Fußball-Taktik

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Themen gibt’s noch reichlich

Kann sich ein Trainer Fußballspiele überhaupt noch entspannt anschauen, sie einfach nur genießen? Oder bedeutet jedes Tor gleich auch wieder ein Ärgernis über die Fehler im Abwehrverhalten? »Im Fernsehen kann ich mir ein Spiel durchaus vollkommen entspannt angucken, denn dort habe ich nicht den Gesamtblick. Bei diesen Ausschnitten gucke ich mir nur das Elementare an, wie sich ein Spieler verhält, beispielsweise ob er offen annimmt oder nicht. Gerade heute Morgen habe ich mir Matti Steinmann vom Hamburger SV angeschaut. Ihn möchte ich zur U20 einladen, daher habe ich seine Spielweise beobachtet. Man sieht den Schulterblick, den macht er sofort, er schlägt die Bälle beidfüßig aus dem Stand heraus, und er nimmt den Ball nach vorne an und guckt zuvor, wo er steht. Das sind Zeichen, an denen ich erkennen kann: Ja, der ist gut geschult. Sobald aber das Spiel groß wird wie im Stadion oder beim Betrachten über Scouting-Feed (Anmerkung: Die Videodaten der Liga-Partien werden in Form eines online verfügbaren Archivs zum Download für Vereine und Verbände bereitgestellt, dem sogenannten Scouting-Feed.), bei dem ich über eine Großaufnahme verfüge, dann schaue ich auf das gesamte Mannschaftsverhalten: Rücken die Spieler schnell nach, schieben sie gut herüber auf die Seite, wie eröffnen sie das Spiel von hinten heraus, wie verhält sich der Siebener? Dann wird es eher analytisch als entspannend.«

Wobei wir wirklich ganz entspannt, nur aus reiner Lust am Fußballspiel, meinten, ohne jeden analytischen oder taktischen Hintergedanken … Wormuth legt die Stirn in Falten. »Nein, das können Sie vergessen. Wobei ich das ja trotzdem genieße. Es ist ja nicht so, dass mir das Analysieren und Beobachten keinen großen Spaß machte. Aber ich erzähle Ihnen mal eine Geschichte …« Und so erfuhren wir zum Abschluss unserer höchst unterhaltsamen Lehrstunde in Sachen Fußball-Taktik von einem Erkenntnisgewinn unseres Dozenten, zu dem ihn ein befreundeter Laie führte. Mehr dazu im folgenden Schlussabschnitt, in dem wir Wormuth (teils unvollendete) Thesen und Fragen an die Hand gaben, zu denen er uns mit unvermindertem Elan seine spontanen Einschätzungen gab:

Der offene Schlagabtausch ist für Trainer …

»Manchmal gibt es Phasen im Spiel, in denen es wild hin und her geht. Durch das ständige Gegenpressing, das heutzutage stattfindet, sehen wir nur noch selten schönen Ballbesitzfußball mit langen Ballstafetten, wie ihn die Bayern oder die Spanier praktizieren. Es fehlt dafür schlicht die Zeit, wenn der Gegner nach eigenem Ballverlust sofort wieder attackiert. Ein offener Schlagabtausch ist auch eine Form von Taktik. Bayer Leverkusen zum Beispiel ging in der Saison 2014/15 ständig drauf, setzte nach. Bei ihnen ging es ständig hin und her, sie waren prädestiniert für den Schlagabtausch. Ich kann Ihnen Szenen zeigen, bei denen die Zuschauer begeistert waren, weil es ein Spektakel gab, aber die meisten Trainer aufstöhnen, weil die Ordnung fehlte. Aber der Trainer in Leverkusen kannte ja die Nachteile des Systems, das er bewusst und aus gutem Grund spielen ließ: zur schnellen Balleroberung. Und so lange seine Mannschaft erfolgreich ist, hat der Trainer Recht.

Auch im WM-Gruppenspiel 2014 zwischen Deutschland und Ghana ging es in der Schlussphase rauf und runter. Ein typisches Beispiel, beide Teams spielten auf Sieg. Aber es stimmt schon, den offenen Schlagabtausch wollen wir Trainer eigentlich nicht haben, weil er unkalkulierbar ist. Doch er ergibt sich aus der Situation heraus, manchmal läuft das Spiel eben aus dem Ruder.«

Und da kommt sie schon, die Geschichte: »Einen Spielverlauf, bei dem es rauf und runter geht, bewerten Zuschauer und Trainer ganz anders. Ein Bekannter von mir ist Zahnarzt und mit ihm habe ich mal ein Spiel des SC Freiburg angeschaut. Für mich als Trainer war das ein grausames Spiel, immer dieses Hin und Her. Doch er als Zuschauer ohne taktische Hintergedanken fand das toll. Ein paar Tage später waren wir dann in Frankreich, in Sochaux, und haben uns ein Spiel gegen AS Monaco angeschaut. Ich war begeistert, während mein Bekannter gelangweilt gähnte angesichts von nur einer Torchance in gesamten Spiel. ›Hast du gesehen, wie die sich bewegt haben, wie die sich verschoben haben, wie sie den Ball erobert haben, lange Kombinationen hatten …‹, habe ich ihm vorgeschwärmt. Und er meinte bloß: ›So ein langsames Spiel kann mir gar nicht gefallen.‹ In diesem Moment ist mir klar geworden, dass der Zuschauer im Stadion Spektakel haben möchte, während der Trainer Spektakel nur auf einer Seite sehen will, nämlich auf der des Gegners.«

Erkenntnisse und taktische Neuerungen der WM 2014

»Die Mittel- und Südamerikaner haben bei der WM in Brasilien ein unheimliches Tempo gehabt. Auch bei diesen heißen Temperaturen sind sie ständig abgegangen, sofort nach vorne, mit hohem Risiko, haben nicht lange gefackelt, nicht kombiniert, sondern sofort den Abschluss gesucht. Das hat man vor allem in der Vorrunde beobachten können: Jeder Ball wurde sofort in den Sechzehner hineingespielt, sofort.

Wirkliche Neuerungen gibt es im Fußball wahrscheinlich kaum noch, wohl aber kleine Verschiebungen. Und wenn etwas neu ist, dann ist es vermutlich etwas Altes im neuen Gewand. Der Engländer Herbert Chapman, einer der revolutionärsten und renommiertesten Trainer des Fußballs, hat schon 1920 den Konterfußball eingeführt

– und der wird auch heute noch praktiziert, wenn auch intensiver und aus einer anderen Formation heraus, zum Teil bereits vorne mit schnellem Umschalten und nicht erst hinten, wartend auf den Ball. Das Rad wird im Fußball nicht neu erfunden. Es gibt aber immer wieder unterschiedliche Gedankengänge und meistens einen Trend sowie einen Gegentrend.«

Die deutschen Weltmeister waren nach der WM 2014 überbelastet.

»Im Gegensatz zur Scheu vor dem Acht-Stunden-Tag im Vereinsalltag konnte ich die Diskussion um eine Überbelastung nach dem WM-Gewinn gut nachvollziehen, denn hier ging es vorwiegend um eine mentale Geschichte. Wenn Sie inklusive Vorbereitung acht Wochen lang so fokussiert sind auf ein bestimmtes Ziel, immer angespannt sind, dann ist ein Konzentrationsabfall danach völlig nachvollziehbar. Denn je näher die Spieler dem Finale kamen, desto angespannter wurden sie, das hat man im Finale auch gesehen. Da waren die Deutschen nicht mehr ganz so befreit, nachvollziehbar, so kurz vor der Haustür: ›Da ist die Tür, kriege ich sie auf?‹ Und dann schaffen sie es und erreichen wirklich das ganz große Ziel. Dann fallen die Spieler automatisch in ein Loch, zumindest in ein Konzentrationsloch.

Im Grunde hätte man den deutschen Spielern nach der Weltmeisterschaft sagen müssen: ›Jetzt macht ihr erst einmal vier Wochen Pause. Wir sehen uns erst am dritten Bundesliga-Spieltag und dann bauen wir euch bis zum zehnten Spieltag langsam wieder auf.‹ Ich übertreibe, um es zu verdeutlichen. Aber dann wären die Spieler zumindest im Oktober wieder topfit gewesen. So quälen sich die WM-Spieler bis Weihnachten durch, haben dann nur zwei Wochen Pause, und quälen sich dann in der Rückrunde weiter. Dabei müsste man sie eigentlich für eine Zeit lang aus dem Wettkampf rausnehmen. Aber da gibt es natürlich Mannschaften, die von der Qualität ihrer Nationalspieler leben und der Trainer sagt: ›Was passiert denn, wenn die zwei Nationalspieler nicht auflaufen? Wie sehe ich dann aus, wenn die Mannschaft verliert?‹ Da haben wir das Thema ›Druck‹ wieder, wie schon vorhin im Jugendbereich. Dann gehören vielleicht auch noch internationale WM-Teilnehmer zum Kader, die ähnliche Belastungen hatten. Das ist nicht einfach zu handhaben. Zu lange sollte eine Spielpause aber möglichst nicht dauern, es braucht schließlich auch Zeit, wieder in den alten Rhythmus zurückzufinden.«

Deutschland ist eine Turniermannschaft, weil …

»Bei Turnieren besitzt Deutschland die notwendige Mentalität, um erfolgreich zu sein. Dieser Turniercharakter entwickelt sich im Laufe des Wettbewerbs. 2014 hätten wir schon im Achtelfinale gegen Algerien rausfliegen können, und trotzdem wurden wir Weltmeister. Die deutschen Nationalteams haben fast immer den Glauben an den Erfolg, bleiben diszipliniert in ihrer Verhaltensweise, können bei Bedarf noch etwas drauflegen und halten sich meist auch bei Rückstand an den Plan, um einen offenen und unkalkulierbaren Schlagabtausch zu vermeiden. Ausnahmen wie 2014 gegen Ghana bestätigen die Regel.«

Wie gelang es Borussia Mönchengladbach in der Hinrunde der Saison 2014/15 als einer der ganz wenigen Mannschaften, dem FC Bayern ernsthaft Paroli zu bieten?

»Gladbachs damaliger Trainer Lucien Favre arbeitet gerade im Abwehrbereich sehr gut mit seinen Mannschaften, macht Extra-Stunden mit den Spielern: wie sie gut stehen, die Passwege zustellen. Das sind zwar alte Weisheiten, aber wie ernsthaft und konsequent Favre das betreibt, ist schon enorm. Die Gladbacher standen nicht nur sehr gut, sie reagierten auch sehr schnell. Das ist die hohe Kunst des Abwehrverhaltens: Wenn man in der Kette steht, also im Raum und nicht gegen den Mann spielt, dass man dann, wenn ein Gegenspieler in den Raum hineinkommt, Zugriff hat. Favre gelingt es, dass die Abwehrkette oder sogar alle Feldspieler parallel wandern, gleichzeitig reagieren. Dadurch sind die Schnittstellen, die der Gegner durch sein Passspiel öffnen möchte, immer noch eng.«

Wie schwierig ist das Coachen während einer Begegnung schon aus akustischen Gründen?

»Wenn es aufgrund einer hohen Geräuschkulisse schwierig ist, Anweisungen an die Spieler mündlich weiterzugeben, können Sie auch nonverbal arbeiten. Bei der Kommunikation zwischen Trainer und Spielern während der Partie geht es darum, was vorab besprochen wurde. Anweisungen im Spiel sind immer nur ein zusätzlicher Hinweis. Ein klassisches Beispiel: Wenn ein Spieler den Ball direkt spielt, obwohl ich ihm gesagt habe: ›Wenn du mit dem Rücken zum Gegner stehst, nimm ihn an, damit die Mitspieler nachrücken können‹, dann zeige ich ihm zwei Finger, die bedeuten: zwei Kontakte. Er versteht mich akustisch nicht, aber er sieht zwei Kontakte. Dann kommt oft ein ›Ja, ich weiß‹ zurück. Der eine oder andere Spieler denkt dann vermutlich: ›Trainer, warum zeigst du mir das, ich weiß es doch!‹ Doch ich werde immer wieder darauf hinweisen, bis der Spieler es beherzigt. Wenn er es nicht macht und dadurch unser Spiel kaputtgeht, setze ich einen anderen Spieler ein. Mit den Zeichen helfe ich und gebe Tipps. So ist der Spieler auch nicht überrascht, wenn er ausgewechselt wird, weil er es nach dem dritten Hinweis immer noch nicht umgesetzt hat. Diese Kommunikation ist wichtig.«

 

Die Grenzen für Trainer liegen …

»Trotz aller taktischer Überlegungen: Das Ergebnis können wir Trainer letztlich alle nicht wirklich beeinflussen. Wir planen, machen, tun, aber es sind eben diese ›blöden Kleinigkeiten‹ (Wormuth lacht), die entscheiden, ob der Ball verspringt oder ins Tor geht. Oder der Gegner hat nur eine Standardsituation und die verwandelt er, weil einer von uns geschlafen hat – oder weil die Qualität des Stürmers so hoch war, dass er schlicht besser war beim Kopfball. Dann haben Sie zwar wunderbar gearbeitet, alle waren zufrieden, haben ›richtig tollen Fußball‹ gezeigt, verlieren jedoch mit 0:1. Das sind dann die Grenzen der Taktik. Andererseits ist das auch das Schöne am Fußball, sonst wäre er nicht interessant. Wenn im Basketball vier der fünf gegnerischen Teamspieler richtig gut sind, kann man das Spiel eigentlich gar nicht gewinnen. Im Fußball ist der Ausgang offener. Ich sage immer: ›Wir können nur die Wahrscheinlichkeit erhöhen, ein Spiel zu gewinnen.‹ Das ist positiv formuliert und gefällt mir besser als ›Wir versuchen, den Zufall zu minimieren‹. Dennoch: Ich kann Ihnen spontan fünfzehn oder sechzehn Faktoren nennen, die ein Spielergebnis beeinflussen; das Spielglück aber lässt sich nicht beeinflussen. Doch das gehört eben auch mit dazu. Trainer können die Leistung einer Mannschaft beeinflussen, nicht aber den Erfolg. Den können sie nur wahrscheinlicher machen.«



Frank Wormuth, Jahrgang 1960, spielte während seiner aktiven Profilaufbahn für den SC Freiburg und Hertha BSC Berlin in der zweiten Bundesliga. Die Trainerkarriere begann der einstige Verteidiger in der Tiefe des Amateurfußballs beim FC Nimburg und FC Teningen. Seine Karriere im Leistungsbereich startete er als Co-Trainer bei Fenerbahce Istanbul in der Türkei, wo er gemeinsam mit seinem früheren Freiburger Mitspieler und heutigem Bundestrainer Joachim Löw für eine Saison tätig war. Als Cheftrainer folgten Stationen beim SC Pfullendorf, SSV Reutlingen 05, Union Berlin und VfR Aalen. 2008 übernahm Wormuth den Posten des Leiters und Hauptdozenten der DFB-Fußballlehrer-Ausbildung an der Hennes-Weisweiler-Akademie, zunächst mit Sitz in Köln und seit 2011 in der Sportschule Hennef. Von 2010 bis 2016 trainierte er in Personalunion auch noch die deutsche U20-Nationalmannschaft. Dazu analysiert der gebürtige Berliner bei verschiedenen Medien das aktuelle Fußballgeschehen. Wormuth wird als kritischer Taktikexperte geschätzt, der klare Ansichten zu Entwicklungen im Fußball vertritt, die zuweilen auch der herrschenden Meinung widersprechen. Nach zehn Jahren beim DFB nahm Wormuth 2018 eine neue Herausforderung an und wurde Cheftrainer beim niederländischen Ehrendivisionär Heracles Almelo.

Ein spezielles Vorbild als Trainer hatte Wormuth nie, auch nicht aus seiner Spielerzeit. »Ich habe von allen Trainern das mitgenommen, was ich für mich als richtig empfand. Heute lerne ich am meisten von meinen Schülern, weil sie mich permanent fordern und ich mich dadurch immer hinterfragen muss.« Für Wormuth ist es ein Rätsel, weshalb er nie einem Vorbild nacheiferte: »Bis heute habe ich darauf keine Antwort gefunden. Ich sauge eher Impulse von anderen auf und übertrage sie auf meine Arbeit. Ich habe mich immer schon als Projektarbeiter gesehen, sodass ich jedes Projekt – und in der Trainerbranche hat man hauptsächlich kurzfristige Projekte – mit voller Begeisterung angegangen bin. So war es auch, als ich für einen Amateurverein das Marketing entwickelte oder abseits des Fußballs als Diplom-Betriebswirt für Speditionen tätig war. Meine Maxime ist: ›Wenn du etwas machst, dann mache es zu einhundert Prozent.‹ Das hat das Projekt verdient und du kannst morgens in den Spiegel schauen.«

* Der Begriff »erste Abwehrreihe« (statt »erste Angriffsreihe«) mag an dieser Stelle zunächst verwundern, bezieht er sich doch auf Stürmer. Er macht aber aufgrund folgender Überlegung Sinn: Innerhalb des Spiels gibt es zwei Phasen, bei eigenem Ballbesitz spricht man von Angriffsverhalten, bei Ballbesitz des Gegners von Abwehrverhalten. Demnach ist die erste Reihe, die den Ball zurückerobern kann, die erste Abwehrreihe – auch wenn es sich dabei um Stürmer handelt. Voraussetzung ist, dass die abwehrende Mannschaft komplett hinter dem Ball steht, auf die Aktion des Gegners wartet oder aktiv versucht, den Ball zu erobern.

* Volker Finke war von 1991 bis 2007 Trainer des SC Freiburg und von 2013 bis 2015 Nationalcoach von Kamerun. Mit knapp 16 Trainerjahren hintereinander bei einem Verein hält er den Rekord für die längste Amtsperiode im deutschen Profifußball.

Die sanfte Revolution: Daniel Niedzkowski und die neue Fußballlehrer-Ausbildung
Der Modernisierer

Im Loft in Berlin trägt Frank Wormuths Nachfolger einen dunklen Pullover und helle Turnschuhe. Der Deutsche Fußball-Bund veranstaltet im November 2019 in der Hauptstadt einen Medienworkshop am Salzufer, wo sich einige Start-up-Unternehmen angesiedelt haben. Das Thema: »Der neue DFB & seine Akademie«. Daniel Niedzkowski hat alles an einem Laptop vorbereitet, bevor er Journalisten erklärt, wie sich die Fußballlehrer-Ausbildung seit dem Frühjahr 2018 verändert hat. Es war der Zeitpunkt, als sich Wormuth nach zehn Jahren als DFB-Chefausbilder entschloss, ein Angebot des niederländischen Erstligisten Heracles Almelo anzunehmen, um wieder täglich mit einer Profimannschaft arbeiten zu können. Niedzkowski und Wormuth hatten lange zusammengearbeitet, sodass die von der Frankfurter Rundschau 2019 als »sanfte Revolution« betitelte Reform der Fußballlehrer-Ausbildung keinen kompletten Bruch mit bislang gültigen Prinzipien an der Hennes-Weisweiler-Akademie bedeutet.

Die Schüler der Klasse von 2020 können Teile ihrer Ausbildung nun bei der Mannschaft absolvieren, die sie trainieren. Zu aufwändig war das Pendeln von Hennef für viele Trainer aus dem Profibereich im Lehrgang geworden, die Doppelbelastung aus anspruchsvollem Unterricht und Beruf kaum noch miteinander zu vereinbaren. Die Präsenzzeiten in der Akademie wurden deshalb zurückgefahren, stattdessen gibt es einen Online-Campus, der durchaus revolutionäre Elemente enthält. Denn das bislang als Sakrileg empfundene Filmen des Cheftrainers bei der Kabinenansprache wird künftig dazugehören. »Da haben wir jetzt unsere ersten Erfahrungen gemacht und es wird sicherlich zukünftig ein entscheidender Bestandteil werden«, sagt Niedzkowski. Verdeutlicht aber auch: »Was in der Kabine passiert, können nur wir sehen. Es ist also nicht öffentlich.« Bislang gingen die Lehrgangsteilnehmer mit dem Wissen aus der Ausbildung, wie man die Ansprache theoretisch machen müsste. »Aber wir hätten nie gesehen, wie sie es in der Praxis umsetzen. Aber Spielcoaching ist die Königsdisziplin. Deshalb ist uns schon wichtig, sie auch mal in der Situation konkret zu sehen.«

»Einfacher werden«

Niedzkowski will technische Hilfsmittel im Fußball nicht überbewerten. Dass Spiele am Laptop vorbereitet werden, ist für jüngere Trainer alltäglicher Bestandteil ihres Jobs. »Ich glaube, dass sie alle jetzt schon ein sehr gutes Wissen haben, was Spielanalyse, Spielstrategie und Matchplan betrifft. Diese Themen werden in Deutschland stark betont. Oft hakt es ein bisschen daran, dem Menschen das Wissen näher zu bringen. Wie kann ich das über die Woche mit der Mannschaft vorbereiten? Und wie kann ich den Plan mit individueller Freiheit verbinden? Gerade wenn man mit Topspielern arbeitet. Ich bin mir sicher, dass die Wissensvermittlung in der Praxis durch die Reform verbessert wird. Dadurch, dass wir sehen, wie die Trainer ihr Wissen tatsächlich an ihre Mannschaft bringen.« Es stehe also oft gar nicht im Mittelpunkt, noch komplexere Möglichkeiten kennen zu lernen, sondern gehe manchmal eher darum, einfacher zu werden. Einfacher in der Kommunikation und effektiver, wie man es dem Spieler entgegenbringt.


Über den Jahrgangsbesten des Fußballlehrer-Jahrgangs von 2009 gibt es eine schöne Anekdote. Wie Holger Stanislawski in der Ausbildung Jugendliche mit einer Breakdance-Einlage verblüffte, hat seinerzeit den anderen Lehrgangsteilnehmern Lachtränen in die Augen getrieben. »Das ist lange her. Ich habe mein Praktikum selber bei Stani gemacht. Wenn er vor der Mannschaft stand, hat der die unglaublich gepackt gekriegt. Er hat aus dem Stehgreif eine Ansprache gehalten, wo ich dachte, die Spieler hängen an seinen Lippen. Das war auch emotional immer so passend.« Stanislawski habe aus seinem Gefühl heraus den richtigen Winkel gefunden, wie er die Spieler jetzt ansprechen muss. »Das fand ich sehr beeindruckend«, erinnert sich Daniel Niedzkowski, der den legendären Breakdance von Hennef allerdings nicht bestätigen kann. »Aber ausschließen kann ich es auch nicht.« Der Leiter der Hennes-Weisweiler-Akademie glaubt, dass es ein absolutes Unterschiedsmerkmal ist, »eine Mannschaft gepackt zu kriegen«. Stanislawski wendet ungewöhnliche Formen der Mitarbeitermotivation inzwischen als Leiter mehrerer Supermärkte in Hamburg an. Stani war Trainer beim FC St. Pauli, 1899 Hoffenheim und beim 1. FC Köln. Sein Talent zum lockeren Spruch zur rechten Zeit kennen die Fernsehzuschauer aus seinen Taktikanalysen im ZDF.

Nicht nur das Filmen in der Kabine ist neu, den angehenden Fußballlehrern wird von den Ausbildern auch nahegelegt, ein Praktikum im Ausland zu absolvieren. Die taktisch innovativen Klubs in den Niederlanden sind besonders beliebt, nicht zuletzt weil sie von Hennef aus gut erreichbar sind. »Es gab drei Trainer, die bei Ajax Amsterdam waren. Es gibt auch Heracles Almelo, wo mein Vorgänger Frank Wormuth erfolgreich arbeitet. Oder den AZ Alkmaar, einen sehr innovativen Klub.« Der gesamte Fußballlehrer-Lehrgang ist zu einer Maßnahme nach Holland gereist, in der es darum ging, sich mit Trainern aus dem belgischen und niederländischen Verband auszutauschen. Die Niederländer hatten bei den Trainingseinheiten sechs Trainer auf dem Platz, die Belgier vier. »Und es hat funktioniert.«

Die taktische Entwicklung bei Ajax Amsterdam hat Niedzkowski beeindruckt. »Sie sind mit ihrer Profimannschaft komplett von dem weggegangen, was sie früher gemacht haben. Früher war es so, dass Ajax versucht hat, das Spielfeld so groß wie möglich zu machen. Sie hatten eine Tradition von Eins-gegen-Eins-Spielern auf der Außenbahn. Sie haben versucht, ihre Flügelspieler durch diesen großen Platz in Eins-gegen-Eins-Situationen zu kriegen. Die Außenbahnen waren doppelt besetzt. Sie spielen jetzt komplett anders. Es war spannend zu sehen, wie das trainiert wird. Immer in ganz kurzen Sequenzen. Sie versuchen ganz viele Spieler in Ballnähe zu kriegen, und durch schnelle Kombinationen gefährlich zu werden. Sich mit Kurzpassspiel durchzukombinieren.« Für die deutschen Trainer, die dort hospitiert haben, sei es ebenso spannend gewesen, den Umbruch aus nächster Nähe zu verfolgen. »Die ›alte‹ Philosophie war über Jahrzehnte gewachsen. Irgendwann dachten sie, ›wir bleiben in unserer Entwicklung stehen‹. Gerade Erik ten Hag hat dabei jetzt einen wichtigen Impuls gesetzt.«

 


Daniel Niedzkowski, Jahrgang 1976, startete seine Trainerkarriere mit der Erfahrung von 47 Regionalligaeinsätzen für den Wuppertaler SV und den FC Remscheid. Der ausgebildete Fußballlehrer wurde 2013 Co-Trainer bei Bayer Leverkusen, wo er zwei Jahre mit Roger Schmidt zusammenarbeitete. 2016 wechselte der gebürtige Solinger zum DFB, wo er seitdem Co-Trainer der U21-Nationalmannschaft unter Stefan Kuntz ist. 2018 übernahm Niedzkowski außerdem die Leitung der DFB-Trainerausbildung in Hennef als Nachfolger von Frank Wormuth. Für Niedzkowski schließt sich damit ein Kreis, war er doch vor seiner Zeit in Leverkusen ein enger Mitarbeiter Wormuths an der Hennes-Weisweiler-Akademie gewesen.

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