Garibaldis Fuss

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Das Mandat

Das Datum hat sich in seinem Kopf eingeprägt wie kein anderes. Vieles ist vergessen, allzu vieles. So ist das Alter. Es ist, als werfe das Gehirn Ballast ab wie ein Ballonfahrer den Sand, um leichter zu werden, höher zu steigen.

Es war der 26. August 1832, als Samuel Zopfy nach dem Gottesdienst in der reformierten Kirche von Pfarrer Leuzinger ein Mandat verlesen liess. «Er empfiehlt sich einem hochzuverehrenden Publikum, dass er zum medizinischen und chirurgischen Beruf sich auch noch mit der Zahnheilkunde beschäftige …»

Er sass bei den jungen Männern in einer hinteren Reihe im Kirchenschiff. Blicke streiften ihn, während der Pfarrer den Text mit seltsamen Betonungen verlas, als handle es sich um eine fremde Sprache, «… und verbindet hiermit die Anzeige, dass er das sichere Ausziehen hohler, abgebrochener, schmerzhafter Zähne und unter dem Zahnfleisch sitzender Stifte versteht, wenn es die Noth erfordert. Und dass er das Einsetzen einzelner Zähne, Reihen und ganzer Zahngebisse mit allen nur mög­lichen Ressorts, wie es die Kunst nur vermag, von ihm selbst verfertigt, versteht.»

Der Pfarrer schürzte seine Lippen, machte eine Pause. Zahnlücken, schwarze Stummel, stellte Samuel fest. Es schien, als seien die Sätze dem Pfarrer unangenehm, weil sie ihn an seine eigenen Zahnschmerzen erinnerten. Und an die Kosten, die eine Reparatur seines verrotteten Gebisses verursachen würde.

Die Leute tuschelten. Samuel war heimgekehrt nach Jahren in der Fremde, Deutschland, Frankreich. Auch in Amerika war er gewesen, Philadelphia, Zentrum der medizinischen Wissenschaft der Vereinigten Staaten. Dort hatte er seinen Doktor gemacht. Aus dem verträumten Sohn des Gastwirts und Bäckers Heinrich Zopfi war ein weltgewandter Arzt geworden, der sich in mehreren Sprachen verständigen konnte. Ein feiner Herr in einem Anzug, von einem Schneider in Heidelberg auf Mass ge­fertigt. Die Freunde aus der Schule hielten Abstand, gaben ihm zu spüren, dass sie ihn nicht mehr als einen der ihren betrachteten, als einen «Hiesigen». Es kam ihm vor, als habe er sich im Ausland mit einer Seuche angesteckt. Gewiss, er war in der Schule schon ein Einzelgänger gewesen, ein Streber und Bücherwurm, der immer alles wusste, immer die besten Noten im Zeugnis hatte. Nun schrieb er sogar seinen Namen anders als die Verwandten und die über fünfzig Familien mit Namen Zopfi im Ort. Das hob ihn noch mehr ab als der feine Anzug, die gewählte Sprache, die vornehmen Manieren. Schon als Student in Heidelberg, München und Leipzig hatte er sich als «Zopfy» immatrikuliert. Und sich mit dem Y auf eine Stufe gehoben mit den Notabeln im Tal, den Trümpy, den Zwicky, den Tschudy.

Noch immer las Pfarrer Leuzinger vom Blatt, schmatz­te und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Gewiss, er wäre ein Kunde. «Er reinigt die Zähne mit möglichs­ter Sorgfalt von dem so schädlichen Weinstein, welcher, wenn er sich sehr anhäuft, das Zahnfleisch zurückdrängt und den Untergang der Zähne bewirkt, auch einen sehr üblen Geruch aus dem Mund verbreitet.»

Vornübergebeugt sass Samuel in der Kirchenbank, schwitzte und klammerte sich ans Gesangsbuch. Zwischendurch warf er verstohlene Blicke hinüber zur Frauenseite, wo zuhinterst am Mittelgang die Anna Maria sass. Die Tochter des Bäckers Tschudi, ein Kind noch fast, in einem weiten Sommerrock mit Rüschen und Spitzen. Sie hatte den gleichen Vornamen wie seine schaffige Mutter. Ihre Blicke trafen sich, und er glaubte, den Anflug eines Lächelns in ihrem Gesicht mit den Sommersprossen zu erkennen.

Er war zurückgekehrt in sein Heimatdorf als Arzt, Chirurgus, Zahnarzt und kundig in der neuen Lehre der Homöopathie. Er war heimgekehrt, um den Menschen in seinem Tal zu helfen, sie zu heilen von ihren vielen Krankheiten und Gebrechen und um eine Familie zu gründen. Hier war er Bürger, hatte Anteil am gemeinsamen Nutzen, am «Tagwen», konnte an der Landsgemein­de und an der Ortsgemeinde das Wort ergreifen. Hier war er ein freier Mensch. Im vom Adel beherrschten Deutschland der Könige und Fürsten war er ein Fremdling ohne Rechte gewesen. Vor der medizinischen Kommission des Kantons hatte er nach seiner Heimkehr eine Prüfung abgelegt, ein paar Fragen beantwortet, Papiere vorgelegt. Nun war er ermächtigt, seinen medizinischen und chi­rurgischen Beruf auszuüben. Er war nicht nur in der Wissenschaft auf dem Stand der Zeit, er hatte auch geschickte Hände.

«Hohle Zähne füttert er mit Gold, Platina oder andern Substanzen nach Beschaffenheit der Höhle des Zahnes aus, dass das Eindringen der Luft und Speisen verhindert werde.»

Der Pfarrer verlas weitere Mandate, Zopfy hörte nicht hin. Die Gemeinde sang, betete, er faltete die Hände, bewegte seine Lippen. Seine Gedanken waren bei der schönen Anna Maria, ihren dunklen Augen, ihrem verhaltenen Lächeln. Er hatte sie als Kind gekannt, manchmal stand sie im Laden bei der Mutter, wenn ihn sein Vater geschickt hatte, beim Tschudi Hefe auszuleihen, weil sie ihm ausgegangen war. Die braunen Haare zu zwei Zöpfen geflochten, die Nase zierte ein Tupfer Mehlstaub. Nun versteckte sie ihre Haare unter einer Haube, wie es Brauch war. Die Sommersprossen kaschierte sie mit Puder.

Die Glocken läuteten zum Ende des Gottesdienstes. Man trat ins Freie, erst die Frauen, dann die Männer. Draussen schien die Sonne auf die steilen Hänge und Felsen am Glärnisch. Er stand bei den Männern im Kirchhof, Hände auf dem Rücken gefaltet. Ein Weisshaariger sprach ihn an, gratulierte ihm zu seinen erfolgreichen Studien, dem Doktortitel aus Philadelphia, wie er vernommen habe, und wünschte ihm Glück mit der neuen Praxis. Es war sein alter Schulmeister Fridolin Tschudi, der auf ihn einschwatzte, von Politik und den grossen Veränderungen sprach, die bald hereinbrechen und die alte Ordnung hinwegfegen würden. In Zürich hätten die Liberalen nach der Macht gegriffen. Die Landschaft mucke auf gegen die noblen Herren aus der Stadt. Johannes Hegetschweiler, ein Arzt aus Stäfa, sei in die Regierung eingetreten, nach einer grossen Rede in Uster im November des vorletzten Jahres. «Ein Freund des Glarnerlandes übrigens, der mehrmals versucht hat, den Tödi zu besteigen. Im Bad Stachelberg in Linthal ist er abgestiegen, hat das dortige Schwefelwasser analysiert und darüber einen Bericht verfasst.»

«Ich weiss. Habe davon gehört.» Samuels Gedanken waren anderswo. Tschudi schwatzte ohne Unterlass weiter.

«Es gibt Kräfte, die auf einen Einheitsstaat drängen, auch im Glarnerland. Ist ja ein Anachronismus, drei Landsgemeinden, eine katholische, eine reformierte und eine gemeinsame. Dieses Gerangel um Ämter und Pfründe ohne Ende, sinnloses Palaver. Die neue Zeit …»

«Gewiss, Herr Tschudi, ganz Ihrer Meinung.»

Ob er in Heidelberg mit dem Jungen Deutschland in Kontakt gekommen sei? Ob er gar vor der Repression der Obrigkeit gegen die freiheitlichen Bewegungen geflohen sei in die Heimat? So wie der Dichter Heinrich Heine, der jetzt in Frankreich lebe.

«Habe mich vor allem auf mein Fach konzentriert, meine klinischen Studien. Und die Homöopathie», antwortete Zopfy. «Keine Zeit gehabt für studentische Kneipereien und Politik.»

Er sah sich um, die Frauen hatten sich zerstreut, Anna Maria war verschwunden. Die Männer strebten dem Hotel Adler und den Wirtshäusern zu, er verabschiedete sich von seinem alten Lehrer, schritt in Tagträume versunken zum Rothaus an der Strasse nach Schwändi, das seinen Eltern gehörte und in dem er ein einfaches Behandlungszimmer eingerichtet hatte.

Im Weinberg

Neben der Tür lehnt ein Stock, ein knotiger Buchenast aus dem Niederental. Der Griff ist poliert vom Spazieren und Wandern, der Schaft mit Schnitzereien verziert, Edelweiss und Gemsköpfe. Zopfy greift nach ihm. Sich bewegen ist die beste Medizin. Ein paar Schritte, Atem schöpfen, frische Luft. Die Hüftgelenke schmerzen und sein rechtes Knie. Gicht. In letzter Zeit häufig Kopfschmerzen und Schwindel. Symptome, die er sich nicht erklären kann. Ach, man wird alt. Der Rachen trocknet aus in der Nacht, auch das kein gutes Zeichen. Beim ­Gehen scheint der Boden unter den Füssen leicht zu schwanken. Wie das Deck des Schiffs damals, auf der Überfahrt nach New York.

Hinter dem Haus steigt der Hang des Erlenbergs steil an gegen Sool hinauf. Stufen aus Schieferplatten, Terrassen, Trockenmauern. Sein Weinberg, ein Jammer. Unkraut wuchert zwischen den Rebstöcken, die Blätter sind von der Reblaus zerfressen. Da und dort hängt eine kümmerliche Traube im gelben Laub. Wie mein Körper, denkt Zopfy, alles löst sich auf. Humus für kommende Generationen. Das neue Jahrhundert, das in zehn Jahren anbricht, würde er nicht mehr erleben. Die Tafel am Weinberg, die er vor Jahrzehnten hat aufstellen lassen, ist von Rostflecken übersät. Buben haben mit Steinen Zielübungen gemacht. Der Text ist kaum mehr zu lesen.

«Rechtbott: Unter Hinweisung auf die Bestimmungen der Art. 72–76 der Civ. Pr. Ordn. lässt hiermit Herr Dok­tor Samuel Zopfi in Schwanden Jedermann auf Recht ­verbieten, durch und über seinen eigenthümlich besitzenden Weinberg zu gehen, zu fahren, zu holzen oder ihn sonst auf irgend eine Weise zu beschädigen.»

Er hat seinen eigenen Wein gekeltert, in der Trotte aus dem siebzehnten Jahrhundert gepresst. Erlenberger! Hat ihn in der Gastwirtschaft im Rothaus ausschenken lassen. Eine Liebhaberei, die ihm finanziell nichts einbrachte. Dafür Scherereien mit Nachbarn, Nachtbuben und Leuten, die seinen Privatbesitz nicht respektierten. Er hatte das Rothaus und die Wirtschaft vom Vater übernommen, später versteigert. Schliesslich war er Arzt, nicht Wirt. 1856 hat er das Wohnhaus am Fuss des Weinbergs neben der alten Trotte bauen lassen. In bester Lage am Sonnenhang über dem Dorf. Wie es sich für seinen Stand gehört.

 

Zopfy bleibt stehen. Der Atem geht schwer, die Kopfschmerzen bohren heftiger, trotz der frischen Luft. Der Föhn. Er weht Geräusche vom Dorf herauf, Rufe da und dort, Kindergeschrei, Hämmern, Axtschläge, Stampfen von Wasserrädern, der lang gezogene Pfiff der Dampf­lokomotive, die in den Bahnhof einfährt, das Kreischen der Räder auf den Geleisen.

Schwanden, Hauptort des Glarner Hinterlandes. Die mechanische Textilindustrie breitet sich aus nach Jahrzehnten der wirtschaftlichen Depression, verdrängt die Manufakturen des Stoffdrucks. Maschinenhäuser wachsen aus dem Boden, drei- und vierstöckige Spinnereien und Webereien mit Giebeldächern und gleichförmigen Fensterreihen. Hochkamine qualmen. Das Wachstum schafft Arbeit, stopft Mäuler, sodass die Menschen nicht mehr auswandern müssen wie durchs ganze vergangene Jahrhundert. Auch er ist hinübergefahren, im Jahr achtundzwanzig, aber aus andern Gründen. Nach Philadelphia, ins Zentrum der medizinischen Kunst in den Vereinigten Staaten. Zurück kam er mit einem Diplom auf Pergament, das ihn als Doktor der Medizin auswies.

Zopfy stützt beide Hände auf die Mauer, der Atem beruhigt sich. Nach Sool hinauf würde er es nicht mehr schaffen. Er schreitet eine Reihe Reben entlang, betrachtet die Stecken, die er mit einem Quecksilberpräparat ­behandelt hat, homöopathisch. Keine Fäulnis, kein Pilz, das Holz unversehrt. Im Gegensatz zu den Stangen der Telegrafenleitung, die nach wenigen Jahren umgestürzt sind, weil sie durchgefault und vom Pilz und Würmern zerfressen waren.

Die Telegrafenverwaltung in Bern hat sein «Rezept zum Schutze der Telegraphenstangen gegen Fäulnis» abgelehnt. Versuche hätten sich nicht bewährt. Darauf hat er Bundesrat Emil Welti, Vorsteher des Post- und Eisenbahndepartements, einen Brief geschrieben. Die Antwort steht noch aus. Der hohe Magistrat ist wohl zu sehr beschäftigt mit dem Skandal um seine Schwiegertochter Lydia, die mit dem Kunstmaler Stauffer nach Rom durchgebrannt ist. Dabei könnte der Staat grosse Summen einsparen mit seinem Rezept auf der Basis von Quecksil­berchlorid. In einer Zeit des rasenden Fortschritts, wo elektrische Leitungen und Telegrafendrähte schon bald das ganze Land überspinnen, braucht es Stangen, Stangen, Stangen. Ein Vermögen könnte er mit seinem Verfahren machen. Aber er braucht kein Vermögen mehr, hat schon einen Teil des Seinigen gestiftet, und auch das Geld für sein Rezept würde der Stiftung zugute kommen.

Ob der Brief überhaupt zum Bundesrat gelangt ist? Oder ob sein Schreiben im Papierkorb eines verschlafenen Beamten gelandet ist? Man nimmt ihn nicht mehr ernst, weder in Bern noch in Glarus. Einst galt der alte Mensch als Weiser, dessen Meinung respektiert wurde. Heute ist er nur noch ein Clown, der die Zeit nicht mehr versteht und den Jungen auf der Tasche hockt.

Zopfy beginnt die Treppe hinabzusteigen, tastet vorsichtig mit dem Stock über die Stufen. Nur nicht hinfallen, die alten Knochen sind brüchig, wachsen nicht mehr zusammen. Er hat schon viele Alte an einem Beinbruch sterben sehen.

Vor dem Haus setzt er sich auf die Bank, schliesst die Augen. Von der Stoffdruckerei der Blumer «i dr Müli» jenseits des Sernf dringt das rollende Pochen der Druckmodel herüber. Es gehört zum Leben wie hier der Föhn, der in Wellen durch die Wälder über dem Dorf streicht und die Weidenbüsche über dem Weinberg niederbiegt, sodass die Blätter silbern aufschäumen. Die Textilfabrik in der «Herren» am Eingang zum Kleintal wird bald auch nachts ihre Maschinen laufen lassen. Ringspinnmaschinen, neueste Technik aus England. Die Herren Paravi­cini schwärmen vom elektrischen Strom, den sie mit einem Turbinenrad und einem Generator erzeugen. Seit Kurzem beleuchten sie mit Edisonlampen die Maschinensäle und die Brücke über den Sernf. Bald schon werden elektrische Motoren die Maschinen antreiben, sagen sie, die gefährlichen Transmissionen ersetzen.

Wie aus Wasser Strom wird, hat einer der Herren in einem Vortrag im Gewerbeverein erklärt. Zopfy kann sich das nicht vorstellen, niemand hat den elektrischen Strom je gesehen. Das Wesen dieser neuen Technik ist unsichtbar, kein Mikroskop enträtselt ihr Geheimnis. Nochmals jung müsste man sein, Ingenieur, das ist die Zukunft. Doch er steht mit dem Rücken zur Wand. Auch wenn er hundert Jahre alt wird, das Leben ist gelebt. Im Januar war sein 86. Geburtstag, und nun ist schon wieder Herbst. Die Zeit rast immer schneller, die Gedanken bleiben zurück, wandern immer öfter in die andere Richtung, als flöhen sie vor dem Ende, dem Unvermeidlichen. Die Vergangenheit wird gegenwärtiger als die Ge­genwart.

Homöopathie

Im Halbschlaf hatte Sämeli das Wort zum ersten Mal vernommen: «Revolution!» In den Kneipen von Heidelberg war es später in aller Munde. Flugschriften forderten Demokratie und soziale Gerechtigkeit. Der reaktionäre Adel sollte entmachtet, die Fürstentümer und König­reiche zu einer Deutschen Republik vereinigt werden. Deutschland endlich eine Grossmacht wie Frankreich oder England. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, die Ide­ale der Französischen Revolution sollten zwischen Rhein und Elbe wieder auferstehen nach den Jahrzehnten der Reaktion, dem Diktat von Metternich und Konsorten. Im Juli waren in Frankreich Handwerker, Bürger und Studenten auf die Barrikaden gestiegen, Frauen und Männer hatten mit der Waffe in der Hand die Macht des Adels gebrochen, den König verjagt und den Bürgerkönig Louis Philippe von Orléans auf den Thron gehoben. In Deutschland scheiterten die demokratischen Bewegungen, ihre Schriften wurden verboten, ihre Vorkämpfer gingen ins Exil oder wurden verhaftet.

Doch Politik interessierte den Studenten Samuel Zopfy nur am Rande. Er wollte lernen, wollte weiterkommen, konnte nicht in den Kneipen hocken wie die Söhne von betuchten Bürgern und fürstlichen Beamten. Auch fehlten ihm die Mittel. Er hatte seine Studien am Medizinisch-Chirurgischen Institut in Zürich begonnen, auch dort hatte schon eine aufgekratzte Stimmung geherrscht. Alles sprach von der politischen Wende, die sich anbahne, von einer grossen Landsgemeinde in Uster, welche die Regierung stürzen und allen Bürgern in Stadt und Land gleiche politische Rechte bringen werde. Vor seiner Abreise ins Ausland hatte er im August 1830 an einem Schiessen «der Herren Studierenden am Gymnasium und politischen Institute in Zürich» teilgenommen. Die Radikalen forderten in jenen Wochen die Gründung ei­ner Universität mit medizinischer Fakultät. Doch er moch­te nicht warten. Hatte sich im Herbst 1830 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München immatrikuliert, nach einem Jahr an die Universität Heidelberg gewechselt. Mitten im revolutionären Aufbruch.

Doch seine Revolution war von anderer Art. Im Se­zier­saal war einer neben ihn getreten, als er eben ein Schweineherz mit dem Skalpell zerlegte.

«Was Sie hier lernen, mein Herr, ist von gestern.»

Zopfy hielt inne, wischte sich die blutigen Händen an einem Tuch ab. «Wie meinen Sie das?»

Der Kommilitone nahm Haltung an, zog die Mütze und hielt sie vor die Brust. Stellte sich vor, ein Landsmann aus Zürich. Er trug Farben, Bierzipfel am Band, Mitglied einer schlagenden Verbindung, ein Schmiss im Gesicht.

«Eine Revolution der Medizin meine ich.»

Dann vernahm er zum ersten Mal das Wort, das ihn nicht mehr loslassen würde: «Homöopathie!»

Die Medizin, wie sie heutzutage gelehrt und prak­tiziert werde, bringe Menschen um, statt sie zu heilen. Aderlässe, Trepanationen und chirurgische Eingriffe führten zu Wundbrand, verursachten unnötiges Leiden. Falsch dosierte Arzneien vergifteten die Patienten. Blutegel und Schröpfen? Der pure Aberglaube! Der Kommilitone lachte. «Selbst Beten ist besser als das, was Sie hier lernen!»

Später sassen sie beim Bier in der Kneipe, im Tabakqualm, Stimmenlärm, Gesang und Grölen der Studenten. Der Landsmann beugte sich über den Tisch, schrie Samuel durch den Lärm ins Ohr, berichtete von der Heilkunde, der Erfahrung eines Doktor Hahnemann. «Heisst übrigens Samuel, wie Sie, mein Freund. Leibarzt bei Her­zog Friedrich Ferdinand von Anhalt-Köthen.»

Es gelte nach Hahnemanns Lehre nicht, die Ursachen von Krankheiten im Innern der Körper zu ergrübeln, wie das die Medizin seit zweitausend Jahren ver­suche. Dagegen stelle er die Erfahrung des Arztes, der einem Krankheitsbild die richtigen Arzneimittel zuordnet. Hahnemann habe das Prinzip entdeckt, dass Ähnliches durch Ähnliches geheilt werden solle. «Simila similibus curentur.» Ein wirksames Arzneimittel rufe an Gesunden ähnliche Symptome hervor wie die Krankheit am Kranken. Die Natur heile oft eine Krankheit durch ei­ne ähnliche. «Hahnemann hat das zuerst an sich selber ausprobiert, hat ein Präparat aus Chinarinde eingenommen und dabei die Symptome von Wechselfieber verspürt.»

«Und damit soll es geheilt werden?»

«Gewiss! Hahnemann hat zudem die Erfahrung gemacht, dass die Arznei stark verdünnt werden muss, ­damit sie ihr inneres Wesen, ihre geistige Kraft entfalten kann. Das Verdünnen der Grundsubstanz potenziert die heilende Wirkung und schwächt unerwünschte Gift­stoffe.»

Zopfy war interessiert. Besuchte Vorlesungen des Phy­siologen Johann Wilhelm Arnold und vertiefte sich neben der Chirurgie in die homöopathische Lehre. Er lern­te aus Pflanzen, Mineralien oder tierischen Rohstoffen durch Verschütteln oder Verreiben sogenannte Urtinkturen herstellen, diese dann mit Trägersubstanzen verdünnen. Neugierig, wie er war, erprobte er die Wirkung der Arzneien an sich selber. Eine Tinktur aus den hochgiftigen Wurzelknollen des Blauen Eisenhuts rief bei ihm heftige Gelenkschmerzen hervor. Damit hatte er eine homöopathische Arznei zur Behandlung von Arthritis, Gicht und Rheuma entdeckt – Jahrzehnte später würde er sie dem General Garibaldi verabreichen.

Nach Ende des Semesters reiste er nochmals nach München zu Medizinalrat Franz Seraph Widnmann, ei­nem Schüler Hahnemanns. Er war Leibarzt des Herzogs Eugen Beauharnais gewesen, einem Stiefsohn Napoleons und seinerzeit Vizekönig von Italien. Widnmann stellte kritische Fragen zu Hahnemanns Lehre, die Frage nach der richtigen Verdünnung etwa, die Zopfy dann zeitlebens beschäftigte.

Dann hatte ihn die Krankheit vieler Schweizer im Ausland befallen. Heimweh. Und dagegen half weder die homöopathische noch die allopathische Medizin. Wenn frühmorgens ein Pferdegespann vor dem Fenster seiner Bude vorbeirumpelte, begleitet von hellem Schellengeläut, dann hörte er die Geissen ins Niederental ziehen. Er vermisste die Berge und das Tal, das so lieblich und grün war im Sommer, träumte immer wieder vom Fliegen. Schwerelos durch die Lüfte schweben, den Rhein hinauf nach Basel und weiter den Bergen entgegen. Schliesslich wanderte er zu Fuss zurück in die Heimat. Seine Praxis als «homöopathischer Arzt und Wundarzt in Schwanden» liess sich von Anfang an gut an, trotz der schwierigen Zeiten.

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