Bleiweiß – Der schleichende Tod

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Bleiweiß – Der schleichende Tod
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Elvira Alt

Bleiweiß – Der schleichende Tod

Detektei Indiskret

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Detektei Indiskret – Bleiweiß – Der schleichende Tod

Paddy Moser – Das Genie

Der Auftrag – Detektei Indiskret

Der nächste Auftrag

Die Muse

0:00 Nachtjournal RTL

Der geheimnisvolle Fund

Die Hochzeit

Die Brautentführung

Bin in Frankfurt. Wir sehen uns nach der Hochzeit.

Aktenzeichen XY ungelöst

Detektei Indiskret

Alter Friedhof

Testament

Salome

Loreley

Die Verhaftung

Das Verhör

Der Griff nach dem Strohhalm

Loreley auf Spurensuche

Bin in Frankfurt ...

Bierbrauerweg

Die Freilassung

Die Verfolgungsjagd

RTL Aktuell

Die Akte Linder wurde geschlossen

Die Abrechnung

RTL heute journal

In der Zoohandlung

Impressum neobooks

Detektei Indiskret – Bleiweiß – Der schleichende Tod

„Jetzt bittet die Kriminalpolizei wieder um Ihre Mithilfe. Aktenzeichen XY ungelöst live aus München mit Rudi Cerne.“

„Guten Abend und herzlich Willkommen, liebe Zuschauer, zu einer neuen Ausgabe von XY ungelöst. Ihre Mithilfe ist heute besonders dringend gefragt. Die Ermittler, die jetzt bei uns im Studio sind, haben die schwersten Verbrechen aufzuklären die es gibt.“ Mit diesen Worten begann Cerne, wie immer, seine Sendung.

„Aller Erfahrung und erhöhten Sicherheitsmaßnahmen zum Trotz - immer wieder gelingt es Gangstern, berühmte Gemälde aus Museen zu stehlen.

In vielen Kirchen gibt es wertvolle Kunstschätze, die zunehmend Diebe anlocken.

Illegaler Handel mit geraubtem Kulturgut, zerstörerischen Plünderungen von antiken Kultstätten und Kunstraub aus Museen und Sammlungen steht neben Geldwäsche, Korruption, Drogen-, Menschen- sowie illegalem Waffenhandel mittlerweile weltweit an oberster Stelle krimineller Aktivitäten.

Laut dem LKA entstehen jährliche Schäden in Höhe von fünf Milliarden US-Dollar. In Deutschland werden jährlich zwischen eintausend und eintausend fünfhundert Antiquitäten und Kunstgegenstände gestohlen.

Unser erster Fall ereignete sich in der hessischen Main-Metropole Frankfurt am Main. Hierzu begrüße ich jetzt im Studio ganz herzlich den Kurator des Städel, Herrn Schmitt und seine Projektleiterin Frau Schäfer“. Cerne übergab den beiden das Wort.

„Mit einer Sonderausstellung im Frühjahr, eine der Highlights 2019, drehte sich alles um eines der erfolgreichsten Kapitel der europäischen Kunstgeschichte. Das Frankfurter Städel Museum entführte uns in die Zeit von Tizian und die Renaissance in Venedig ...“, begann der Kurator, strahlend, in bester Laune.

Die Projektleiterin nickte zwar tapfer, aber mit ihren Gedanken war sie irgendwo anders. Sie faltete die Hände wie zu einem Gebet, tippte mit ihrem linken Fuß auf den Boden und starrte Luftlöcher.

Dann fuhr er fort: „Die Schau dokumentierte mit über einhundert Meisterwerken, wie von Bellini, Bassano oder Veronese, Leihgaben von über sechzig Museen, die Bandbreite der Renaissance in Venedig und zeigte, welchen Einfluss diese Schwergewichte auf nachfolgende Künstlergenerationen hatten und bis heute haben.

Neben der Frankfurter van Gogh-Ausstellung gab es 2019 viele weitere spannende Ausstellungen zu entdecken ...“.

< Komm endlich auf den Punkt > dachte Frau Schäfer. < Dies ist eine Live-Sendung und kein Werbeblock! >

Vielen Dank für die ausführliche Einleitung“, unterbrach Cerne den Wortfluss des Kurators. „Das ist alles ungeheuer faszinierend, doch kommen wir jetzt zum Wesentlichen. In der Zeit zwischen dem 13. Februar und 26. Mai wurden von Unbekannten mehrere Gemälde durch erstklassige Plagiate ersetzt. Nur durch Zufall viel der Schwindel auf. Die genau Zahl ist noch nicht bekannt - unklar ist unter anderem, wie die Kunstwerke abtransportiert beziehungsweise ausgetauscht wurden.

Die Polizeidirektion Frankfurt am Main hat eine Sonderkommission ins Leben gerufen, die den Namen „Venus“ trägt. Für Hinweise, die zur Aufklärung der Straftat und zur Ermittlung oder Ergreifung der Täter oder zum Auffinden des Diebesgutes führen, hat die Polizei im Einvernehmen mit der Staatsanwaltschaft eine Belohnung in Höhe von 500.000 Euro ausgesetzt.

Laut Hörensagen war ein weißer Kleintransporter mit Offenbacher Kennzeichen am Tatort aufgefallen.

Der Schwindel wäre vermutlich nie aufgeflogen, wenn nicht ein Insider der Polizei einen Tipp gegeben hätte.

Bis heute fand man lediglich heraus, dass es sich bei dem Austausch um jeweils ein Gemälde von Tizian < Die Venus von Urbino > 119 x 165 und ein Gemälde von Giorgione < Die schlafende Venus > 108 x 175 handelt. Sachdienliche Hinweise nimmt jede Polizeistation entgegen oder rufen Sie uns direkt hier im Studio an.“

Paddy Moser – Das Genie

Paddy Moser zählte zu jener Sorte Männer, die erst mit zunehmendem Alter zu Attraktivität gelangen.

Paddy Moser war Ehrenbürger der Stadt Offenbach am Main und ein hochangesehener Mann. Er besaß die Gabe, von fast allen, die in seine Nähe kamen, gemocht zu werden.

Paddy Moser, einer der vielseitigsten Maler und Bühnenbildner seiner Zeit, weit über die Stadtgrenze von Offenbach und Frankfurt am Main bekannt.

Er absolvierte seine Ausbildung an der Düsseldorfer Malerschule und war eines ihrer Aushängeschilder.

Sein malerisches technisches Können erlaubte es ihm, seine Bilder in einem altmeisterlichen Stil zu malen, die an den Fotorealismus erinnerten.

Paddy Moser, eine zentrale Gestalt, einen Protagonist, eine Lichtgestalt, dekoriert mit den höchsten Auszeichnungen.

Seine zwölf Jünger hatten ihm den Bischöflichen Amtstitel < Patriarch > verliehen. Sie verehrten ihn wie einen Gott. Paddy fehlte lediglich der Heiligenschein.

Paddy Moser, ein Künstler, ein Bildhauer und Grafiker, ein umstrittener Maler. Sein Stil verkörperte die Welt des Unbewussten, des Rausches, des Fiebers, Bilder, die er in seinen Träumen sah, Bilder, die nicht zum Verweilen einluden.

Einerseits hatte er Angst davor, andererseits war er süchtig danach. Wenn er malte, konnte er sich in seiner Welt verlieren.

Er hatte in seinem Leben alles erreicht, aber zu welchem Preis?

Die Venen auf den Handrücken waren geschwollen, seine Hände, mit großen Leberflecken bedeckt. Hände, an denen die Nägel, mit großen weißen Monden, zuerst auffielen.

Er war er ein todkranker Mann, obwohl sein Händedruck einem Bären das Wasser in die Augen treiben konnte.

Und dennoch hatte das alles nicht die Wirkung des Alters – vor allem sein Gesicht, mit einem imposanten kaiserlichen Backenbart, hatte das Alter verschont. Die blauen Augen blickten klar und die Falten darum gaben ihnen einen boshaften, wachen Blick. Das weiße, volle, lockige Haar war kurz geschnitten, versteckt unter einem Turban. Um seinen Hals hingen mehrere Goldkettchen.

Paddy Moser war ein verheirateter Mann. Das Geheimnis seiner Ehe bestand darin, Geld zu haben. Man muss nichts anderes haben als Geld.

 

Geld macht zwar nicht glücklich, aber es beruhigt!

Seine Karriere, als Maler, begann mit sehr gelungenen Kopien bekannter alter Meister. Man munkelte, dass < sein Hehler > einige Gemälde, unter der Bedingung der Geheimhaltung, als echt ins Ausland verkauft hatte. Der Käufer durfte nicht damit prahlen, dass er ein verschollenes Original von … als sein eigen nennen konnte.

Paddy Moser residierte im Isenburger Schloss, ein Renaissance-Schloss in Offenbach am Main. Das mittelalterliche Grafengeschlecht Isenburg ließ es im 16. Jahrhundert errichten. Unter Kunsthistorikern gilt das Isenburger Schloss als bemerkenswertes Kunstobjekt.

Dies wird durch die unterschiedlich gestalteten Fassaden an der Nord- und Südseite des Schlosses deutlich. Die Südseite, zur Stadt hin, zeigt sich als aufgelockerte Renaissance-Fassade mit Bogengängen zwischen zwei Treppentürmen, während die dem Main zugewandte Nordseite eine wehrhafte Fassade aus Teilen der älteren Bausubstanz zeigt.

Für den Spottpreis von 1,00 DM erwarb Paddy, vor vielen Jahren, das marode Schloss von der Stadt Offenbach am Main, ließ es mit Liebe - und vor allem viel Geld - umbauen und verschönern.

Zwar war es deutlich modernisiert worden, aber genügend ursprüngliche Details blieben erhalten, um ihm einen altertümlichen, interessanten Anstrich zu verleihen. Es strahlte nun wieder in seiner unverkennbaren roten Eleganz.

Mit dem Kauf des Schlosses hatte er sich nicht nur ein wunderschönes Domizil zugelegt, sondern auch fürchterliche Albträume.

Jedes alte Gemäuer hat seine Geister. Gute sowie auch böse. Nicht nur er litt darunter. Auch Lilo und Loreley wurden zeitweise heimgesucht. Meist bei Vollmond.

Alle namhaften Maler, die vom Diesseits ins Jenseits gegangen waren, statteten ihm regelmäßig ihren Besuch ab und waren bislang noch nicht bedrohlich. Aber diese Erscheinungen hatten immer mehr an Tiefe und Bedeutsamkeit gewonnen. Wenn er sich mit ihnen unterhielt, bekam er eine Ahnung vom Wesen der Menschen, die sie zu Lebzeiten gewesen waren.

Keiner, außer Loreley, wusste von seinen unheimlichen Heimsuchungen. Selbst sie glaubte, sie seien nichts weiter als Manifestationen seiner Gewissensbisse.

Loreley ahnte nicht, dass ihn nach Einbruch der Dunkelheit der Wahnsinn packte.

Seine Anwandlungen waren einerseits völlig harmlos. Andererseits drängten sie ihn, den verstorbenen Hüllen mit großem Respekt zu begegnen, weil er wusste, dass sie früher oder später zurückkehren würden.

Angesichts der mysteriösen Dinge, die Paddy im Schlaf durchlebte, war es kaum verwunderlich, dass er oft verwirrt und in einer Weder-noch-Dimension erwachte.

Paddy wusste, dass er in seinem Zimmer war, in seinem Bett lag. Er hörte den Wasserhahn tropfen. Er roch den Duft der Bäume durch das offene Fenster.

Und trotzdem träumte er, spürte die Präsenz einer männlichen Person.

… Vor seinem Himmelbett stand ein Mann. Aus irgendeinem Grund erfüllte die Erscheinung, die er nur undeutlich als Silhouette wahrnahm, mit Grauen.

Die Morgensonne sickerte durch das Moskitonetz. Er konnte sein Gesicht nicht erkennen, aber eine Verwechslung war ausgeschlossen - ihm fehlte ein Ohr. Blut tropfte auf seinen Hemdkragen.

„Wie fühlen Sie sich?“, fragte er. Paddy fand es nicht komisch, einem Toten eine solche Frage zu stellen. „Wollen Sie mich abholen?“

Er hörte seine Studenten auf den Gängen johlen. Ein Anzeichen dafür, dass er bei Bewusstsein war, mehr denn je, aber sein diabolischer Freund wollte einfach nicht verschwinden. Er hatte weder Hörner noch einen Pferdefuß.

Der Schatten des Todes kam mühelos immer näher. Paddy versucht ihn anzufassen, typisch für seine krankhafte Fantasie.

Sein Gespenst scharrte mit den Füßen, nahm Anlauf und rannte los, als wollte er Paddy, wie ein Stier, auf die Hörner nehmen.

Er sank zurück in seine Kissen und fragte sich, wie wach er eigentlich war oder noch werden musste, damit der Mann wieder verschwand. Für einen Moment war er abgelenkt und plötzlich kamen ihm Zweifel. Die Gestalt konnte ebenso eine Falte in den Rüschen seines Baldachin sein. Als er einen weiteren verstohlenen Blick riskierte, hatte er sich aufgelöst.

Paddy kicherte bei dem Gedanken, dass einer seiner im Geist Gefangenen einen Fluchtversuch unternommen hatte. Auch diesen nahm er in seinen Kreis seiner Wahlverwandtschaft auf.

Sein Kopfkissen und der Bezug waren schweißnass. Paddy kauerte keuchend mit hochgezogenen Knien in seinem Bett.

Ticktack.

„Oh mein Gott“, stöhnte er und sprach die Panik an, als wäre sie körperlich im Zimmer anwesend. Es dauerte und dauerte … bis Paddy zu sich gekommen war und seine auf der Bettdecke verstreute Gedanken eingesammelt hatte. Er fühlte sich, so, als ob er mit Karacho gegen eine Häuserwand gerast wäre.

Ticktack.

Er streckte sich zu der weißen Porzellanlampe hinauf, die auf dem Nachttisch neben seinem Bett stand und knipste das Licht an.

Das Zimmer zeigte sich seinem Blick. Weiche Rosatöne mit zarten Nuancen von Grün und Hellblau kombiniert, ein cremefarbener Läufer, ein Korbstuhl, über dem seine Sachen für den nächsten Tag hingen, eine Kommode, ein kleiner Spiegel.

Er versuchte in die harmlose Alltäglichkeit seines Lebens zurückzufinden, indem er sich auf die Maserung der hellen Holzdielen und der hohen weißen Zimmerdecke konzentrierte, auf der Schatten tanzten.

Das war das Schöne an diesem Schloss, versuchte er sich abzulenken, dass man Luft zum Atmen hatte.

Ticktack.

Die Strategie half nichts. Sein Herz raste weiter wie verrückt. Die Brust war ihm so eng, dass er kaum atmen konnte. Paddy drückte seine Hand auf sein Herz, als könne er so den Schmerz abfangen, der ihn wie eine dumpfe Klinge eines Messers durchbohrte.

Paddy kannte den wiederkehrenden Traum, begleitet von der Kurzatmigkeit, dem Zittern der Hände, der lähmenden, namenlosen Angst, die jede Faser seines Körpers ergriff.

Ticktack.

Er warf die Decke zurück, stemmte sich in die Höhe und rappelte sich mühsam auf. Aber kaum hatte er die Füße auf den Boden gesetzt, da spürte er, wie seine Beine unter ihm nachgaben.

Ticktack.

Sein altes Herz fing an zu zucken, wie ein im Netz gefangener Fisch. Paddy brach kurz neben seinem Bett zusammen, dann war die Attacke auch schon wieder vorbei.

Er bewegte sich auf einem schmalen Grad zwischen Angst und Erregung, zwischen Macht und Ohnmacht, zwischen Vernunft und Wahnsinn. Paddy mochte nicht darüber nachdenken, was in ihm vorging.

Sein Herz hatte sich beruhigt, sein Atem ging wieder normal, der Schweiß auf seinem Körper war getrocknet.

Was soeben geschehen war, ließ sich mit gesundem Menschenverstand nicht erklären.

Devot hatte er folgenden Geistesblitz: Er würde sich kasteien, sich zur Buße, was auch immer er verbotenerweise getan hatte, züchtigen.

Paddy band sich einen Ledergürtel um den rechten Oberschenkel und zog ihn zu. Natürlich nicht zu fest, aber dennoch fest genug, dass er nicht herunterrutschte. Dankbar und erleichtert ließ Paddy sich in seine Kissen zurücksinken und genoss das Gefühl neuen Wohlbefindens. Mit Staunen verspürte er ein Hungergefühl.

Waren das Einbildungen eines alten Mannes? Oder am Vorabend ein Gläschen zu viel Absinth?

Der Auftrag – Detektei Indiskret

Der Sommer lag seit Wochen über der Stadt.

Lilo Moser stand vor der Zukunft wie vor dem Eingang eines langen dunklen Tunnels, trat auf der Stelle und hatte Angst vor dem ersten Schritt.

Mutig betrat sie durch eine Drehtür den Wolkenkratzer der Detektei Indiskret. Die durch die Klimaanlage gekühlte Luft schlug ihr unangenehm kalt ins Gesicht.

Im Laufe der letzten Jahrzehnte hatte sich hier viel verändert.

Begonnen mit Vater und zwei Söhnen. Ständiger familiärer Wechsel der Geschäftsführung. Teils freiwillig, meist jedoch verbunden mit einem Skandal. Aus der einst kleinen Dynastie war ein Imperium entstanden.

Im Vorzimmer gab es zwei Schreibtische und zwei Sekretärinnen. Der Energiepegel im Raum war hoch.

Beide Schreibtische waren ungeheuer aufgeräumt. Beide Sekretärinnen telefonierten hektisch, drücken Knöpfe und hackten im Zweifingersystem auf der Tastatur herum, starrten in ihre PCs, hatten augenscheinlich keine Zeit für die Besucherin.

Lilo begrüßte die Empfangsdamen. Die hübsche Blonde sah sie missbilligend an und unterbrach für einen Augenblick ihr Telefonat, indem sie die Hand über die Sprechmuschel hielt. „Zu wem wollen Sie? Haben Sie einen Termin?“, fragte sie nach kurzem Zögern, einen schnellen Seitenblick zu ihrer Kollegin werfend.

Lilo war erstaunt, dass man sie hier, in Frankfurt, als einen Niemand behandelte. In Offenbach wäre ihr das nicht passiert. Schließlich war sie die Frau von …

Andererseits war es pure Absicht über den Main zu fahren und um in Frankfurt um Hilfe zu bitten.

Eddies Praktikant tauchte wie aus dem Nichts vor ihr auf.

Bei dem sehr fotogenen Gesicht des Praktikanten, schön wie ein gefallener Gott, dachte man sofort an einen Tänzer. Ernst und schmal. Er hatte den durchtrainierten Körperbau und die Zartheit einer Gazelle. Nur der leichte Anflug von Bartstoppeln auf Kinn und Wange beeinträchtigten sein adrettes und gepflegtes Erscheinungsbild ein wenig.

Der Praktikant, so um die zwanzig, sah in Wahrheit zeitlos aus.

„Herr Fischer wird gleich Zeit für Sie haben“, sagte Kevin mit einer schönen tiefen Stimme. Er hatte einen frechen, irgendwie jugendlichen Zug um den Mund.

Lilo quittierte seine Worte mit einem höhnischen Lächeln.

„Hören Sie, Herr …, Termine sind meine Sache“, protestierte Sekretärin Nummer eins. Der Praktikanten reagierte nicht auf ihren Einwand und nichts in seinem Gesicht veränderte sich, abgesehen von einer sehr sparsamen Erregung um seine Augen. „Kommen Sie mit“, sagte er zu Lilo und machte eine kleine Kunstpause, hakte sie unter und tätschelte ihre Hand. „Sie werden bereits erwartet“, log er.

Kommentarlos drehte er den Empfangsdamen den Rücken zu, zog Frau Moser mit sich fort und führte sie zu einem Paternoster um die oberen Stockwerke zu erreichen.

Kevin hatte keine Ahnung wer diese reizende Dame war und Eddie wusste ebenso wenig Bescheid. Er wollte den beiden möchtegern Sekretärinnen lediglich wieder einmal eins auswischen.

„Können Sie meinen Mann überwachen? Ich glaube, er hat ein Verhältnis. Ihr Name ist Loreley, sie lebt mit ihm zusammen im Schloss“, seufzte sie und nahm Eddie gegenüber platz, knallte ihre Handtasche auf seinen Schreibtisch. Mit diesen Worten fiel sie, total überspannt mit der Tür ins Haus. < Dieses Äffchen klebt wie ein Stück Scheiße an seinem Absatz >, hätte sie am Liebsten gesagt. Ihr Puls raste, sie kochte vor Eifersucht. Um Fassung bemüht, blickte Lilo an ihm vorbei, starrte aus dem Fenster.

Eddie Fischer war ein ruhiger höflicher Mensch, der auf seine Umgebung ausgesprochen beruhigend wirkte, vielleicht weil er über seinem Ehrgeiz nie seine gute Erziehung vergaß. Alle mochten ihn. Einer der Gründe, weshalb sie ihn heute aufsuchte.

Der Ermittler der Detektei Indiskret überlegte, wie er aus dieser Nummer wieder rauskam. Kleinkram, wie stutenbissige, eifersüchtige Ehefrauen, lehnte er prinzipiell ab. Es war immer das gleiche mit nur geringfügigen Variationen. Er war doch kein Mülleimer, in den man seine Sorgen hineinwarf. Er konnte sie nicht ernsthaft beraten. Sie wollte reden und er sollte zuhören. Verständnisvoll, selbstlos, gerührt und sie vielleicht einmal auf die humorvolle Seite der Sache hinzuweisen.

Sein Blick streifte ihr Gesicht. Ihre Augen gefielen ihm gar nicht. Er sah Niedertracht darin, wie das Blitzen in den Augen einer zusammengerollten Schlange, die jeden Moment zuschnappen konnte.

Doch halt. Da war noch etwas. Er kannte sie. Diese exzentrische eigensinnige Person. Von wo bloß?

„Tut mir leid, da müssen Sie sich an einen Kollegen wenden.“ Er stützte einen Ellbogen auf die Stuhllehne und lehnte das Kinn in die Hand. „Das ist nicht mein Ressort. Meine Abteilung hat den Schwerpunkt: Wirtschaftskriminalität“, log er.

Die Zeit, wo er mit Kamera, Block und Stift sich die Nächte um die Ohren schlug, waren Gott sei dank schon lange vorbei. Es schauderte ihn, als er daran dachte, wie er mit Haarspray und Zahnbürste bewaffnet vor Fußabdrücken kniete um einen Gipsabdruck abzunehmen, mit einem Pinsel aus Marabu-Federn Fingerabdrücke sicherte, die Post aus dem Briefkasten fischte, den Müll durchsuchte ...

 

„Nur keine falsche Bescheidenheit. Sie sind ein erfahrener Detektiv.“

Eddie wollte sie unterbrechen, aber sie ließ sich nicht beirren.

„Sie sind neugierig und lassen sich so leicht nichts vormachen ...“. Lilo suchte in seinen Augen nach einer Spur von Stolz, sah aber nur einen Ausdruck echter Verwirrung in seinem Blick.

Hatte, oder wollte sie ihn nicht verstehen? „Ich wiederhole mich nur ungern ...“.

Sie ließ ihn nicht ausreden. „Na ja, dann eben nicht.“ Sie warf ihm einen herablassenden Blick zu, legte die Hand über die Augen, wippte nervös mit dem Bein. Lilo war zerknirscht. Sie stand auf, griff nach ihrer dünnen Stola, die sie über einen Stuhl geworfen hatte und richtete sich kerzengerade auf, als ob diese Bewegung auch in ihrem Hirn etwas in Bewegung gesetzt hätte. Ihr Bein bewegte sich noch immer. Sie ließ ihren Blick zu Eddie wandern. Eine Weile sagte sie gar nichts. Lilo stand nur hoheitsvoll da, in ihr leichtes, pastellfarbene Etuikleid mit Spaghetti-Trägern gehüllt, tadellos gekleidet, wie immer, wie eine Priesterin in ihrer Robe und nestelte an ihrer Halskette. Dann wandte sie sich Eddie zu. Sie sah in ein ausdrucksloses Gesicht mit markanten Zügen und einem kühlen, distanzierten Schmunzeln. Lilo wusste, dass er sie im Stillen taxierte – und es missfiel ihr. Sie schaute ihn konsterniert an.

„Einen Versuch war es jedenfalls wert“, sagte sie abschied nehmend. Ein leises, hintergründiges Lächeln spielte um ihre gekräuselten Lippen. Sie zuckte mit den Schultern. „Sie haben mich nicht einmal nach dem Namen meines Mannes gefragt.“

„Nun, ich denke es ist alles gesagt.“ Eddie erhob sich, froh, zu einem Ende gekommen zu sein und machte keine Anstalten, ihr mit dem Tuch behilflich zu sein. Vielleicht verspürte er, dass sie nicht in der Stimmung war, sich verwöhnen zu lassen. Sie ging mit den Worten „Moser, Paddy Moser“ davon, aufrecht, fast steif.

Er dachte, ob man sie nun mochte oder nicht, sie war jedenfalls eine bemerkenswerte Frau, ein Knaller. Intelligent und attraktiv. Man musste vermutlich so sein wie sie, wenn man mit einem Mann wie Paddy Moser verheiratet war. Gefangene in einer freundlosen Ehe.

Und dann viel es ihm wieder ein. Das war doch eben Liese-Lotte mit Bindestrich Müller die ihm gegenüber saß. Einst Traum seiner schlaflosen Nächte.

Gewiss war er damals kein Adonis, ein vollschlanker Bube mit Pickeln und Brille, aber seine Augen besaßen einen humorvollen Schimmer und seiner Stimme hörte man an, dass er gern lachte. Sie hatte sich sehr rasch seinem Dunstkreis entzogen.

Wie war das nochmal?

Sie kannten sich von den Pfadfindern. Liese-Lotte, Theo und er. Paddy, um einiges älter, war der Rudelführer.

… schon in jungen Jahren litt sie an gnadenloser Selbstüberschätzung, nachdem sie die Wahl zur Miss Offenbach gewonnen hatte.

Eddie konnte nicht genau das Datum nennen, an dem ihre Beziehung zu Paddy anspruchsvoller wurde, die nun zu einer Belastung in ihrem Leben geworden war. Damals, als Paddy seine ganze Aufmerksamkeit immer mehr auf seine Karriere und seinen Ehrgeiz richtete. Sie war für ihn immer nur eine Trophäe. Ein Accessoire, wie ein Ring oder seinem zahllosen Lametta, dass er um den Hals trug. Er hatte sie nie wirklich geliebt. Sie war einfach da. Zur rechten Zeit am rechten Ort, aber eben nur die zweite Wahl. Hatte Lilo das alles nur verdrängt, oder tatsächlich vergessen? Liese-Lotte mit Bindestrich Müller. Nur noch eine hübsche Ruine! Nicht alltagstauglich.

Von Anfang an hatte Paddy in ihrer Ehe das Sagen. In den vielen Jahren ihres Zusammenseins bestimmte er allein ihre Unternehmungen, mit wem sie verkehrte und was sie unternahm. Vielleicht hatte sie jemanden gebraucht, der ihr alle Entscheidungen abnahm, sie umsorgte und verwöhnte. Vielleicht hatte sie die Möglichkeit gebraucht, selbst in einem anderen zu verschwinden. Anfangs hatte Lilo nichts dagegen gehabt, dass Paddy ihr Leben in die Hand nahm. Er wusste, was für sie am Besten war. Er meinte es nur gut. Wie hätte sie, die aus bescheidenen Verhältnissen stammte, ein arme Leute Kind, wo man jeden Pfennig zweimal umdrehte, ohne sein Geld, überleben können?

Aber dann hatte sie in zunehmendem Maß, vielleicht sogar ohne bewusste Absicht, versucht, sich selbst zu behaupten. Lilo fing an sich mit Paddy zu streiten. Sie trug Kleider und Farben, von denen sie wusste, dass er sie nicht mochte. Sie stopfte sich, kurz bevor er sie in sein Lieblingslokal ausführte, mit Süßigkeiten voll. Lilo weigerte sich seine Freunde zu kontaktieren, bis sie zuletzt aus dem Schloss auszog. Sie ließ sich nicht länger, als Anhängsel, auf die Ehefrau vom Moser reduzieren.

Theo war doch damals auch ganz verrückt nach ihr, viel es Eddie wieder ein, aber Paddy machte das Rennen, nachdem Salome verschwunden war.

Apropos Theo. Man könnte sich mal wieder auf ein Bier treffen und über die alten Zeiten reden.

Lilos Besuch würde ihn bestimmt interessieren.

Trotz der Absage beschloss Eddie, ein Auge auf Paddy zu werfen. Nur so. Aus Neugier.

Zum Aufgalopp, eine schöne Aufgabe für seinen Praktikanten.

In strahlendem Sonnenschein trat Lilo wieder auf die Straße. Ein durchdringender Geruch von Benzin und Abgasen lag in der vor Hitze stehenden Luft. Dunkle Wolken kündigten Regen für den späten Abend an.

In der Ferne erblickte sie Helen, die ihr freudig zuwinkte und näher kam.

„Wo steht Dein Wagen?“, fragte Helen Lilo, als sie frohgemut über den betonierten Fußweg zum Parkplatz ging.

Sie wandte sich ihr zu. „Ich bin mit dem Taxi gekommen.“ Ihr linker Mundwinkel zuckte.

Helen schaute Lilo verdutzt an und schloss ihr Auto auf. Kleine Fältchen zogen sich um ihre Augen. Zwei tiefe Furchen liefen zwischen Wangen und Nase. „Das klingt aber gar nicht gut. Steig ein. Ich habe Brot, Käse, Schinken und ein paar Tomaten im Kühlschrank.“ Helen zögerte, „das müsste reichen. Oder wollen wir uns etwas vom Italiener holen?“

„Quatsch. Ein Glas Wein reicht mir.“

„Mir auch. Um ehrlich zu sein, Käse und Schinken sind reichlich betragt.“

„Obwohl für Alkohol ist es noch zu früh ...“. Sie sah Helen kritisch an.

„Blödsinn. Irgendwo ist immer Abend! Wir lassen den Wolf vor der Tür und haben Spaß.“

Helen schloss die Wohnungstür auf, legte ihre Handtasche, die sie unter dem Arm trug, auf der Garderobe ab und stieg rückwärts aus ihren Sandalen, ging Barfuß in die Küche.

„Rot oder Weiß?“

„Rot. Rot beruhigt.“

„Du liebe Güte! Ist es so schlimm? Wie kommt es, dass Du mit dem Taxi gefahren bist? Hattest Du einen Unfall?“, fragte Helen und war selbst überrascht, als sie das Zittern in ihrer Stimme wahrnahm.

Lilo setzte sich, schlang die Arme um die angezogenen Beine, schluckte trocken und erzählte, unheilschwanger, wie ein Vulkan kurz vor dem Ausbruch, Helen von ihrem Verdacht, dass Paddy eine Geliebte hatte. Sie berichtete geduldig von ihrem Treffen mit einem Privatermittler der Detektei Indiskret und das dieser den Auftrag aufgelehnt hatte. Lilo vergrub das Gesicht in den Händen. „Ich kann doch nicht einfach ins Schloss gehen und so tun, als sei alles in Ordnung! Wenn ich ihn fragen würde, würde er mir ausweichen oder alles abstreiten, dass weiß ich, so gut kenne ich ihn und zu einer Szene habe ich keine Lust. Das finde ich einfach unwürdig. Ich käme mir vor wie eine miese Schauspielerin in einer noch mieseren drittklassigen Schnulze“, ereiferte sich Lilo. „Würde ich ihm eine Szene machen, bekäme er sofort Oberwasser und würde, wie immer, die Schuld auf mich abwälzen.“

Helen schüttelte zustimmend mit dem Kopf. „Recht hast Du.“ Ihre Stimme gewann durch die Entrüstung wieder an Kraft.

So ging die Unterhaltung weiter bis in die frühen Abendstunden.

Inzwischen war es dunkel geworden. Helen stand auf, holte sich Zigaretten und ein Feuerzeug, öffnete die Balkontür, um die laue Nachtluft ins Zimmer zu lassen.

„Lass uns die Sache einmal ganz nüchtern betrachten. Du hast Paddy mit Loreley an einem Ort überrascht, wo er mit großer Wahrscheinlichkeit auch von anderen, ich meine von gemeinsamen Bekannten, gesehen wurde. Wenn er tatsächlich ein Verhältnis mit dieser Person hätte, würde er sich nicht mit ihr in der Öffentlichkeit blicken lassen. Zumindest kann ich mir das nicht vorstellen.“

„Aber wie finde ich heraus, ob die beiden wirklich etwas miteinander haben?“ Lilo hob entmutigt ihr Glas, führte es an ihre Lippen und hielt es mit den Zähnen fest. Es war leer. Sie stellte es ab und schenkte sich nach, musterte aufmerksam, unverkennbar skeptisch, das Etikett.

„Bevor wir uns etwas ausdenken, hole ich uns doch etwas zu essen. Ich habe Hunger bekommen.“ Helen machte ihre Zigarette aus und ging zurück in den Wohnbereich, schloss die Balkontür und zündete zwei Duftkerzen an. Theo mochte es nicht, wenn in der Wohnung geraucht wurde.

„Ich auch“, gestand Lilo, stand auf und ging in die Küche, gefolgt von Helen.

„Hast Du Marmelade im Haus und Butter, die nicht ranzig ist?“ Sie lehnte ihren Kopf an das Regal mit den Kochbüchern und kreuzte die Arme vor der Brust, wohl aus dem Bedürfnis, sich vor ihren eigenen Gedanken zu schützen.

Helen verzog das Gesicht zu einer Fluppe und verbreitete somit eine komische Stimmung. „Bist Du verrückt? Marmelade mit Wein geht gar nicht. Aber Du bringst mich da auf eine Idee ...“. Sie rannte zum Kühlschrank und riss die Tür auf. „Sie ist noch da! Frühstücksfleisch in der Dose, das Verfallsdatum ist noch nicht abgelaufen. Na, wie klingt das?“

„Perfekt.“ Lilo prüfte das Toastbrot. „Das ist noch essbar“, stellte sie fest.

„Bewunderst Du Deinen Mann? Himmelst Du ihn an? Vermittelst Du ihm das Gefühl, er sein ein einziges Juwel und ein göttlicher Liebhaber?“

„Bin ich blöd?“, entgegnete Lilo heftig.

„Nein, das bist Du nicht, aber klug bist Du auch nicht. Du solltest Loreley dankbar sein, weil sie Dich aus deiner verschlafenen, phantasielosen Trägheit herauskatapultiert hat. Jetzt bist Du aufgeschreckt. Siehst Du.“ Helen sprach mit dem vollen Glas in der Hand. Sie war so in Rage, dass der Wein drohte überzuschwappen. „Jetzt willst Du vielleicht sogar kämpfen? Willst ihr zeigen, wer das Alphaweibchen ist. Auch zubeißen? So lange, bis sie abgeschlagen das Feld räumt? Gut so. Du musst ihr zeigen, wo‘s langgeht.“