Arkadien

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3.

Ich bin für die Anbetung geschaffen. In ihrem Klima blühe ich auf. Und niemand verdient Anbetung mehr als Arkady. Wäre ich ihm nicht begegnet, hätte ich vielleicht mein ganzes Leben damit zugebracht, mittelmäßige Menschen anzubeten, und es dadurch vergeudet. Ich hatte das unermessliche Glück, dass unser Retter sich als herausragender Mann erwies und der kultischen Verehrung, die ich ihm auf Anhieb und für immer angedeihen ließ, tausendmal wert war. Bevor ich ihn kennenlernte, hatte ich schon einen ausgeprägten Hang zur Vergötterung, nur dass sich dafür kein Gegenstand finden ließ: Meine Eltern lösten bei mir eher Mitleid aus und den Drang, sie zu beschützen, während ich meine Großmutter zwar sehr liebte, aber kaum zu ertragen vermochte. Arkady zog meine Inbrunst, meinen unbedingten Willen zu Fügsamkeit und selbstvergessener Hingabe sofort auf sich. Von den ersten Tagen unseres Lebens im Liberty House an hatte er mich auf den Fersen.

»Was machst du da, Farah Facette?«

»Ich komme mit dir mit.«

»Na gut, wie du willst.«

Er gewöhnte sich rasch an meine Gesellschaft und bedachte mich mit den gleichen flüchtigen Streicheleinheiten wie seine Meute von Katzen und Hunden – dennoch verfolgte er meine persönliche Entwicklung so aufmerksam wie niemand zuvor, weder meine armen Eltern noch meine Großmutter oder die Lehrerschaft in der Vor- und Grundschule; diese hatte lediglich meine Unansehnlichkeit und meine Ausgrenzung durch Gleichaltrige zur Kenntnis genommen, eine Ausgrenzung, die meine Lehrerinnen und Lehrer aufgrund der Gegebenheiten offenbar für unausweichlich hielten. Vermutlich dachten sie, wer so hässlich ist, müsse daran selbst ein klein wenig Schuld tragen.

Tatsächlich endete mit meiner Geburt eine lange Reihe von bemerkenswert attraktiven und makelfreien Wesen. In der Familie meiner Mutter pflegt man in Ermangelung anderer Eigenschaften und Ressourcen eben die Schönheit weiterzuvererben. Väterlicherseits sieht es nicht ganz so spektakulär aus, und trotzdem habe ich auf drei Generationen vergilbter Fotos nur harmonische Gestalten und ansprechende Gesichter entdeckt, weit entfernt von dem Anblick, den ich selbst biete, mit meinem krummen Rücken, meinen hängenden Lidern, meiner platten Nase, meinen konturlosen Lippen und dem animalischen Haaransatz. Die Pubertät hat alles nur noch schlimmer gemacht: Ich wurde knochig und klobig, meine Körperbehaarung geriet außer Kontrolle, und anstatt wie erwartet mächtig anzuschwellen, breiteten sich meine Brüste als eine Art Zittergelee über den Oberkörper aus, mit zwei kaum wahrnehmbaren lachsblassen Warzen. Beim sexuellen Wettbewerb bin ich folglich chancenlos, von vornherein disqualifiziert. Zu meinem Glück werden im Liberty House vor allem die Verlierer der großen Parade aufgenommen und den unerbittlichen Zwängen der Gesellschaft entzogen. Verglichen mit Arkadys anderen Gästen bin ich gar nicht mal so schlecht dran: Unter all diesen Fettleibigen, Scheckhäutigen, Bipolaren, Elektrosensiblen, Schwerdepressiven, Krebskranken, Polytoxikomanen und demenziellen Greisen mache ich mich sogar ganz gut. Immerhin bin ich jung und geistig gesund. So oder so ähnlich lautet die Botschaft von Arkady, als ich mich eines Tages an ihn wende, weil ich Klarheit erlangen möchte:

»Findest du mich hübsch?«

Ich nehme an, dass Mädchen in der Regel ihre Mütter danach fragen, aber wie soll ich das bei meiner Mutter wagen, die seit ihrem zartesten Alter unbestritten als herrliche Erscheinung gilt? Tatsächlich hatte Kirsten, als sie auf die vierzig zuging und das baldige Ende ihrer eigenen Modelkarriere vorausahnte, beschlossen, die Reize ihres einzigen Kindes in klingende Münze umzusetzen und es schon sehr früh zum Preispudel gemacht, zu einer Art vorzeitigen Minischönheitskönigin. Und obwohl meine Mutter zu sehr mit ihren Problemen beschäftigt ist, um auf ihr betörendes Aussehen Wert zu legen oder sich irgendetwas darauf einzubilden, wende ich mich für eine Beurteilung meines Äußeren trotzdem lieber an Arkady, der mich in dieser Hinsicht weniger einschüchtert. Ich kann nicht leugnen, dass er meine Frage sehr ernst nimmt, und so stellen wir uns gemeinsam vor einen großen Spiegel, der mit Rostflecken übersät ist. Während er mich hin und her dreht, um mich erst von vorn, dann im Profil und in Dreiviertelansicht zu begutachten, schöpfe ich allmählich wieder Hoffnung: Arkady ist ein Zauberer, der meine Schwachpunkte verschwinden lassen oder sie in überraschende Vorzüge verwandeln kann – aber da habe ich seine gnadenlose Ehrlichkeit und Offenheit nicht bedacht.

»Du bist ein bisschen … massig. Und deine Augen sehen so aus, als würden sie voreinander fliehen. Außerdem setzt dein Haar zu tief an, so wirkst du etwas beschränkt. Mach mal den Mund auf. Ja, deine Zähne sind gar nicht so übel, jedenfalls sind sie intakt. Schade nur, dass deine Vorderzähne …«

»Was ist mit meinen Vorderzähnen?«

»Sie stehen zu eng beieinander. Und du hast einen leichten Überbiss.«

»Was?«

»Macht doch nichts. Mir ist das lieber als diese überbehandelten Gebisse: ein und dasselbe Lächeln für alle – das ist so gar nicht meins!«

Ich weiß natürlich, dass Arkady Kieferorthopädie ablehnt, hätte aber selbst nichts gegen eine Zahnspange gehabt, wie sie alle tragen. Selbst ein Korsett hätte mich nicht gestört, denn ich habe, wie Arkady feststellt, einen Buckel – dabei sieht man in Frankreich schon seit Jahrzehnten keine Buckligen mehr.

»Deine Zähne sind ja noch passabel, aber das da, dein Rücken, da hätten deine Eltern doch zumindest …«

Er spricht den Satz nicht zu Ende, um Rehlein und Marqui keine Schuld zu geben, aber auch, um sich nicht selbst Lügen zu strafen, da er gern verkündet, man müsse sich so akzeptieren, wie man ist, mit seinen etwaigen Makeln – der dicken Nase, den Falten, der Orangenhaut, den vorstehenden Zähnen oder abstehenden Ohren, eben all dem, was die entsprechende Chirurgie zu korrigieren, zu reparieren, zu richten anbietet. Zwischen der Unbekümmertheit meiner leiblichen Eltern und den Dogmen meines geistigen Vaters werde ich so schnell keinen geraden Rücken erlangen, und so betrachte ich mich voller Verzweiflung in diesem altersbedingt doch schmeichelhaften Spiegel.

»Ich bin missraten.«

Jegliche Hoffnung auf Widerspruch wird auch jetzt wieder enttäuscht: Arkady nickt.

»Stimmt, sie haben dich ein bisschen verpfuscht. Aber nur ein bisschen, klar, nicht dass du mir noch das Wort im Mund umdrehst!«

Das, was er gesagt hat, macht mir schon genug zu schaffen, da brauche ich ihm keine schlimmeren Kränkungen zu unterstellen. Also hebe ich nur leicht meinen schweren Pony an, um die Stirn freizulegen und mein Gesicht dem strengen Blick von Arkady auszuliefern, dem ich nur recht geben kann: Etwas muss bei meiner Embryonalentwicklung schiefgegangen sein, hat mein rechtes Auge zu weit von meinem linken entfernt, meine Nase plattgedrückt, meinen Kiefer schwerer gemacht. Ich bin nur knapp, also wirklich ganz knapp an einer pathologischen Hässlichkeit vorbeigeschrammt. Gerade, als ich seufzend kehrtmachen will, packt er meinen Arm und zieht mich an sich.

»Wie alt bist du?«

»Vierzehn.«

»Hast du schon deine Regel?«

»Nein.«

»Lass uns noch ein Weilchen warten, aber wenn du in den nächsten zwei oder drei Jahren niemanden findest, der mit dir geht, und den Sprung wagen willst, kommst du am besten zu mir.«

»Wozu?«

»Keine Ahnung, das wirst dann du mir sagen.«

»Willst du mit mir gehen?«

»Warum nicht?«

»Aber du hast schon einen Freund …«

Diesen Einwand bringe ich nur der Form halber hervor, denn ich hätte nichts dagegen, dass Arkady den abscheulichen Victor betrügt, und vor allem nicht, wenn er es mit mir täte. Allein die Vorstellung, dass Arkady und ich miteinander Sex haben, bringt mich völlig aus dem Häuschen, Victor hin oder her. Er hält mich immer noch umfangen und blickt mich so zärtlich wie zweifelnd an:

»Stört dich, dass ich bereits einen festen Freund habe?«

»Aber nein, überhaupt nicht!«

Er soll sich ja nicht einbilden, dass ich deswegen Skrupel hätte, und er soll auf keinen Fall dieses Versprechen zurücknehmen, das er mir gerade macht! Ich bin erst vierzehn, aber ich weiß bereits, dass ich ihn liebe und begehre, obwohl er schon fünfzig ist und sein Aussehen fast so viel zu wünschen übrig lässt wie meins: Arkady – klein, dicklich, mit hellen Glubschaugen und einem Wulst zwischen Nase und Oberlippe, der an Affen erinnert – ist alles andere als ein Ausbund an Schönheit. Er schließt die Arme noch fester um mich und flüstert mir ins Ohr:

»Ich werde immer für dich da sein, Farah, okay? Und du bestimmst, wo es langgeht. Wenn du willst, schlafen wir miteinander, aber wir müssen nicht.«

»Gefalle ich dir?«

Er zuckt mit den Schultern und reißt die Augen auf, als wäre meine Frage überflüssig oder die Antwort selbstverständlich: »Na klar!«

»Aber warum sagst du dann, dass ich verpfuscht bin?«

»Weil dein Kopf merkwürdig aussieht und dein Körper auch. Aber das kann mit der Zeit besser werden. Und wenn nicht, ist mir das scheißegal. Ich finde dich sexy.«

»Warum legen wir dann nicht gleich los?«

»Ich fände es besser, wenn du es mit jemandem tust, den du wirklich liebst. Zumindest das erste Mal.«

»Du bist es doch, den ich liebe!«

Er lacht, greift mit beiden Händen nach meinem Schopf, zieht daran und dreht mein Haar ein, als wollte er daraus einen Knoten machen. In seinem Blick liegt jetzt keine Spur Zärtlichkeit mehr, was ich in ihm erkenne, gefällt mir aber so gut, dass ich meine geballte Überzeugungskraft in meinen eigenen zu legen versuche. Wozu die Warterei? Kein anderer als er wird jemals diese Wirkung auf mich haben. Ich würde gern etwas sagen, aber ich traue meinen eigenen Worten nicht, nie im Leben werden sie dem Gefühl gerecht, das er in mir auslöst. Wie soll eine Vierzehnjährige den Mann ihres Lebens dazu überreden, sie mit einer ordnungsgemäßen Entjungferung über alle Maßen zu beglücken? Denn ich habe den Eindruck, dass er mir gerade etwas Derartiges angeboten und es zugleich auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben hat. Also probiere ich es mit seinen eigenen Worten, was mir nicht ganz leichtfällt:

 

»Ich werde nie wen finden, der mit mir geht! Das weiß ich ganz genau … Und ich will … den Sprung wagen. Jetzt gleich.«

»Aber du bist noch nicht mal voll sexualmündig! Soll ich deinetwegen im Gefängnis landen?«

Seinen Worten zum Trotz ist er durchaus verlockt, das spüre ich und drücke mein Becken fester an seins. Er reißt sich mit einer Hüftdrehung von mir los, aber ich habe den Eindruck, dass er dafür einiges an Willenskraft aufbieten musste.

»Farah, mein Schatz, lass uns ein anderes Mal darüber reden, einverstanden? Glaub mir, du bist noch zu jung.«

»Ich bin nicht zu jung. Ich bin zu hässlich!«

Immerhin kenne ich Arkady seit neun Jahren und nehme seine frohe Botschaft von jeher begierig auf. Um ihn anzustacheln, nimmt man am besten eine Hässlichkeit für sich in Anspruch, die er nicht anerkennt, weder bei mir noch bei irgendjemand anderem. Arkady gibt allen eine Chance, Buckligen, Fettleibigen, Schielenden, alten Schabracken oder abgehalfterten Beaus. Er stöhnt:

»Du bist perfekt. Denk einfach eine Weile nach, bevor du dich dem Erstbesten an den Hals wirfst.«

»Du bist nicht der Erstbeste! Ich kenne dich!«

»Und grade das ist schade. Nimm lieber einen Unbekannten, das wäre für dich erregender.«

»Du erregst mich!«

»Was weißt du schon von Erregung?«

Wie soll ich ihm erklären, dass mir außer Scham und Panik kein Gefühl vertrauter ist als dieses? Und warum widersteht er mir so hartnäckig, nachdem er mit allen anderen hier ins Bett gestiegen ist, auch mit meinen Eltern – die sind aber so leicht einzufangen, dass das nicht zählt, man braucht sie nur kurz anzuherrschen, damit sie zu allem Ja und Amen sagen. Doch selbst wenn man meine armen Eltern nicht mitzählt, ist Arkadys Jagdbeute immer noch beeindruckend. Meine Großmutter ist die einzige, die dabei fehlt, schließlich ist Arkady ganz und gar nicht ihr Typ. Was wäre denn ihr Typ? Problembeladene Frauen, die in der Regel fünfzehn bis zwanzig Jahre jünger sind als sie. Kirsten hatte nur geheiratet, um sich fortzupflanzen. Kaum war dieses Ziel erreicht, hielt sie sich an das, was ihr am meisten zusagte, und so sind Laurence, Valérie, Roxane, Malika und andere an mir vorbeidefiliert, lauter raschelnde, nach Vanille oder Mimose duftende Geschöpfe.

Komisch, wie schnell sich die meisten Leute festlegen: Mit zwanzig ist die Sache geritzt, nicht nur, ob man ausschließlich Männer liebt, oder ausschließlich Frauen, sondern auch, ob man brünett oder blond bevorzugt, sportlich oder intellektuell, Schwarze oder Araber usw. Ich weiß aus sicherer Quelle, dass Arkady meine Großmutter anbaggern wollte, und aus ebenso sicherer Quelle, dass sie ihn zum Teufel gejagt hat, just wegen solcher lächerlich begrenzter Vorlieben. Aus mir unerfindlichen Gründen verabscheut sie alles Männliche. Mädels, die wie ich etwas kerlhaft anmuten, haben bei ihr keine Chance. Schoßhündchen hingegen schon, nimmt man ihre Neigung zu niedlichen lockigen Wesen ernst, für die Malika bis heute das beste Beispiel liefert; zugleich stellt sie für meine Großmutter einen Rekord dar, weil die beiden fast drei Jahre zusammen waren, mit allen anderen dauerte es selten länger als drei Monate. Kurzum – Arkady hätte gern meine Großmutter vernascht, gibt sich jedoch wählerisch, wo ich ihm aus freien Stücken und von ganzem Herzen meine jugendlichen Reize anbiete. Das beunruhigt mich, egal, wie ich es deute. Am liebsten würde ich weinen, beherrsche mich aber. Tränen passen nicht zu meinem Pferdegesicht. Anstatt meinem Kummer freien Lauf zu lassen, versuche ich, Garantien auszuhandeln:

»Na gut, aber wenn ich fünfzehn bin, dann machst du’s?«

»Ja, unter der Bedingung, dass ich nicht dein Erster bin.«

»Das ist doch Schwachsinn! Ich will keinen anderen als dich, und es soll ein Fest werden, verstehst du, eine Art Zeremonie.«

Jetzt habe ich ihn geködert, das spüre ich: Niemand liebt Feste mehr als Arkady. Im Liberty House werden ständig welche veranstaltet. Der Nachteil ist, dass ich mir für meine Entjungferung nicht unbedingt ein größeres Publikum wünsche, aber was sein muss, muss eben sein. Ich brauche nur noch acht Monate durchzuhalten. Bis dahin werde ich meinen Damenbart entfernen, meine Zähne und meinen Rücken richten lassen – ich werde die Schönste sein. Arkady bemerkt meinen betrübten Blick in den Spiegel.

»Hör auf, dich so anzustarren! Weißt du nicht mehr, was ich dir über Spiegel gesagt habe?«

Sobald es um ihn geht, fällt mir alles wieder ein, und seine Predigt über Spiegel zählt zu denen, die mich besonders begeistert haben. Einmal im Monat ruft Arkady uns alle zusammen, um Vorträge über die unterschiedlichsten Themen zu halten. Mit »uns« meine ich die Gäste des Liberty House, meist rund dreißig an der Zahl, mit unerheblichen Schwankungen, was häufiger durch Todesfälle bedingt ist als durch freiwillige Abreisen. Welcher zurechnungsfähige Mensch würde schon von sich aus eine so sichere Zuflucht verlassen, einen Ort, der so frei ist von allem, was die Außenwelt zur ständigen Bedrohung macht, zu einer Fallgrube, in der wir ein Leben lang vor uns hinsiechen sollen, wenn man überhaupt von Leben reden kann – wie Arkady uns gern in Erinnerung ruft: Was die meisten Menschen unter Leben verstehen, ähnelt nur sehr vage einem erfüllten Dasein; sie fristen eine kümmerliche Existenz, sie vegetieren dahin, sie sterben in der Erwartung, ihr Leben würde jeden Moment beginnen, aber dieser Moment kommt nie. Um ihr Leben zu beginnen, müssten sie sich zunächst allem entziehen, was sie langsam abtötet, das ist ihnen aber nicht bewusst, und selbst wenn es ihnen bewusst wäre, hätten sie dazu nicht die Kraft.

Mir ist klar, dass ich von meinem Thema abschweife, also von Arkadys Spiegelpredigt, um darauf zurückzukommen, muss ich allerdings erneut abschweifen, und zwar um ein Kapitel zu eröffnen, das mir einiges abverlangt, geht es da doch um die Liebesbeziehung zwischen Arkady und Victor – auch wenn ich es mir anders wünschte, muss ich mir doch eingestehen, dass der Mann meines Lebens mehrere Leben hat und in einem dieser Leben ist er der Liebhaber von Victor Ravannas, der ihn zwar nicht verdient, aber trotzdem Anspruch auf ihn erheben darf, während ich vor Sehnsucht vergehe.

4.

Ich würde Victor gern auf eine Art und Weise beschreiben, die seine abstoßenden Merkmale wiedergibt. Bin ich objektiv? Keineswegs, aber ich muss subjektiv vorgehen, wenn ich mich nicht in rhetorischen Vorsichtsmaßnamen und halbherzigen Umschreibungen verlieren will: Victor ist ein Scheusal, wer das nicht offen anspricht, verschleiert die Tatsachen. Dass es ihm gelingt, Arkady über sein wahres Wesen hinwegzutäuschen, ist für mich so verblüffend wie betrüblich. Vielleicht täuscht Arkady sich auch nur selbst, weil er unfähig ist, sich die Existenz solch einer schwarzen Seele vorzustellen. Das ist die Gefahr bei höheren Wesen: Sie können keine niedere Gesinnung und auch keine niederen Beweggründe nachvollziehen.

Ich muss Victor Ravannas zugestehen, dass er über eine gewisse Stattlichkeit und Gewandtheit verfügt, die ihn durchaus zu einem angenehmen Gesprächspartner machen können. Er imponiert allein schon durch seine Erscheinung: Groß und gewaltig dick, hat er stets einen Knaufstock dabei, dessen Nutzen zwar fragwürdig ist, der dafür aber mächtig Eindruck macht. Der achteckige Knauf aus schwerem Elfenbein fügt sich in eine Strategie ein, die viel ausgeklügelter ist, als es den Anschein hat, doch ich kenne mich mit Äußerlichkeiten aus, mir selbst erschweren sie das Leben so sehr, dass ich nicht auf sie hereinfalle, und so ist mir nicht entgangen, dass Victor stets versucht, sich mit einer Aura von Vornehmheit und edler Abkunft zu umgeben. Darüber wird kein Wort verloren, während jedes Detail es glauben machen soll, von seinem Gehstock bis zu seiner kunstvoll geringelten silbrigen Frisur, von den gebauschten Ärmeln seiner Hemden zur vorgeblichen Lässigkeit seiner Lederpantoffel. Diese Eitelkeiten könnte ich ihm verzeihen, wenn er sie durch Herzenstugenden ausgleichen würde, aber er hat ja kein Herz, anders gesagt nur ein speckummanteltes Organ, das fleißig weiterschlägt, trotz aller Wunschgebete, die ich täglich aufs Neue formuliere. Da Fettleibigkeit die Lebenserwartung beträchtlich senkt, ist nichts daran auszusetzen, wenn man das Unvermeidliche herbeiwünscht. Leider durchkreuzt Victor jede Prognose und erscheint Tag für Tag voller Glanz und Theatralik an unserem Tisch, wo er sich einer grenzenlosen Gefräßigkeit hingibt. Im Liberty House werden die Mahlzeiten gemeinsam im Refektorium eingenommen, Victors absolutem Lieblingsraum, weil er so schön erhaben ist, beim Kreuzrippengewölbe angefangen, unter dem er unerhörte Essensmengen verschlingt – und sich dabei den scheußlichen Mund sachte mit einem Monogrammtaschentuch abtupft, da bei ihm alles Pose, affektierte, kalkulierte Verrenkung ist.

Bevor Liberty House sich in eine Zuflucht für Freaks verwandelte, war es ein Mädchenpensionat, und das Haus bewahrt noch vielerlei Spuren seiner ursprünglichen Bestimmung: das Refektorium, die Kapelle, die Lernstuben, die Schlafsäle und vor allem unzählige Porträts der Schwestern vom Heiligsten Herzen Jesu, eine ganze Serie von Ehrwürdigen und Glückseligen, die nur dem Namen nach glückselig waren, wenn man ihren tuberkulösen Teint und trüben Blick bedenkt. Ich weiß nicht, welches Sammelsurium von Bischöfen, Theologen und Ärzten über ihren Status befunden hat, jedenfalls wurden Verbitterung und Frustration offensichtlich mit Märtyrertum verwechselt. Ein Segen, dass ich mich inzwischen nicht mehr so leicht einschüchtern lasse wie früher, denn als ich hier ankam, machten mich diese vielen erbaulichen Farbdrucke eher mürbe. Ich fürchtete mich ganz besonders vor einer Ordensschwester aus Kerala, die in einem Flur im ersten Stock mit gelben Wangen und irren Augen nach mir spähte. Wenn ich an ihr vorbei musste, drückte ich mich an der Wand gegenüber entlang und hielt den Atem an, dennoch nahm ich die bleibende Wirkung ihres Grolls und die Ausdünstung aller üblen Fieber wahr, die sie hier befallen hatten. Im Gegensatz zu mir ist Victor ganz vernarrt in Maria-Eulalia vom Heiligsten Herzen und wollte eine Zeit lang ein Fresko in Auftrag geben, das sie mit ausgebreiteten Armen und ekstatischem Lächeln darstellen sollte, den Blick zum dornenbekrönten Herzen erhoben, dem sie ihr ganzes erbärmliches Leben gewidmet hatte. Als aber die Gäste des Liberty House dazu befragt wurden, stimmten sie zum Glück mit einer einzigen Ausnahme dagegen, sämtliche Mahlzeiten unter dieser frommen Ägide einzunehmen – denn natürlich wäre dem Refektorium die zweifelhafte Ehre eines Wandgemäldes der Erleuchteten von Kerala zuteil geworden.

Tatsächlich ist Victor nicht nur ein Heuchler und eitler Fatzke, er ist außerdem noch ein Frömmler der übelsten Sorte. Man muss ihm allerdings lassen, dass seine Verehrung für Maria-Eulalia sich gering ausnimmt im Vergleich zum Kult, den er um seinen berühmtesten Namensvetter betreibt, gemeint ist Victor Hugo. Oh ja, Victor der Kleine vergöttert den Großen. Selbst seine Begegnung mit Arkady erfolgte von Gnaden des Châtiments-Dichters – ob Gnade hier das richtige Wort ist, sei dahingestellt. Jedenfalls schlug bei beiden der Blitz ein, als sie gerade eine Büste von Hugo in dessen Pariser Gemächern an der Place des Vosges bewunderten. So sehr ich bedaure, dass Victor und Arkady sich ineinander verliebten, kann ich mich über die segensreichen Folgen ihrer Begegnung und Leidenschaft doch nur freuen, über dieses Phalansterium, das sie gemeinsam entworfen und verwirklicht haben, wobei sie sich in ihrem Größenwahn gegenseitig befruchteten, unter der Schirmherrschaft des illustren Meisters, selbst ein Experte in Megalomanie. Denn obwohl das Liberty House einst von in Gottesfurcht erstarrten Nonnen angeleitete und Zopf mit Schleife tragende Schülerinnen beherbergte, haben Arkady und Victor daraus einen Ort gemacht, der vom Geist Hugos durchweht ist und eher an das Hauteville House erinnert als an eine Klosterschule – schon allein wegen seiner Inneneinrichtung.

 

Geknausert haben sie jedenfalls nicht. Das karge Mobiliar der Nonnen wurde durch gotische Anrichten und Lehnstühle ersetzt, an allen Ecken und Enden stößt man auf prunkvolle Teppiche und Wandbehänge aus Damast. Und dann sind da noch die Spiegel, ein Steckenpferd von Victor, der sie mit manischer Entschlossenheit auf Trödelmärkten aufstöbert und in allen Varianten zur Schau stellt. Wandspiegel, Stehspiegel, dreiteilige Rasierspiegel, Hexenspiegel, Sonnenspiegel aus den 70er Jahren, Ankleidespiegel, blattvergoldete Spiegel, Intarsienspiegel, Spiegel mit Rahmen aus geflochtenem Rattan, Tau, Bambus, Messing, gekalktem Holz, Schmiedeeisen, asymmetrische, ovale, achteckige, rechteckige, facettierte Spiegel – im Liberty House kann man keinen Schritt tun, ohne seinem entgeisterten Ebenbild gegenüberzustehen. Mit entgeistert meine ich allerdings mich, denn Victor wirkt immer entzückt, wenn er sich betrachtet. Aus dem großen Salon hat er einen richtigen Spiegelsaal gemacht, in welchem er ständig umherstolziert, um jedes kleine Detail zu überprüfen und an die richtige Stelle zu rücken: den Gehstock mit Elfenbeinknauf, das karmesinrote Einstecktuch, die Manschettenknöpfe, die wohlgeordnete Fülle seiner schneeig schimmernden Locken. Leider werden alle Mühen, die er auf seine Erscheinung verwendet, von seiner unförmigen Hose mit Gummizug ruiniert, dem einzigen Modell, das solch eine knietief hängende Plautze zu fassen vermag. Auch wenn ich weiß, wie sehr Arkady jede Form von Monströsität toleriert, frage ich mich doch, wie ihr Sexualleben aussieht. Dessen ungeachtet lautet Victors Spitzname im Liberty House tatsächlich »Monsieur Mirror«. Und so wird man mir bestimmt nachsehen, dass ich Arkadys Schmährede gegen diese Spiegel für eine Art von Kritik am zügellosen Narzissmus seines Liebhabers gehalten habe. Schließlich war er selten so leidenschaftlich und überzeugend wie an jenem Tag, an dem er uns in die Kapelle zusammentrommelte, um uns jeglichen Blick auf spiegelnde Oberflächen zu untersagen. Seine Stimme vibrierte vor Eindringlichkeit, seine Wangen röteten sich, seine Faust flog nach oben oder stürzte auf das schwere Eichenpult nieder, wenn er seiner Empörung trommelnd Ausdruck verlieh:

»Nicht nur, dass die Spiegel zu eurer Seelenmarter beitragen – mir ist schleierhaft, was ihr dort erfahren oder nachprüfen wollt. Die Spiegel können euch nichts beibringen, rein gar nichts! Und sei es nur, weil sie ihren eigenen geometrischen Gesetzen folgen. Versucht doch mal, die linke Hand vor eurem Spiegel zu erheben, dann werdet ihr feststellen, dass euer Ebenbild die rechte hebt!«

Arkady lässt den Blick über seine Zuhörer schweifen, über all die offenen Münder und wackelnden Köpfe, die nur eines anstreben: die positive Bewertung ihres Schönheitskapitals. Sie haben wohl vergessen, dass man im Liberty House vor allem bei den weniger Begünstigten rekrutiert. Mit offensichtlicher Ausnahme meiner wunderschönen Mutter und meines Vaters, dem jeder Charme und regelmäßige Gesichtszüge bescheinigt, sehen alle anderen, ich inbegriffen, schauderhaft aus und können in der Tat von den Spiegeln keinerlei Trost erwarten. Arkady fährt fort:

»Außerdem ist nichts kälter und glatter als ein Spiegel! Was kann er schon von eurer Wärme einfangen, euren Unebenheiten, eurem Innenleben, also genau dem, was euch ausmacht und von jedem anderen unterscheidet? Wisst ihr was?«

Die Versammelten beben, atmen mit ihm ein und halten erwartungsvoll die Luft an. Arkady runzelt die Stirn, zieht die Augenbrauen zusammen und nimmt diesen herrischen Ausdruck an, der ihn in meinen Augen so unwiderstehlich macht.

»Wir werden alle Spiegel im Haus verhängen oder umdrehen. Alle! Auch die Spiegel, die ihr im Zimmer oder im Bad habt. Verstanden? Liberty House soll zur spiegelfreien Zone werden!«

Seine Schäfchen nicken, Arkady ist aber noch nicht fertig.

»Mir ist zu Ohren gekommen, dass manche von euch sogar Vergrößerungsspiegel besitzen. Das geht dann doch zu weit, meint ihr nicht? Jetzt mal ganz ehrlich: Welcher Teil – von euch, von mir, von uns – verdient so viel Aufmerksamkeit? Im Ernst?«

In einer der Reihen vor mir nehme ich wachsende Unruhe wahr, ein Rascheln und Stöhnen: Dadah möchte sich zu Wort melden, und das dauert bei ihr immer eine gewisse Zeit, als müssten sich ihr altersschwaches Hirn und ihr ebenso altersschwacher Körper erst einmal aufwärmen und zurechtruckeln, um überhaupt zu funktionieren. Ein wütendes Schnauben, das Froufrou ihrer Rüschen, Zähneknirschen, das ungeduldige Hämmern ihrer Hand auf der Armlehne, dann ist sie so weit: »Arkady …«

Ihre nach fast hundert Jahren Raucherei vermännlichte Stimme erhebt sich unter dem Kreuzrippengewölbe und schlägt alle in Bann – mit Ausnahme von Arkady, der sich durch nichts beeindrucken lässt. Man muss wissen, dass Dadah – mit bürgerlichem Namen Dalila Dahman – stets gesprochen hat, um Furcht zu wecken und Gehorsam zu fordern; und selbst, wenn sie das gar nicht fordern wollte, fürchtete man sie und gehorchte ihr, so wie ihr praktisch alles von Geburt an in den Schoß gefallen ist. Als steinreicher Spross einer Familie von Kunsthändlern war Dadah nichts Besseres eingefallen, als sich noch mehr zu bereichern, über jedes vernünftige, ja vorstellbare Maß hinaus, denn wer hat schon die Gehirnkapazität, die Größe eines Vermögens zu ermessen, das auf Millionen beziffert wird? Eins muss man Dadah allerdings lassen, sie wusste ihr Geld auszugeben, und im Gegensatz zu dem, was eine dämliche Volksweisheit behauptet, hat dieses Geld sie durchaus glücklich gemacht. Würden die Gebrechen des Greisenalters sie nicht an ihren Rollstuhl fesseln, wäre sie übrigens noch immer regelrecht glücklich und unempfänglich für das Leid von anderen, und zwar in einem Grade, wie man ihn maximal erreichen kann. Nun, da Arthritis und Emphysem sie davon abhalten, in ihren Privatjet zu springen, ist ihre Welt auf die Größe des Liberty House geschrumpft, das vor allem von ihr gesponsert wird. Doch obwohl sie Dutzende von solchen Wohlfahrtseinrichtungen großzügig fördern könnte, geizt Dadah bei ihren Spenden, während sie verschwenderisch mit Worten umgeht, die unsere mangelnde Dankbarkeit anprangern – und uns jeden Euro, den sie für Heizkosten und Landschaftspflege aufwendet, teuer bezahlen lässt. Ja, Reiche können ganz schön knickrig sein, trotzdem kenne ich außer Dadah niemanden, der Verpackungen aus Aluminium wiederverwendet und anderen rät, das Kochwasser für die Kartoffeln später zum Pflanzengießen oder Geschirrspülen zu benutzen. Mittlerweile ist sie in Fahrt geraten, und ich bin sicher, dass sie zu Arkadys großartigem Vortrag über die Spiegel einiges zu sagen hat.

»Arkady, Vergrößerungsspiegel sind beim Schminken doch sehr praktisch, besonders in unserem Alter!«

Mit ihren sechsundneunzig Jahren ist Dadah bei weitem die Älteste im Phalansterium, aber sie redet immer so, als wäre ganz Liberty House eine Seniorenresidenz. Dabei sind – einmal abgesehen von meiner erst zweiundsiebzigjährigen Großmutter und Victor, der da vorgibt, fünfzig zu sein – die meisten Gäste in der Blüte ihres Lebens. Es kommt Dadah jedoch gelegen, so zu tun, als stünden alle hier kurz vor ihrer Vergreisung. Auf der Kanzel sammelt Arkady seine Notizen zusammen, ein Bündel vergilbter Blätter, die vermutlich kaum Bezug zum Thema des Tages haben, aber er liebt es nun mal, seine Eloquenz mit solchen Requisiten zu unterstreichen und mit den Insignien der Gelehrsamkeit Eindruck zu schinden. Dalila Dahman muss sich warm anziehen.

»Wozu die Schminke? Habt ihr jemals erlebt, dass jemand durch Make-up oder Lippenstift schöner wird? Das Gegenteil ist der Fall: Glaubt mir, mit jedem Lidstrich, jedem Tropfen Nagellack, jedem Puderhauch rückt ihr ein Stück weiter von aller Schönheit und Wahrhaftigkeit ab!«