Bleierne Schatten

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

6.

Der Mann fasste Hanna hart um die Handgelenke. Sie bat ihn vorsichtig zu sein, aber er hörte nicht, was sie sagte, oder vielleicht war es ihm auch egal.

Er zwang ihre Arme nach hinten auf das Kissen und dann streckte er sie seitlich aus. Der Griff um die Handgelenke war sehr hart. Sie schrie nicht, aber sie bat ihn wieder und wieder vorsichtig zu sein.

Dann war es vorbei und er ließ sie los.

Er wandte sich ab, lag kurze Zeit mit dem Rücken zu ihr. Dann stand er eilig vom Bett auf und ging ins Badezimmer.

»You go now«, sagte er.

Sie sah ihn nicht, aber sie verstand ja, was er sagte, und zog sich an, so schnell sie konnte. Das Geld hatte sie schon bekommen.

Er blieb im Badezimmer. Sie war in zwei Minuten angezogen, stand vor dem Spiegel im Zimmer, brachte schnell ihre Haare in Ordnung, nahm die Handtasche und ging zur Tür hinaus, machte sie leise hinter sich zu.

War er Südamerikaner? Sie wusste es nicht genau. Aber er hatte ihre Handynummer von der Internetseite bekommen, die sich an ausländische Geschäftsmänner richtete. Er sah aus, als könnte er aus Südamerika kommen.

Zuerst hatten sie sich in der Bar getroffen. Er hatte auf ihrem Handy angerufen und wollte, dass sie im Hotel direkt auf sein Zimmer kommen sollte, aber sie wollte zuerst unter anderen Menschen sein, um die Chance zu haben abzulehnen.

Er wirkte freundlich. Er erwähnte einiges von dem, was er auf ihrer Homepage im Netz gelesen hatte, und er wählte die netten Dinge, die weichen Dinge: dass sie sich kümmern und da sein, es warm und schön machen wollte.

Es gab anderes, das er hätte wählen können, aber er wählte die netten Dinge. Und das war entscheidend für sie. Er war freundlich und wählte die ruhigen und netten Dienste, die sie anzubieten hatte.

Trotzdem war er grob geworden.

Hanna hatte sich einige Male geirrt. Dieser Mann war nicht richtig brutal gewesen, es gab schlimmere. Aber er hatte ihr wehgetan. Jetzt waren ihre Handgelenke rot; vielleicht würde sie blaue Flecken bekommen. Nun ja, die würden nach einer Woche wieder weg sein, und sie konnte sie ja immer noch überschminken.

Eine Stunde war sie bei dem Mann gewesen. Er gab ihr zweitausend Kronen; das war ihr Preis für einen Besuch. Fünftausend, wenn sie die ganze Nacht blieb.

Niemand wusste dieses Mal, wo sie gewesen war. Manchmal wusste Rina, wohin sie gegangen war. Sie trafen sich manchmal in der kleinen Wohnung in der Regeringsgata, die Rina benutzen durfte, wenn sie einen besonders wichtigen Kunden empfangen musste, jemanden, der Paul kannte. Hanna benutzte die Wohnung ebenfalls gelegentlich.

Jetzt war Hanna in einem Taxi auf dem Weg nach Hause. Es war halb zehn abends. Der Wagen fuhr von Tegelbacken über Norr Mälarstrand Richtung Essingeled. Als sie am Rålambshovspark waren, nahm Hanna eine Tablette aus der Dose, die sie in der Handtasche hatte. Sie hatte einen leicht trockenen Mund und brauchte eine Weile, um die Tablette hinunterzubekommen. Gerade da klingelte das Handy. Es war ein Mann mit einer Bassstimme, der Englisch ohne Akzent sprach. Er fragte nach Shirley. Hanna antwortete mit einer sehr weichen, etwas kindlichen Stimme, dass er bei ihr ganz richtig sei.

Der Mann sagte, dass er die Frau treffen wolle, die diese wunderbaren Dienste anzubieten hätte. Er könne nicht warten, er wolle Shirley jetzt sofort treffen.

»An welche Dienste denkst du?«, fragte Hanna.

»Du schreibst, dass du gerne lutschst«, sagte der Mann.

»Ja, das stimmt ganz genau«, sagte Hanna mit ihrer allerkindlichsten Stimme.

»Ich will dich jetzt sofort treffen«, sagte der Mann.

Hanna bat den Taxifahrer, zu wenden und zur City zurückzufahren. Sie waren schon oben auf dem Essingeled.

»Ich muss in Gröndal runter und drehen, um auf die andere Seite zu kommen«, sagte der Fahrer.

»Du sitzt am Steuer«, sagte Hanna.

Als sie von der Autostraße abgefahren waren, murmelte der Fahrer etwas, was Hanna nicht verstand.

»Was hast du gesagt?«, fragte sie.

»Mist, sie haben die Auffahrt gesperrt«, sagte er. »Wir müssen über Hornstull und die Västerbro fahren.«

»Du bist immer noch derjenige, der am Steuer sitzt«, sagte Hanna.

Als sie über die Västerbro fuhren, sah Hanna, dass ein leichter Nebel über dem Riddarfjärd lag. Die kleinen Schneehaufen, die die Lastwagen der Straßenreinigung ins Wasser hinuntergekippt hatten, waren weggeschmolzen. Nun war die Wasseroberfläche teilweise mit zerbrochenen Eisschollen bedeckt. Entlang der südlichen Seite waren die Eisschollen davongetrieben, und dort glänzte das Wasser schwarz und bedrohlich.

»Wohin fahren wir?«, fragte der Taxifahrer.

»Grand Hôtel«, antwortete Hanna.

7.

Am Donnerstag, dem 6. Februar, war die Stockholmer Polizei ungewöhnlich großen Belastungen ausgesetzt: Zwei junge Männer waren am späten Abend des Vortages erschossen worden, der eine in einem Restaurant in der City und der andere vor seiner Wohnung in Västberga. Vermutlich gab es eine Verbindung zwischen den Morden.

Um Mitternacht war in einer Wohnung in Trångsund ein Streit ausgeartet. Acht Personen wurden mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus gebracht, die meisten mit Messerstichen.

Um zwei Uhr nachts mähte ein betrunkener Autofahrer in Huvudsta drei Jugendliche um.

Etwas später in derselben Nacht wurde eine junge Frau nach einer Vergewaltigung in Fittja schwer mitgenommen aufgefunden.

Früh am Morgen schoss jemand in dem Lagergelände hinter dem Gasbehälter bei Värtan mit einem Automatik-Karabiner auf drei Mitglieder eines Motorrad-Clubs. Alle überlebten, aber zwei der Männer trugen Bauchverletzungen davon.

Von all den Gewaltverbrechen, die sich in der Nacht und am Morgen ereignet hatten, beunruhigte die Schießerei bei Värtan die Polizeiführung am meisten. Sie konnte der Anfang eines Krieges zwischen Motorrad-Gangs sein.

Als Margret zur Arbeit kam, hatte sie die Nachrichten schon im Autoradio gehört. Sie überlegte, dass sie vermutlich zum zweiten oder dritten Mal im Laufe der Woche gezwungen sein würde, die Fälle, an denen sie arbeitete, zur Seite zu legen.

Aber dazu kam es nicht. Ihr Chef, Lennart Philipsson, war gerade von einem Koordinierungstreffen mit der Führung der Bezirkspolizei gekommen. Nun hielt er eine Lagebesprechung mit den Leuten vom Ermittlungsdezernat ab. Er fasste sich ziemlich kurz, verteilte Aufgaben, benannte neue Projektleiter und erkundigte sich nach dem Stand der laufenden Ermittlungen. Was konnte noch etwas warten, was eilte?

Lennart Philipsson war zurückhaltend und effektiv. Er wurde dafür geschätzt, dass er immer kurze Besprechungen abhielt. Jetzt bat er, nach dem Treffen mit Margret sprechen zu dürfen.

»Die Techniker liefern ihren Bericht über den Fall in der Bondegata heute Vormittag ab«, sagte er. »Aber einiges habe ich schon gestern Abend gehört, und zwar genug, um einzusehen, dass wir die Sache weiter verfolgen müssen.«

»Das kann ich mir vorstellen«, antwortete Margret.

»Der Obduktionsbericht kommt auch heute.«

»Okay.«

»Ich will, dass du den Fall übernimmst, Margret. Aber du wirst für den Anfang allein sein. Wir haben keine Leute, du kennst das ja.«

»Ja klar, aber das ist in Ordnung. Ich warte auf die Berichte, und dann fahre ich in die Bondegata.«

»Gut, dann verbleiben wir so. Halte mich auf dem Laufenden. Du bist vorerst deine eigene Projektleiterin.«

»Nur eine Sache noch: Was weiß die Presse?«

»Ich habe einige Fragen bekommen und gesagt, dass wir noch nichts wissen.«

»Haben sie gedrängt?«

»Nein, nicht besonders. Alte Männer, die im Zusammenhang mit einer Sauferei sterben, haben keinen Nachrichtenwert. Und wir sind uns ja tatsächlich unsicher, nicht wahr?«

Margret ging in ihr Büro. Sie nahm ihre Notizen aus der Bondegata hervor und las sie durch. Der Todesfall hatte sich vor zwei Tagen ereignet.

Die Stunden vergingen. Gegen Mittag hatte Margret weder von den Technikern noch von den Gerichtsmedizinern etwas bekommen. Sie ging hinunter ins Aquarium, die Kantine beim Schwimmbecken. Sie bestellte das Tagesgericht: Makkaroniauflauf mit zerlassener Butter.

Den Kaffee ließ sie aus.

In dem Moment, als sie zurück ins Büro kam, klingelte das Telefon. Es war einer der Techniker. Ja, sie hatten Spuren an der Herdecke gesichert. Der Mann war genau dort aufgeschlagen, der Schlag musste hart gewesen sein, es gab zahlreiche Hautpartikel, Blut, Haare.

Und Fingerabdrücke?

Ja, von mehreren Personen. Es hatte ja ein Fest in der Wohnung stattgefunden, vielleicht waren es die Fingerabdrücke der Gäste, aber das wusste man noch nicht. Wie viele Personen?

Vier verschiedene Personen, Abdrücke auf Gläsern und Flaschen, auf dem Tisch und der Arbeitsplatte.

Was sonst noch?

Haare, Textilfragmente, Zigarettenkippen, also reichlich DNA-Material. Und dann noch Urin und ein paar andere Kleinigkeiten auf der Toilette.

Ein paar andere Kleinigkeiten?

Ja, etwas benutztes Toilettenpapier, das neben dem Klo gelandet war.

Okay, gut, danke.

Ein ausführlicher Bericht würde folgen. Das wars fürs Erste, aber so war es ja immer.

Es waren also eine ganze Menge Leute in der Wohnung gewesen. Nun ging es darum, sie ausfindig zu machen.

Margret fuhr in die Bondegata.

Die Wohnung war abgesperrt, das Schild der Polizei klebte an der Tür. Margret hatte einen Schlüssel bekommen, da das Dezernat bereits Kontakt mit dem Verwalter aufgenommen hatte.

Sie machte langsam auf, lauschte auf das knarrende Geräusch der Tür, dachte, dass es sich so angehört haben musste, wenn der Mann, der hier gewohnt hatte, die Tür öffnete, tausende von Malen, zehntausende von Malen. Ein vertrautes Geräusch, vielleicht ein liebgewordenes Geräusch?

 

Und als der Mörder kam?

Wenn es einen Mörder gab. Aber falls es so war, wie reagierte er auf das Geräusch der Tür? Reagierte er beunruhigt, gestört, ängstlich, böse auf ein ungewohntes Geräusch, das vielleicht Aufmerksamkeit auf sich ziehen konnte?

Margret schloss die Tür genauso langsam, wie sie sie geöffnet hatte.

Der Blutfleck in der Küche war noch da, aber nicht mehr so klebrig, etwas von dem Geruch hing noch in der Luft, süß, leicht übelkeiterregend.

Sie blickte sich um, musterte alle Gläser, Flaschen, Essensreste, Zigarettenkippen, Flecken.

Dann ging sie ins Schlafzimmer. Dort war es aufgeräumter. Das Fest hatte offensichtlich in der Küche stattgefunden. Das Bett war ungemacht. Auf dem Boden lagen Zeitungen und auf einem kleinen Tisch neben dem Bett Bücher: ein Krimi von Dürrenmatt, ein Buch über Segelschiffe im Indischen Ozean, Mein erster Kreis von Olof Lagercrantz.

Margret überlegte, dass die Bücherauswahl vielleicht typisch war für einen alten Journalisten: eine bunte Mischung, ein breites Allgemeininteresse.

Am Fußende des Bettes war eine Schranktür. Margret öffnete sie, sie quietschte, aber das Geräusch war ein anderes als das der Wohnungstür.

Der begehbare Schrank war groß. Er erstreckte sich über die gesamte Seite des Raumes. An der Decke hing eine Leuchte. Margret machte das Licht an. Der Schrank war vollgestopft. An der einen Seite hingen Kleidungsstücke, unter denen drei große Kartons standen.

Margret machte den Deckel eines Kartons auf. Er war gefüllt mit Ordnern, Zeitungen, Papierstapeln, Heften, Umschlägen mit Zeitungsausschnitten. Der Inhalt des zweiten Kartons war ähnlich, der des dritten ebenso. Sein Lebenswerk, dachte Margret.

Seine alten Zeitungsausschnitte und Notizen und all so etwas, was Journalisten vermutlich sammeln.

Sie ging zurück in die Küche. Dann rief sie Verner an. Ausnahmsweise ging er sofort ans Telefon.

»Ich bin in der Wohnung von Lasse Bergman«, sagte Margret.

»Hast du etwas herausgefunden?«

»Nein, nichts Konkretes.«

»Wann bekommst du den Obduktionsbericht?«

»Heute.«

»Ruf mich an, wenn du ihn gelesen hast.«

»Verner, ich arbeite allein an diesem Fall, das ist nicht gut.«

»Nein, das ist nicht gut.«

»Kannst du mir helfen?«

»Wie denn?«

»Kannst du herkommen?«

»Jetzt?«

»Ja, kannst du so schnell wie möglich herkommen?«

»Du weißt, dass du mich nicht reinlassen darfst?«

»Klar weiß ich das.«

Verner rief ein Taxi und war fünfundzwanzig Minuten später in der Bondegata. Er klopfte an, wartete aber die Antwort nicht ab, sondern trat ein. Er kannte sich aus, war schon früher in der Wohnung gewesen, hatte viele Male mit Lasse dort gesessen und geredet.

Verner umarmte Margret und küsste sie auf die Wange. Es schien ihm, als sei es lange her seit dem letzten Mal, und er wusste, dass er es war, der sich bei ihr hätte melden sollen.

»Alles in Ordnung?«, fragte er.

»Ja, bei dir auch?«

»Hast du etwas Besonderes gesehen?«

»Nein, nicht direkt.«

Er sah sich um. Margret beobachtete ihn, eine lange Zeit sprachen sie nicht miteinander. Verner saß lange in der Hocke neben dem Blutfleck, stand auf, sah sich weiter um, wandte sich um, ging wieder in die Hocke.

Er fasste nichts an. Aber er schaute genau und lange hin, schnupperte, sagte nichts.

Dann ging er hinüber ins Schlafzimmer. Margret folgte ihm. Er öffnete die Schranktür.

»Hast du in den Kartons nachgeschaut?«, fragte er.

»Ich habe die Deckel aufgemacht, aber ich habe nichts von dem angefasst, was in den Kartons ist. Sind das Sachen von seiner Arbeit?«

»Ich nehme es an.«

»Weißt du, was das für Sachen sind?«

»Ich kann es nur vermuten, aber ich weiß es nicht genau. Wahrscheinlich sind es Dinge, die er nicht wegwerfen wollte, aber es kann ja zum größten Teil alter Krempel sein, alte Zeitungen und Zettel und sowas.«

»Wie viel weißt du eigentlich über Lasse Bergman?«

»Über sein Privatleben fast nichts. Wenn wir uns trafen, sprachen wir über die Arbeit, und das ist lange her. Wir haben einander bei ein paar Sachen geholfen.«

»Du hast schon damals auf deine eigene Weise gearbeitet, nehme ich an.«

»Das kann man vielleicht so sagen. Wir hatten ganz einfach Nutzen voneinander.«

»Kannst du mir denn jetzt helfen?«

»Ich darf nicht mit dir arbeiten, das weißt du.«

»Aber wenn es sich regeln ließe, hättest du dann Lust?«

»Wie zum Teufel sollte das zugehen?«

»Ich weiß nicht, es war nur so ein Gedanke.«

Um halb fünf war Margret zurück im Dezernat. Sie bekam den Gerichtsmediziner vom Karolinska institutet zu fassen. Ja, die Obduktion war abgeschlossen.

»Und was kann man sagen?«

»Tja, der Schlag auf den Kopf war tödlich. Es war ein einziger Schlag, und er war sehr hart. Der Mann könnte gestürzt sein, aber in dem Fall hätte er eine ordentliche Geschwindigkeit drauf gehabt. Es sieht fast aus, als sei er gegen etwas Hartes geschleudert worden, eine Ecke, könnte man tippen.«

»Das klingt, als sei er Gewalt ausgesetzt gewesen.«

»Das kann sein, aber es ist nicht ganz ausgeschlossen, dass er sich die Verletzung selbst zugefügt haben kann. Er kann ja auf dem Tisch gestanden haben und gestürzt sein oder gelaufen und gestolpert sein.«

»Und sonst?«

»Er hatte eine Menge Alkohol intus, über ein halbes Promille. Er hatte Anzeichen von Leberschäden, die er wohl durch dauerhaftes Trinken bekommen hat.«

»Sonst nichts Besonderes?«

»Einige Proben dauern noch etwas, aber ich glaube kaum, dass noch etwas Bemerkenswertes dabei herauskommt. Er war ein verbrauchter Mann, aber nicht von der schlimmsten Sorte, kein Penner, keiner von den Saufbrüdern. Anständige Zähne und Nägel, sauber und ordentlich, keine Narben. Und in erster Linie Gurke und Brot im Magen sowie einiges an Alkohol, wie gesagt. Er hatte wohl spät am Abend, bevor er starb, gegessen.«

»Und wann starb er?«

»Sechs oder sieben Stunden nach seiner letzten Mahlzeit, irgendwann morgens gegen 7 Uhr.«

»Okay, vielen Dank, jetzt kann ich mir ein Bild machen.«

Margret blieb am Schreibtisch sitzen. Sie notierte, was der Obduzent berichtet hatte. Dann ging sie zu Lennart Philipsson. Seine Tür stand wie gewöhnlich offen.

»Hast du Zeit?«, fragte Margret.

»Komm rein«, sagte Philipsson.

»Ich glaube nicht, dass Bergman durch einen Unfall gestorben ist.«

»Und wie kommst du darauf?«

»Im Moment weist eigentlich alles darauf hin, das Gespräch mit dem Rechtsmediziner, Details am Tatort, Gespräche mit Verner. Er kannte Bergman ja.«

»Ach so, du hast mit Verner gesprochen?«

»Ich habe ihn ein bisschen zu Bergman befragt.«

»Aha.«

»Lennart, können wir Verner einbeziehen, gibt es irgendeine Möglichkeit dafür?«

»Du meinst, ihn wieder arbeiten zu lassen?«

»Ja, du weißt genauso gut wie ich, dass Verner ein unglaublich guter Polizist war, und jetzt fehlen uns Leute wie nie zuvor. Er wird hier gebraucht.«

»Schon, aber du weißt, warum Verner aufgehört hat.«

»Das weiß ich, aber er bekam ja die Chance, selbst zu kündigen. Du warst es, Lennart, der ihm die Chance gegeben hat. Das war verdammt anständig von dir. Und das bedeutet, dass Verner nicht verurteilt worden ist, es gibt keine Anklage, seine Papiere sind sauber.«

»Ja schon, so ist es.«

»Und du stimmst mir zu, dass er gebraucht wird?«

»Das ist eine heikle Angelegenheit, Margret. Ich würde Verner gerne wieder einstellen, wenn es ginge, aber viele hier würden an die Decke gehen. Er hat sich eine ganze Reihe Feinde gemacht. Er ist ja nicht gerade einer von der diplomatischen Sorte.«

»Ich weiß, aber kannst du dir nicht etwas einfallen lassen?«

»Lass mich bis morgen darüber nachdenken.«

Margret verließ Philipssons Büro. Sie wusste nicht, was sie erwarten konnte. Aber vielleicht gab es trotz allem eine Möglichkeit.

Um halb sieben räumte sie die Papiere weg, die auf dem Tisch lagen. Sie zog ihre Jacke an und öffnete die Tür, um zu gehen, als das Telefon klingelte. Es war Philipsson.

»Komm zu mir«, sagte er. »Ich glaube, mir ist etwas eingefallen.«

Margret zog die Jacke wieder aus, hängte sie an den Haken an der Tür und ging in den Flur. Philipsson kam ihr entgegen.

»Ich glaube, ich weiß, wie wir es machen«, sagte er.

»Du meinst mit Verner?«

»Ich habe noch einiges an ungenutztem Geld. Es ist eine besondere Zuweisung vom Ministerium, um die alten Haushaltslöcher zu stopfen.«

»Aha?«

»Wir können Verner als Berater beschäftigen, mit Vertrag. Wir stellen ihn für drei Monate ein. Er bekommt natürlich seinen Dienstausweis nicht zurück, und er bekommt auch keine Dienstwaffe. Er wird nicht wieder Polizist, aber er kann trotzdem für uns arbeiten, und wir können von seinen Kenntnissen profitieren.«

»Das klingt ganz fantastisch.«

»Ich werde es morgen Vormittag checken, aber ich bestimme selbst über dieses Geld, und ich habe ja schon früher Berater beschäftigt, wie du weißt.«

»Ja, diese Ökonomen, die hier gesessen und gerechnet haben, und die Frau von der Universität.«

»Genau, ich entscheide selbst, wen ich einstelle. Ich glaube, die Sache geht klar. Willst du mit Verner sprechen?« Margret rief Verner am selben Abend an. Er war nicht zu Hause. Sie rief noch einmal an, keine Antwort. Um halb zwölf erreichte sie ihn.

»Willst du mit mir zusammenarbeiten?«, fragte Margret.

»Erklär, was du meinst«, sagte Verner.

Margret erklärte, Verner hörte zu. Er sagte nichts, stellte keine Fragen. Margret glaubte schon, dass er den Vorschlag zurückweisen würde.

»Wann fangen wir an?«, fragte er.

»Du musst morgen mit Philipsson sprechen, er regelt das mit dem Vertrag und so.«

»Ja, und dann sehen wir uns in der Bondegata.«

»Sollen wir sagen um elf Uhr?«

8.

Sara ging am Montag nicht zur Schule und auch nicht am Dienstag. Sie war in der Stadt, lief herum, aß Hamburger, ging ins Kino. Sie hatte ein bisschen Geld, denn Marika hatte ihr hundertfünfzig Kronen geliehen. Zwei Mal war sie bei PUB und probierte Kleider an. Sie hatte das Teppichmesser in der Hand, schob das Blatt aber nie heraus. Saras Mutter hatte in dieser Woche Nachtdienst. Sie schlief den größten Teil des Tages und schaute dann eine Weile bei ihrer Freundin Ann-Charlotte vorbei. Sie waren Nachbarinnen, kannten sich aus ihrer Jugend, tranken oft ein Glas Wein zusammen und redeten.

Am Mittwoch nach dem Mittagessen ging Sara zur Schule. Sie hatte eine Entschuldigung bei sich, die sie selbst geschrieben hatte. Ihrer Lehrerin waren Zweifel gekommen. Jetzt rief sie Saras Mutter zu Hause an.

War Sara zu Hause geblieben, war sie krank gewesen? Die Mutter schlief, als die Lehrerin anrief. Sie wurde wach, wusste zuerst nicht richtig, welcher Tag es war, hatte einen trockenen Mund. Die Lehrerin wiederholte die Frage.

Denn es war doch wohl Saras Mutter, mit der sie sprach, Christina Larsson?

Ja sicher, ja doch. Sie hatte immer noch einen schrecklich trockenen Mund.

Ja, wie war es denn nun mit Sara?

Ja, also, Sara war wohl einen Tag zu Hause gewesen, oder ein paar Tage.

Ach so, dann hatte also alles seine Ordnng?

Ja, alles war völlig in Ordnung.

Sara kam auch dieses Mal wieder davon. Sie wurde langsam gut darin, Entschuldigungen zu schreiben. Ihre Mutter begriff, dass Sara schwindelte, aber weil sie nun einmal gestresst war und Saras Entschuldigung hatte durchgehen lassen, als die Lehrerin angerufen hatte, fand sie, dass es peinlich wäre, es sich anders zu überlegen. Sara konnte sich weiterhin gefälschte Entschuldigungen schreiben. Es würde noch eine Zeitlang gutgehen.

Der Kerl rief am Mittwochabend an. Er sagte, dass er Sehnsucht nach ihr habe, und dass sie voriges Mal so gut gewesen sei. Er sagte auch, dass es wohl ein Missverständnis gegeben habe; er habe geglaubt, dass sie sich auf zweihundert geeinigt hätten.

 

Könnte Sara noch einmal zu ihm kommen?

»Ich will dreihundert haben«, sagte Sara.

»Selbstverständlich, meine Kleine«, sagte der Kerl.

Sara gefiel es nicht, wie er das sagte. Sie murmelte etwas Unverständliches und legte auf.

Aber sie ging hin. Und nun lagen drei Hunderter unter der Zeitung auf dem Küchentisch.

Sie fühlte sich eklig, als sie von ihm wegging. Als sie nach Hause kam, wusch sie sich lange die Hände, dann duschte sie und wusch sich noch mehrere Male die Hände.

Ihre Mutter kam gegen zehn Uhr nach Hause. Sara saß vor dem Fernseher. Die Mutter sagte, dass sie sich etwas zu essen nehmen könne, und fragte, ob Sara ihr Gesellschaft leisten wolle. Sie habe eingekauft, es gebe Coca Cola und Zimtschnecken.

Sara sagte, dass sie nicht hungrig sei.

Sie wusch sich wieder die Hände, zum siebten Mal, seit sie nach Hause gekommen war. Aber als sie ins Bett kroch, fand sie trotzdem, dass ihre Hände rochen. Seife half nicht. Sie ging zurück ins Badezimmer und schraubte den Deckel einer Flasche Eau de Cologne ab. Sie spritzte etwas auf die eine Hand und verrieb es. Der Duft war stark.

Am Morgen hing der Geruch noch im Zimmer. Ihre Mutter war wach; es war einer der seltenen Tage, an denen sie gleichzeitig aufstanden.

»Du riechst nach irgendwas«, sagte ihre Mutter.

»Ich habe ein bisschen aus deiner Flasche genommen«, antwortete Sara.

»Das darfst du.« Sara antwortete nicht. Sie hätte ihrer Mutter gerne von dem Kerl erzählt, aber sie tat es nicht. Eine Sekunde lang war sie ganz kurz davor, die Worte lagen ihr auf der Zunge, aber sie ließ sie nicht hinaus.

Am Donnerstagvormittag hatten sie eine Foto-Übung; das war Teil des Kunstunterrichts. Sara und zwei andere Mädchen hatten die Aufgabe bekommen, einige Porträtaufnahmen von Menschen im Gewühl der Straße zu machen. Sie hatten eine Stunde Zeit. Dann sollten sie den Schwarzweiß-Film entwickeln und Abzüge machen. Eine Kamera durften sie sich von der Schule leihen.

Sie gingen hinunter ins Zentrum von Älvsjö. Es war zehn Uhr, der Himmel war bedeckt, aber das Licht war trotzdem ziemlich stark.

Sie wechselten sich mit dem Fotografieren ab. Zuerst fotografierten sie sich gegenseitig, dann fotografierten sie eine ältere Frau, die an der Bushaltestelle vor dem Konsum auf einer Bank saß.

Als Sara an der Reihe war zu fotografieren, kam ihr ein Mann auf dem Bürgersteig entgegen. Er war eher groß, ging schnell, hatte keine Kopfbedeckung, trug eine halblange, dunkelblaue Jacke.

Es war Verner Lindgren. Sara richtete die Kamera auf ihn. Er sah, was sie machte, lächelte sie leicht an, verlangsamte seine Schritte und wartete darauf, dass sie mit dem Zeigefinger auf den Auslöser drückte.

»Ist es was geworden?«, fragte er.

»Ich glaube schon«, sagte Sara. »Aber ich mache noch ein Bild«.

»Tu das«, sagte Verner.

Er blieb stehen und lächelte immer noch. Sara knipste drei Mal, sicherheitshalber.

»Kommt das in die Zeitung?«, fragte Verner.

»Nein, das ist für die Schule«, sagte Sara.

Verner ging. Sara und die Mädchen blieben noch vor dem Konsum stehen, um einige weitere Fotos zu machen.

Verner ging weiter zum Bahnhof, um den Pendelzug zu nehmen.

Er dachte darüber nach, wo er dieses schwarzgekleidete Mädchen schon mal gesehen hatte. Als er an der Rolltreppe ankam, fiel ihm ein, dass er sie vor einiger Zeit gesehen hatte, als sie in den Pendelzug einstieg. Er nahm an, dass sie in der Nähe wohnte.