier doch soviel wert ist, kostet mir was! Welche Schmerzen, welche Unruhe, welches Vermissen läßt das aufschießen und wie muß ich es verarbeiten!«

Rahels obenerwähnte kindliche Unbefangenheit tritt am klarsten auf ethischem Gebiet hervor, wo sie landläufige Werte ebenso freimütig wie gründlich umwertet. Sie weiß wohl, daß das Bedürfnis nach Sittlichkeit ewig fortlebt, aber auch, daß die Begriffe der Sittlichkeit nicht unverändert bleiben können. So sagt sie: ... »Die Gegenwart krankt an solchen alten Vorstellungen ... Das ganze Dasein ist progressiv, gewinnt unaufhörlich an intensiver Anschauung; auf diese Art vervollkommnet sich das Erdenleben und jenes Leben, das nicht in seine Grenzen fällt. Je mehr Einsicht wir erlangen, desto mehr werden wir mit dem Leben selbst übereinstimmen ... Das Leben ist keine tote Wiederholung, sondern eine Entwicklung zu Erkenntnis und durch Erkenntnis.« ...

Aber Rahel meint, daß man gerade auf dem Gebiet der Sittlichkeit diese Entwicklung am allerwenigsten anerkennen will. Und dadurch wird das Dasein disharmonisch, weil man die Handlungen, zu denen man von der Entwicklung getrieben wird – die sogenannten »Verbrechen« – nicht mit Gewissensruhe begeht. »Wir zerstückelten Neuerer! ›Ruchlos‹ müssen wir gleich sein, uns schelten lassen und doch Lumpen bleiben, mit unseren Sittchen und auch Gesetzchen! Kranke Europäer nenn' ich uns immer in meinem Kopf ...«

 

Unter diesen neuen ethischen Begriffen verkündet Rahel auch den, daß die Freiheit eines Menschen das Recht bedingt, wenn er nicht länger leiden will, aufzuhören, zu leben. Sie ruft im Hinblick auf Selbstüberwindung und Geduld im Leiden aus: Unsere Nerven und Fibern, unsere Wünsche können wir doch nicht unterdrücken; sollten diese allein unheilig sein, sollte man sie nicht mit derselben frommen Scheu betrachten wie andere Werke der Natur, ja, als Ausdrucksformen der tiefen Forderung in uns, das Rechte zu erreichen? Ich weiß, daß es nur ein unerträgliches Uebel gibt: wenn man dieses Bedürfnis nicht befriedigt hat, und das Gewissen darum krank ist. In Heinrich von Kleists letzten Jahren war er oft bei Rahel, die unter seinen Leiden litt. Nach seinem Selbstmord sprach Rahel schon die Anschauung der höchstentwickelten modernen Menschen über einen solchen »Freitod« aus, um F. Mauthners neues und schönes Wort für die verfeinerte Auffassung dieser Tat zu gebrauchen. Sie freut sich, daß ihr Freund »das Unwürdige nicht duldet« und weiß, daß ihr Verständnis das einzige ist, womit sie jetzt noch sein Andenken ehren kann. »Ich mag es nicht, daß die Unglückseligen, die Menschen bis auf die Hefe leiden ... Unglück aller Art dürfte mich berühren! Jedem elenden Fieber, jedem Klotz, jedem Dachstein, jeder Ungeschicklichkeit sollte es erlaubt sein, nur mir nicht? ... Es ist und bleibt ein Mut. Wer verließe nicht das abgetragene, incorrigible Leben, wenn er die dunkeln Möglichkeiten nicht noch mehr fürchtete? Uns loslösen vom Wünschenswerten, das tut der Weltgang schon.«

Aber der freiwillige Tod soll eine bewußte, nicht eine verworrene Handlung der Persönlichkeit sein, meint Rahel. Sie weiß, daß wir nur so mit unseren sogenannten Verbrechen wirklich sittliche Handlungen vollbringen. Sie – die Wahrheitsfanatikerin – kann darum sagen:

»Die Lüge ist schön, wenn wir sie wählen, und ein wichtiger Teil unserer Freiheit; erniedrigend aber, wenn wir dazu gezwungen sind.«

Sie kann mit bezug auf einen hochentwickelten Menschen (W. v. Humboldt) sagen:

»Er ist so weit voraus in seinen Ideen, daß doch nicht mehr die Rede davon sein kann, ob er gut oder nicht gut sei, das liegt fern unter ihm.«

Sie weiß, daß es eine erste Unschuld gibt, die das Böse nicht ahnt; eine zweite, die jenseits von Gut und Böse angelangt ist Und sie sagt:

»Unschuld ist schön: Tugend ist ein Pflaster, eine Narbe, eine Operation.« Sie weiß, wie wenig diese Art von Tugend wert ist:

»Gut sind die Menschen alle, aber sie taugen nichts!« Sie weiß, daß die persönliche Sittlichkeit die verantwortungsvollste ist. Sie spricht einen Gedanken aus, der mit einem von George Eliot zusammenklingt: »Unsere Handlungen sind die Kinder unseres Geistes ... Wie sie auch werden, müssen wir sie uns gefallen lassen, sie haben ein so selbständiges Leben, daß sie uns umbringen können ... Sie haben wieder Kinder und werden zu ganzen Geschlechtern.«

Aber während George Eliot diesen ernstesten ethischen Gedanken der neuen Zeit dazu verwendet, die alte Moral einzuprägen, hat Rahel den Mut, diese in wichtigen Teilen zu verwerfen. Aus dem hier Gesagten geht hervor, daß Rahel mit mehr Berechtigung eine Prä-Nietzscheanerin genannt werden kann als eine Romantikerin. So wie Nietzsche übt sie Rücksicht, Pflichttreue, Selbstzucht. Aber sie wie er wollen eine Umwertung gerade jener Tugenden, die sie ausüben, weil sie an sich selbst erprobt haben, welche Gefahren diese Tugenden für ein vollmenschliches Dasein bergen können.

Eine Tugend, sagt Rahel, kann viel schlimmer sein als eine Leidenschaft, und die Pflichterfüllung ist oft nichts anderes als eine Form der Umständlichkeit und Wichtigtuerei. Sie verabscheut die Lehre, daß Leiden und Dulden unbedingt eine Tugend sei. Mutig anzugreifen, was unsere Natur leidenschaftlich verlangt, ist für sie eine größere Tugend, und sie unterschreibt mit vollster Zustimmung Goethes Worte: »In allen Stücken billig sein, heißt sein eigenes Selbst zerstören.« Rahel war zu ehrlich, um zu glauben, daß wir andere ebenso lieben können wie uns selbst, außer in einem sehr großen und seltenen Gefühl. Und sie wußte, daß ihre eigene Neigung, andere höher zu stellen als sich selbst, sich selbst aufzuopfern, eine Schwäche, nicht eine Tugend war. Durch diese allzugroße Rücksicht, sagt Rahel, »zerstör ich mich denn wirklich, die in manchen Stücken stark und zu was anderem von der sorglos verschwenderischen Natur bestimmt war: So ist's! So muß ich weiter sterben: viel bin ich schon gestorben ...«

Im Zusammenhang mit diesen Worten macht sie die Bemerkung, sie wisse, daß »etwas von Adlernatur« unentbehrlich sei, um das Leben zu leben, aber ihr fehle leider diese Art Natur.

Wenn Rahel sich der übertriebenen Rücksicht beschuldigt, die sie gehindert hat – im vollsten Sinne des Wortes – zu leben, dann darf man nicht vergessen, daß sie stets ihren unbedingten Mut auf dem Gebiet des Denkens und der Meinungen betont. Für keines Menschen Liebe opfert sie je ihre »besseren Ueberzeugungen«, sagt sie. Mit Recht sagte F. Schlegel – in bezug auf ihr Fernhalten von den vielen Brüderschaften der Zeit – von ihr: Sie war zu »eminent eine Person«, um sich in irgend einen Zwang finden zu können, der auf ihre geistige Freiheit ausgeübt wurde. Wenn sie also selbst ihre Feigheit tadelt, ist es ausschließlich in dem Sinne, daß sie ihre »persönlichen Lebensforderungen« in jenen Fällen unerfüllt gelassen, wo diese Erfüllung eine Verletzung anderer oder der überlieferten Moral gewesen wäre.

In einer Beziehung fallen die ethischen Ideale Goethes, der Romantik, Rahels und Nietzsches vollständig zusammen: in dem Gefühl, daß echte Sittlichkeit erst dann eintritt, wenn man seine eigene Wesentlichkeit gefunden und das gute Gewissen hat, nach dieser seiner Wesentlichkeit zu leben. Aber während die Romantiker ein »Sich-Ausleben« derselben Art gutheißen, wie heute Nietzsches schlechte Schüler – d. h. ein Sich-Ausleben, wo nicht die Wesentlichkeit, sondern der Zufall die Triebkraft ist – war Rahel wie Goethe, wie Nietzsche durchdrungen von der Notwendigkeit, seine Wahl zwischen der Wesentlichkeit und dem zu treffen, was in unseren Neigungen nur Roheit oder Zufall oder Laune oder Zeitrichtung ist.

So z. B. mißbilligte Rahel wie Goethe das romantische Spielen mit Liebe und Ehe, deren Auflösung beide berechtigt fanden, wenn ein echtes Gefühl sie verlangte, nicht aber auf Grund von Moderichtungen im Gefühlsleben, Richtungen, denen sogar der Ernst zu einer Leidenschaft fehlte. Die Sittlichkeitsfanatiker bedienen sich jetzt einiger – gerade durch eine der leichtsinnigen Scheidungen der Zeit veranlaßt er – Worte Goethes über die Heiligkeit der Ehe, um ihn als Hüter der Heiligkeit der Ehe hinzustellen. Daß er das tiefste Gefühl seines Lebens einer verheirateten Frau entgegenbrachte und sich nur sehr spät entschließen konnte, seine eigene »freie Liebe« zu legalisieren, das müßten doch Tatsachen sein, die Goethe von dem Verdacht befreien, daß er in der Ehe die unerschütterliche Norm der erotischen Sittlichkeit gesehen habe – falls man nicht behaupten will, daß sein Leben und seine Lehren in schreiendem Widerspruch miteinander standen! Aber er, der wollte, daß jede Aufgabe mit Ernst erfüllt werde, betrachtete auch die Aufgabe der Ehe als eine ernste, eine für die er selbst nach seinen eigenen Worten nicht taugte, und die er auch darum erst sehr spät im Leben auf sich nahm.

Aber viel bestimmter als Goethe verficht Rahel in jedem Alter ihres Lebens die Freiheit der Liebe; und daß die Romantiker, sowie später Jungdeutschland dasselbe taten, hat mit ihren Ansichten über diese Dinge nichts zu schaffen. Wie Rousseau, wie Goethe, wie die Romantiker, wie die ganze neue Zeit schöpft sie ihre erotischen Lehren aus ihren eigenen Beobachtungen, aus ihrer eigenen Seele und deren Macht persönlich und leidenschaftlich zu lieben: keiner ist des anderen Lehrer, wenn auch der Zeitgeist den Mut gibt, seine Ansichten zu bekennen und nach ihnen zu handeln. In jeder Epoche ihres Lebens vertritt Rahel das, was man die Weisheit des Herzens nennen möchte, unter der Voraussetzung, daß man wirklich seinem Herzen folgt, nicht eines jener »Simulacres« veranstaltet, deren Jämmerlichkeit die Liebe selbst in Verruf bringt. »Das Herz ist ganz im Dunkeln, ganz allein, möchte man sagen, und weiß ganz allein alles besser. Nur wenn man dahin sieht, findet man Erkenntnis; weil die verwirrenden Lichter der ganzen Welt nicht hinlangen; und es wie ein Maß einer anderen Welt in uns lebet; als ein Ja oder Nein: sonst nichts.«

»Immer toller, alle Tage wahnsinniger kommt es mir vor, je mehr ich die Welthändel sehe und bedenke, daß man seinem innersten Herzen, nicht lebt. Dies zu tun, hat solchen schlechten Ruf, weil Simulacres von ihm herumlaufen ... Aber rein wie ein Keimblättchen in einer Mandel, so zart ist der innere wahre Wunsch, wie heilig!« ...

Bei Rahel wie bei den Romantikern – wie auch bei Schleiermacher – ist die Forderung der Freiheit der Liebe eine notwendige Folge der Forderung des Individualismus, der Eigenart in allen Lebensäußerungen, vor allem auf den Gebieten, wo die Persönlichkeit ihren höchsten Ausdruck findet: der Liebe, dem Glauben, dem Schaffen. Rahel bringt ihre Ueberzeugung – daß der Mensch nur, wenn er den innersten Forderungen seiner Natur folgt, sich selbst treu ist, und nur wenn er sich selbst treu ist, sittlich ist – mit größter Konsequenz in ihrem Urteil über Menschen, die auf erotischem Gebiet nach ihrem Herzen leben, zur Anwendung. Eine ihrer Freundinnen sagte, daß kein Mensch in dem Grade alles verstand wie Rahel. Aber dabei gilt ein Vorbehalt: Nur da, wo sie Natur und Wahrheit begegnete; denn das Gemachte und Unechte hatten in ihr einen unerbittlichen Richter.

* * *

Die Naturen, die man am raschesten bezeichnet, wenn man sie heidnisch-hellenische nennt, besaßen Rahels unbedingte Liebe: Pauline Wiesel, die die Männer als die vollkommenste Offenbarung des »Griechentums« begeisterte, war und blieb Rahels liebste Freundin, durch die volle naive Ehrlichkeit, mit der sie ihrer eigenen heidnischen Natur gemäß lebte. Als Pauline ihren Mann, Kriegsrat Wiesel, verließ, schenkte Rahel ihr ihre volle Zustimmung: »Zum Leiden ist Ihr starkes Herz nicht gemacht«, schrieb Rahel. Als Prinz Louis Ferdinands – und vieler anderen – Geliebte zeigt Pauline in ihrer Liebe eine solche Flatterhaftigkeit, vereint mit einer solchen Unschuld, einer solchen Gewissensruhe, einer solchen Güte, daß sie wie eine lebendig gewordene Philine wirkte. Die Kraft und die Echtheit ihrer Natur flößen Rahel nicht allein unveränderliche Zuneigung ein, sondern auch Bewunderung. Paulinens griechische – oder kindliche oder göttliche – Naivität in bezug auf die Freiheit der Liebe, ein Recht, das ihr ebenso unbestreitbar schien wie den olympischen Göttern, war von Rahels eigener Lebensführung so weit als möglich verschieden. Aber Pauline hatte so nach Rahels Meinung, von der Naturseite gesehen, ein vollmenschlicheres Dasein geführt als Rahel selbst. Ja, sie stellt Pauline mit sich selbst zusammen: »Groß verfuhr die Natur mit uns beiden ... Wir sind geschaffen, die Wahrheit in dieser Welt zu leben ...« Und sie bedauert, daß sie selbst nur auf dem Gebiet des Gedankens in Wahrheit gelebt hat, während Pauline den Mut und das Glück hatte, auch in ihrem Leben wahr gegen ihre innerste Natur zu sein. Damals selbst verheiratet, gab Rahel ihrer Sympathie für Pauline Wiesel unbedingten Ausdruck: Sie sah, was ich sah, verstand, was ich verstand; wir lachten, beobachteten, bewunderten und verachteten zusammen. Sie hatte Gefühl für das bekräftigende, verstandene Dasein in einem anderen. Und wenn sie gefühllos schien, war es nur, weil sie – wie ich selbst – unter ihrem allzutiefen Mitgefühl litt, Sie und ich konnten erschüttert werden wie kein anderer. Sie war eine erobernde, kriegerische, leichtsinnige oder besser leichtlebende Natur; tiefer wahrer, klarer fand ich keine.

Rahel hatte nicht nur das Gefühl, daß sie und Pauline beide in seltenem Grade »der großen, dunkeln, hellen, Leben und immer Leben wirkenden Natur« angehörten; nein, sie meint, »einen wollte die Natur aus uns machen, und zwei mußte sie machen«. »Und darum«, sagt Rahel mit einer jener leichthingeworfenen Aeußerungen, die unendliche psychologische Perspektiven eröffnen, »handelt sie für mich«. Varnhagen, der sich für Rahel durch diese Zusammenstellung ihrer selbst mit Pauline Wiesel verletzt fühlte, betont, daß die letztere eine Doppelnatur war, während Rahel ihre außerordentliche Macht und ihren Zauber durch die vollkommene Einheitlichkeit ihrer Natur ausübte. Und ganz gewiß ist Rahel in einem Grade einheitlich, wie man es selten findet: Genie, Gemüt, Instinkte wirken zusammen und stärken sich gegenseitig, anstatt wie bei den meisten im Kampfe miteinander zu stehen. Aber Rahel selbst hat allzuoft ihren Unmut über die Disharmonie zwischen ihrem Willen und ihrem Mut zum Handeln betont, als daß man sie in dieser Beziehung nicht ernst nehmen müßte, und man darf nicht das an ihr preisen, was sie selbst eine Schwäche nannte: daß sie das nicht wagte, was sie ihrer innersten und von ihrem Gewissen gebilligten Natur nach wollte. Sie weiß, daß oft das »bessere Bewußtsein« das verlangt, was die Gesellschaft »Sünde« nennt, und daß es eine größere Sünde sein kann, sich die Glücksmöglichkeiten des Lebens entgehen zu lassen oder seine Lebensirrtümer geduldig weiterzuschleppen. Keine asketische oder christliche Ueberzeugung hemmt Rahel. Aber die tief im Blut steckende Geduld ihrer Rasse, die väterliche Tyrannei, die körperliche Schwäche, die Ueberzeugung, der Anmut zu entbehren – Rahel hielt ihr Aeußeres für unbedeutend, ohne irgend etwas Einnehmendes – all dies zusammen hatte ihren Lebensmut geknickt.

 

Und ist dieser einmal geknickt, dann kann er ebensowenig wieder flugtauglich werden wie ein gebrochener Flügel Rahel war wie alle großen Naturen opferwillig und anspruchsvoll geboren. Daß sie die erstere Grundforderung vollauf befriedigen konnte, tröstete sie niemals darüber, daß das Leben ihr soviel schuldig geblieben war. Denn sie war ja überzeugt, daß ihre ganze Natur »etwas Gottgewolltes« war, und ihre Forderungen ebenso heilig wie ihre Opferlust.

* * *

Pauline Wiesel ist jedenfalls der schlagendste Beweis für Rahels Stellung zur Freiheit der Liebe, aber es gibt noch viele andere Beispiele. Zu diesen gehört die böhmische Gräfin Josefine Pachta, die durch ihre blonde Schönheit und ihre frische Liebenswürdigkeit wie eine Naturkraft wirkte, ein sonniges Waldkind. Diese Freundin wurde Rahel noch teurer, als sie ihre glänzende äußere Stellung von sich warf, um Meinert, dem Gegenstand ihrer Liebe zu folgen, der sie Ehre und Ansehen opferte. Wenn Rahel die bedeutendsten Eindrücke zusammenfaßt, die sie von Frauen empfangen, nennt sie Josefine Pachta den größten weiblichen Charakter, den sie gekannt, weil nichts sie abhalten konnte, nach ihrer Ueberzeugung zu handeln. Als Dorothea Mendelssohn sich von ihrem Manne trennte und – ehe sie noch gesetzlich vereint werden konnten – jahrelang in einem freien Verhältnis mit F. Schlegel lebte, stand Rahel ihnen getreulich zur Seite. Eine vierte von Rahels Freundinnen, Auguste Brede, lebte in einem »illegitimen« Verhältnis mit dem Grafen Bentheim, und Rahel billigte nicht nur die Handlungsweise der Freundin, sondern wohnte während ihres eigenen Aufenthaltes in Prag bei ihr. Hingegen konnte sich Rahel nicht mit Henriette Herz' erotisch-ästhetischem Flirt aussöhnen, der niemals die Grenzen der »Tugend« überschritt, aber eine solche Art von kaltem »Simulacre« zeigte, wie es Rahel antipathisch war, während sie versichert: »echte Frivolität lieb ich unaussprechlich!« Auch bei den Männern liebte Rahel die so gearteten Naturen wie Pauline Wiesel. Ihre Günstlinge waren z. B. Prinz Louis Ferdinand und Gentz. Wenn Fanny Lewald in ihrem Roman »Prinz Louis Ferdinand« Rahels Verhältnis zum Prinzen eine erotische Färbung gibt, so ist dies eine vollkommen aus der Luft gegriffene Phantasie ohne jede Begründung in der Wirklichkeit. Rahel selbst nennt das Verhältnis »beinahe fast unpersönlich«. Bei Rahel klagte er über Pauline Wiesel, seine flüchtige Geliebte, und Rahel hatte die undankbare Aufgabe, Beider Vertraute zu sein. Oft kam der Prinz in Rahels »Dachstube«, um eine teilnehmende, tröstende Freundin zu finden, deren Freundschaft ihm »viel süßer als alles übrige« dünkte. Rahel sah seine »Vielverworrenheit« ein, während sie zugleich seine feine Seele liebte und ihr Versprechen hielt, ihm »derbe Dachstubenwahrheiten« zu geben, wenn er sie brauchte. Rahel bedauerte, daß ihr Briefwechsel verloren gegangen war, denn – sagt sie – er ehrte sie beide; sie durch die vollkommene Ehrlichkeit, mit der sie dem Prinzen strenge Wahrheiten sagte, ihn durch den Edelmut, womit er sie aufnahm, in dem Gefühl daß »die Kleine«, wie er sie nannte, stets seine feinere Seele gegen die gröbere beschützte.

Denselben Klarblick für seine vielen Fehler und dieselbe Vorliebe für seine innerste Persönlichkeit zeigt Rahel Gentz gegenüber. Bei diesem so verschieden beurteilten – zumeist verurteilten – Weltmann und Staatsmann hatte Rahel ein echtes »Kindergemüt« entdeckt, mit »der ungetrübten, blumenreinen Wahrhaftigkeit, die ewig Naivität gebiert, zum Lächeln und zum Lieben«. Dieses Gemüt liebte Rahel unveränderlich bei diesem Mann, der gerade dadurch charakterlos wurde, daß er wie ein Kind war, ein sorgloser Mensch des Augenblicks, der alle seine Schwächen mit vollster Offenheit zeigte. Die Frauen verziehen ihm wegen seines bezaubernden Wesens; die Männer wegen seiner glänzenden Gaben, zu denen auch die gehörte, alle seine übrigen nur in diskretester Weise zur Geltung zu bringen. Er ergriff z. B. erst nach längerem Schweigen und Zögern, nach schüchternen Versuchen allmählich den Gesprächsfaden in einer Gesellschaft, um ihn – als einer der glänzendsten Causeure seiner Zeit – seidenfein und farbenschimmernd weiterzuspinnen, so wie es kein anderer im gleichen Grade vermochte.

Rahel hinwiederum verzieh ihm wegen jener Eigenschaft, die man nach Belieben Gewissenlosigkeit, Gewissensfreiheit oder Gewissensruhe nennen kann! Rahel war für Gentz wie für Prinz Louis Beichtmutter, Trösterin, Orakel. Er hat dasselbe tiefe Verständnis für ihr Wesen wie sie für das seine. Nichts ist für beide bezeichnender als ihre Briefe, als Gentz sich auf seine alten Tage mit dem Feuer eines Jünglings in die Tänzerin Fanny Elßler verliebte. Rahel beglückwünschte ihn in den wärmsten Worten, daß er in seinem Alter noch zu so schönen Gefühlen imstande war. Während andere für Gentz' Leidenschaft nur frivole Witze hatten, sah Rahel so tief in seine Natur, daß sie sein Gefühl mit ihrem eigenen für ihre Nichte vergleicht, Rahel fühlte durch diese, daß sie noch ein »Liebherz« hatte, aller Qualen und Freuden der Liebe fähig. Mit vollem Recht schrieb Gentz, daß Rahel die einzige war, der er das Gefühl zu beichten wagt, das ihn aus einem Greise wieder zu einem Jüngling gemacht, denn sie allein war tief genug, um darin den Beweis zu sehen, daß er in sich »eine reine und echte Menschlichkeit« bewahrt habe. Durch die »Segensströme«, die durch seine »paradiesischen Briefe« veranlaßt, ihm aus Rahels Herzen entgegeneilen, findet man auch, daß Rahel in der ewigen Jugend des Gefühls – vor allem in der nicht einmal von den Jahren zu besiegenden Stärke der Liebe – den stärksten Beweis für die Unsterblichkeit sieht. »Gut bestellte Herzen können immer verliebt sein, wollen es immer«, das sind Rahels Schlußworte über Gentz' neue Liebe. Und als Fanny Elßler nach Berlin kam, behandelte Rahel die junge Tänzerin – die zugleich eine Meisterin in der Kunst war, die Rahel so sehr bewunderte – wie eine Tochter.

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