Die Geschichte der Zukunft

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Mit Nächstenliebe hat der Kampf gegen die Kapitalisten ebenso wenig zu tun wie der psychologische Impfstoff, mit dem die Reichen das Proletariat gegen diese »linken Irrlehren« immunisieren wollen: Sie sprechen den Einzelnen über seine nationale oder rassische Gruppenidentität an, begeistern ihn für patriotische, imperialistische oder sozialdarwinistische Denksysteme. Die selbst erlebte Ungerechtigkeit seiner Lebenssituation wird von oben ausgeglichen, indem ein kollektivpsychologisches, pseudoreligiöses Bedürfnis befriedigt wird: Was sind wir doch für eine große und vor allem wichtige Nation, höherwertiger und haushoch dem Rest der Welt überlegen, wo uns doch überall auf der Welt Länder gehören und wir so eine starke Flotte haben. Über so viel Größenwahn kann man dann sein eigenes Los vergessen, die eigene Schufterei bekommt endlich einen übergeordneten Sinn. Führende Politiker polieren mit neuen Kolonien ihr Ansehen wieder auf, nachdem sie es mit Steuererhöhungen und niedergeschlagenen Streiks ramponiert haben. Kolonien dienen vor allem dazu, dass die innenpolitische Stimmung Dampf ablassen kann – auf Kosten der Menschen in den heutigen Entwicklungsländern.

Selbst der sich sträubende Bismarck hat gegen die öffentlich aufgeheizte Stimmung keine Chance, diesen Unsinn zu verhindern: In den Krisenjahren Anfang der 1880er kaufen sich deutsche Geschäftsleute auf eigene Faust ein paar Wüstenstreifen zusammen und zwingen nach ihrer Pleite das Deutsche Reich, sie als »Kolonien« zu übernehmen. Das kostet den Staat viel Geld und bringt keines ein. Selbst später im Aufschwung des dritten Kondratieffs nach 1890/​95 erfüllen die Kolonien keinen ökonomischen Zweck: Im Jahr vor dem Ersten Weltkrieg leben in allen deutschen Kolonien zusammen – immerhin eine Million Quadratmeilen – nur etwas über 28.000 Weiße (also nicht nur Deutsche). Das ist nichts im Vergleich zu den Millionen, die aus Armut in die USA ausgewandert sind – Nationalisten hatten ja gerade deshalb Kolonien gefordert, damit deutsches Blut nicht mehr in fremden Kulturen aufgehe.

Auch der Handel mit den Kolonien ist verschwindend gering: Während das Deutsche Reich 1913 Waren für 10.039 Millionen Mark in alle Welt exportiert, kaufen die eigenen Kolonien dem Mutterland nur Waren für 57 Millionen Mark ab. Denn das, was der dritte Kondratieff braucht – Kohle, Erz, Fabrikarbeiter –, findet sich nicht im Pazifik oder in Kamerun, sondern in Deutschland. Die Kolonien erfüllen einen Zweck nur als innenpolitisches »Wir-sind-wieder-Wer« und zur eigenen Beruhigung, angesichts der Depression doch irgend etwas für die Zukunft getan zu haben. Es ist derselbe Grund, der die Menschen während des langen Kondratieffabschwungs nach einem Schuldigen suchen lässt.

Jede Wirtschaftskrise braucht ihre Sündenböcke

Niemand kann die plötzliche und so heftige Wirtschaftskrise begründen. Die Nationalliberalen meinen, Schuld an der Depression sei vor allem die Überproduktion der Industrie, und dieses Problem – so die Lehre der klassischen Wirtschaftstheorie – werde sich mit der Zeit von selbst lösen. Doch darauf warten sie vergeblich. Und weil sich auch die Zeitgenossen den Verlust ihres ein Leben lang ersparten Vermögens nicht plausibel erklären können, müssen eben dunkle semitische Mächte dafür verantwortlich sein: die Kapitalisten, und das sind in dieser Zeit aus historischen Gründen überdurchschnittlich viele Deutsche jüdischen Glaubens. Nirgends in Westeuropa leben so viele Juden wie im Deutschen Reich (700.000). Allein in Berlin gibt es mit 50.000 so viele Juden wie in ganz Großbritannien und mehr als in ganz Frankreich (40.000). Magnaten wie Rothschild, Oppenheim oder Bleichröder ziehen den Volkszorn auf alle Juden, egal, wie reich oder arm diese sind. Journalisten weisen bei Enthüllungsgeschichten zu Firmenpleiten immer wieder auf die jüdischen Wurzeln der Akteure hin. Die bejubelten Börsenmakler von 1872 sind auf einmal verachtete »Börsenjuden«.

In Wahrheit geht es den meisten darum, die jüdischen Mitbürger möchten doch bitte nicht ständig das Selbstwertgefühl der germanischen »Herrenrasse« in Frage stellen. August Bebel, die große Figur der Sozialdemokraten im 19. Jahrhundert, bezeichnet den Antisemitismus als »eine Art Sozialismus der dummen Kerls«. Es ist das »Stehkragenproletariat« der kleinen Angestellten und Beamten, das die Tüchtigkeit der Juden fürchtet, ebenso die kleinen Ladenbesitzer und Handwerker: 1885 sind zehn Prozent aller preußischen Studenten Juden – siebenmal so viel wie ihr Bevölkerungsanteil. In Berlin sind drei Prozent der Bevölkerung Juden, aber jeder zweite Unternehmer in der Hauptstadt. Mit der Zeit nimmt der Antisemitismus auch in der Oberschicht zu, dort dann esoterisch angehaucht. Selbst der evangelische Hofprediger Adolf Stöcker predigt gegen die Juden, weil er so politisches Kapital schlägt für seine Christlich-Soziale Arbeiterpartei, die vor allem unter Kleinbürgern Wahlerfolg hat. Antisemitismus und rechte Verschwörungstheorien werden gesellschaftsfähig. Sie werden die ganze Krisenzeit hindurch bis hinein in die Kinderjahre Adolf Hitlers in den 1890er Jahren wiederholt und leben dann in der Weltwirtschaftskrise erneut auf.

Georg Tietz aus der Dynastie der Hertie-Kaufhauskette erlebt schon damals in der Krise des zweiten Kondratieffs, was andere Deutsche jüdischen Glaubens genau einen Strukturzyklus später im Nationalsozialismus erleben: Je erfolgreicher er ist, umso verbissener wehren sich die im Wettbewerb unterlegenen Einzelhändler. Sie stellen Posten vor sein Münchener Kaufhaus am Karlsplatz, die den Kunden Flugblätter in die Hand drücken und sie vor dem Einkauf bei den »Juden« warnen.47 Ein anderes Mal zieht die Menge nach einer Einzelhandels-Versammlung zum Kaufhaus, wirft mit Pflastersteinen die Fenster ein und blockiert es. Corpsstudenten gehen hinein, belästigen die Verkäuferinnen, schlagen einen Mitarbeiter blutig, werfen die Waren durcheinander. Tietz ruft die Polizei, doch die lehnt es ab, gegen »Söhne der ersten deutschen Familien« einzuschreiten. Nur mit Hilfe eines befreundeten Bäckers und seiner Gesellen gelingt es ihm, die nationalistische Studentenschaft rauszuwerfen. Was sich hier Luft macht, ist die eigene wirtschaftliche Unzufriedenheit.

Soziale Probleme im langen Abschwung

Denn niemand ist von den geringen Gewinnspannen im langen Kondratieffabschwung so sehr betroffen wie die Unterschicht. Nach dem Gründerkrach fehlen in den wachsenden Großstädten bald wieder billige Mietwohnungen. Hunderttausende von »Schlafburschen« zahlen für ein paar Kreuzer einen Schlafplatz in einer Familie, zum Teil übernachten bis zu vier Personen in einem Bett. Dass Bismarck in den 1880ern Kranken-, Unfall- und (Arbeiter-)Rentenversicherung einführt (damit die Arbeiter nicht alle der SPD zulaufen), zeigt, dass die Not in diesen Jahren größer ist als zuvor – eben ein Kondratieffabschwung.

Den Unterschicht-Frauen geht es überall dreckig. Rechtlos, abhängig und niedrigst bezahlt, vermögen sie sich »in ihrer abhängigen Lage dem Herrn, dem Verwalter und dem Knecht gegenüber selten zu wehren«, stellt eine Studie des evangelischen Sittlichkeitsvereins von 1890 fest. Die Flucht in die Stadt ist nur ein Tausch der Unfreiheiten: Entweder sie arbeiten in einer Fabrik, was in der Regel ziemlich ungesund ist und mit drei bis sechs Silbergroschen weit schlechter bezahlt wird als etwa männliche Drucker oder Färber, die zwischen 15 und 25 Silbergroschen am Tag bekommen. Oder sie ergattern sich eine Dienstbotenstellung, in der sie rund um die Uhr den Herrschaften zur Verfügung stehen und mit etwa 30 Jahren verbraucht sind – 1882 gibt es rund 1,3 Millionen Dienstboten im Deutschen Reich. Viele Näherinnen, Kellnerinnen oder Fabrikmädchen dürften mit Prostitution ein Zubrot für ihr Überleben verdienen. In München wird 1890 jedes dritte Kind unehelich geboren.

Die Arbeiter sind mit Alltagssorgen so beschäftigt, dass es selbst die pragmatischen Sozialdemokraten schwer haben, unter ihnen Fuß zu fassen. Die Sozialistenführer Bebel und Liebknecht haben noch vor dem Gründerkrach ein Bündnis mit dem Bürgertum angestrebt – aber angesichts der Situation in den Krisenjahren nach 1873 scheitert es an sozialen Fragen wie Lohn und Arbeitsverhältnissen. Im langen Abschwung müssen sich die Arbeiter nach langen Streiks und Arbeitskämpfen geschlagen geben und für weniger Lohn arbeiten. Vom Bürgertum im Stich gelassen, vom Staat ausgegrenzt, reagieren die Sozialdemokraten auf die neuen strukturellen Verhältnisse im Mai 1875 auf ihrem Parteitag in Gotha mit einem marxistisch geprägten Programm, das der politischen Ordnung offen den Kampf ansagt.

Um sie in Schach zu halten, reichen Nationalismus und Kolonialgerassel allein nicht aus (siehe oben). Bismarck schiebt ein Attentat auf Kaiser Wilhelm I. den Sozialisten in die Schuhe und rechtfertigt damit am 21. Oktober 1878 das »Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie«. Versammlungen, Parteiarbeit und Druckschriften werden erschwert oder gleich ganz verboten. Die soziale Frage – im Kondratieffabschwung besonders brennend – beantwortet der Staat brutal und hart im Sinne der herrschenden Zirkel, um dem »Staatssozialismus einer revolutionären, nicht mehr steuerbaren Arbeiterbewegung« zuvorzukommen. Erst als sich mit dem Aufschwung des nächsten Strukturzyklus die Marktmacht der Arbeiter wieder verbessert, wird die 1891 in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) umbenannte Partei stärkste innenpolitische Kraft.

Ebenso wenig zimperlich geht der Staat mit der katholischen Kirche um. Der Papst wendet sich schon 1864 mit der Enzyklika »Syllabus errorum« gegen den Liberalismus – das ist in den Hochkonjunkturjahren des zweiten Kondratieffs so ziemlich das Gegenteil des Zeitgeistes. Nachdem das neue Reich die Kirche auf vielen Gebieten als Konkurrenz empfindet (Eheschließung, Bildung, Zielvorstellungen des Lebens), verstößt der preußische Staat selber gegen liberale Grundsätze wie etwa den Wettbewerb der Meinungen und besten Ideen: Der »Kanzelparagraph« verbietet Pfarrern, staatliche Angelegenheiten anzusprechen. Alle Klöster in Preußen sowie alle Niederlassungen der Jesuiten in Deutschland werden verboten, nicht-deutsche Geistliche ausgewiesen, 1876 alle preußischen Bischöfe verhaftet oder ausgewiesen. Für Bismarck wird der Kulturkampf eine peinliche Niederlage: Das Kirchenvolk rückt umso enger zusammen, je mehr es vom Staat gegängelt oder der Freiheitsrechte beraubt wird, die katholische Zentrumspartei verdoppelt bei den Reichstagswahlen ihre Stimmen. In den 1880er Jahren lenkt Bismarck ein. Er hat genug anderen Ärger, zum Beispiel finanzielle Verteilungskämpfe mit dem Reichstag auszufechten.

 

Verteilungskampf: Bismarcks Staatsstreichpläne

Das hat damit zu tun, dass das junge Reich im Aufbau immer mehr Zuständigkeiten bekommt und Militär oder Botschaften stetig ausbaut, die Steuereinnahmen aber nicht so üppig eingehen. Wenn diese Zeit dagegen ein Kondratieffaufschwung wäre, der Reichskanzler hätte weniger Probleme, seine Rechnungen bezahlt zu bekommen. Während nach der Reichsgründung die Mitgliedsländer sozusagen einen Vereinsbeitrag zahlen, finanziert sich der Gesamtstaat ab 1879 aus Zöllen und Tabaksteuer. Und was über 130 Millionen Reichsmark hinausgeht, bekommen die Länder, die sich auch noch ihre bisherigen »Matrikularbeiträge« sparen. Bismarck scheitert mit dem Versuch, ein Tabakmonopol zu errichten und weitere indirekte Steuern zu erheben – das Reich muss Schulden machen.

Deswegen denkt Bismarck ab 1880 über einen Staatsstreich nach, weil man, so meint er, mit einem Reichstag nicht regieren könne, der aus allgemeinen und gleichen Wahlen hervorgegangen ist. Entweder die Einzelstaaten rufen ihre Vertreter aus dem Bundesrat zurück, einigen sich auf eine gleich lautende Landesgesetzgebung und überlassen der Reichsverwaltung Außenpolitik, Militär und Zölle. Oder die Fürsten kündigen das Reich von 1871 und gründen ein neues Deutsches Reich mit einem Reichstag, der nach dem preußischen Dreiklassenwahlrecht gewählt wird: Also nicht jede Stallmagd oder jeder Arbeiter hat mit seinem Wahlzettel ein ebenso großes Gewicht wie Thyssen oder Krupp, sondern es gibt drei Vermögensklassen, die gleichviel zu bestimmen haben: Die oberen paar Tausend so viel wie Millionen einfache Arbeiter. Bismarck scheitert mit seinen Plänen an der Außenpolitik, die ab 1885 einen Staatsstreich nicht zulässt.

Nichts hat also geholfen, die »große Depression« zu überwinden: weder die Schutzzölle, mit denen sich Deutschland vom Weltmarkt abschottet, noch Kolonien, die Sozialversicherung oder die Verfolgung von Sozialdemokraten und Katholiken. Selbst der angedachte Staatsstreich bringt keinen finanziellen Spielraum. Die Depression dauert bis in die 1890er. Als sich die Wirtschaft wieder erholt, stabilisiert sie sich nicht wegen der staatlichen Interventionen, sondern »weil die Unternehmer wieder Mut hatten, zu gründen und zu investieren«, so die vorherrschende Meinung.48 Doch niemand wird aus heiterem Himmel unternehmerisch tätig oder weil er eine Positiv-denken-Pille geschluckt hat. Die Kondratiefftheorie erklärt, warum es sich wieder lohnt, zu investieren: Neue Techniken und Kompetenzen machen die Fabriken wieder produktiver.

3. Kondratieffaufschwung Die unsichtbare Energie

Dampfmaschinen können sich nur kapitalkräftige Unternehmer leisten – für den normalen Handwerker sind sie ein unerreichbares Ziel. Und sie sind aufwändig: Eine Dampfmaschine benötigt Arbeiter, die Kohle heranschaufeln. Sie verbreitet Hitze, belastet das Gehör und ist unflexibel: Denn sie lässt sich nicht einfach an- und ausknipsen. Sie rotiert ununterbrochen, unabhängig davon, ob und wie viele Maschinen über Riemen an die Transmissionsstange gekoppelt sind. Die teure Energie verpufft dann ungenutzt. Und wenn die Dampfmaschine kaputt ist, steht die ganze Fabrik still.

Grundlegende Erfindungen stellen die ganze Gesellschaft auf den Kopf

Diese Wachstumsgrenze überwindet der dritte Kondratieff mit mobiler Energie. Elektrischer Strom – das ist Kraft für Maschinen, Licht für Städte, Kommunikation, ein Katalysator für chemische Prozesse, Wärme für den Haushalt oder Hitze für den Hochofen. Elektrischer Strom revolutioniert die Mechanik. Er verändert die Arbeitsorganisation, die Betriebsgröße und den Bau von Maschinen. Tragbare Bohrer oder fahrbare Presslufthämmer (zum Kohlehauen unter Tage) lassen sich überall nutzen, wo ein Kabel hinführt oder eine ausreichend große Batterie mitgebracht wird. Stromkabel lassen sich überallhin verlegen und machen Firmen ortsunabhängig von Kohlevorkommen. Fabriken werden mit elektrischem Licht heller, der Unterschied zwischen Tag und Nacht verschwimmt. Die Kapazität einer elektrifizierten Produktionsanlage ist größer als die der Dampfgetriebenen, die Qualität steigt. Energie wird dosier- und wandelbar. Hitzeenergie lässt sich über den elektrischen Strom in kinetische Energie umsetzen (zum Beispiel: Strom aus einem Kohlekraftwerk zieht einen Fahrstuhl nach oben) und umgekehrt (Strom aus einem Wasserkraftwerk heizt einen elektrischen Stahl-Hochofen). Wo sich Wasserkraft zum Beispiel wie bei den Niagarafällen in den USA nutzen lässt, entsteht elektrische Energie praktisch kostenlos.

Das alles braucht wie bei jedem neuen Strukturzyklus wieder gesellschaftliche Debatten über neue Gesetze und technisch abgestimmte Normen. Denn die Gesellschaft ist sich doch noch gar nicht darüber einig, wohin die Reise gehen wird: Als Edward Belamy 1888 sein Buch »Utopia: Looking Backward« ein paar Millionen Mal verkauft, prognostiziert er, bis zum Jahr 2000 werde der elektrische Strom alle Lichtquellen und Herdplatten befeuern. Das gilt als mutige Aussage, obwohl es in Wirklichkeit viel schneller so kommt. Die meisten Zukunftspropheten machen zu ihrer Zeit den Fehler, nur die gegenwärtige Entwicklung hochzurechnen, anstatt sich vorzustellen, wie stark sie sich beschleunigt.

Verständlich, wenn man sich überlegt, vor welchen ungeheuerlichen Investitionen eine Gesellschaft zu Beginn des neuen Strukturzyklus steht: Kohlekraftwerke erzeugen elektrischen Strom außerhalb der Fabrikhalle oder sogar draußen vor der Stadt. Kabel leiten elektrische Energie direkt an den Verbrauchsort. Dort verwandeln Elektromotoren den Strom sauber und geräuschärmer als die bisherigen Dampfungetüme in mechanische Bewegungsenergie, stanzen Bleche, lassen Spindeln rotieren, bohren Schraubengewinde. Elektrische Maschinen werden zu einem neuen Wirtschaftszweig. Glühlampen erhellen die Innenstädte, Theater und bald auch Wohnungen ungefährlicher als Gas- und Petroleumlampen. Die gewaltig gesteigerte Produktivität vernichtet keine Arbeitsplätze (wie Gewerkschaften und andere gesellschaftliche Gruppen in den 1970ern/​80ern gegen Computer und Roboter eingewandt haben), sondern sie schafft einen schier unendlichen neuen Arbeitsbedarf: Kupfer muss in Bergwerken gefördert, Kabel, Masten und Dynamos müssen gefertigt und verlegt werden, um Strom und um Nachrichten zu übertragen. Technische Hochschulen bilden Ingenieure aus.

Eine neue Elektroindustrie stellt Produkte her, von denen man vorher noch nicht einmal geträumt hat. Strom ermöglicht Gespräche über das Telefon. 1890 sind 228.000 Telefone in den USA in Gebrauch, um 1900 sind es bereits fast anderthalb Millionen. In den Großbetrieben mit Zehntausenden von Arbeitern und verstreuten Dienststellen spart das viel Zeit. Auch die elektrische Schreibmaschine erleichtert die Büroarbeit. Vor allem löst der elektrische Strom das größte Problem der rapide gewachsenen Großstädte: Überall fahren jetzt elektrische Straßenbahnen, zum Teil schon unterirdisch wie in London ab 1887. In Deutschland verbreiten sich die elektrischen Straßenbahnen ganz besonders schnell: 1891 haben erst zwei Städte welche, im Jahr 1900 sind bereits 99 Straßenbahnen fertiggestellt, 28 weitere in Bau. Ebenso rapide entwickelt sich der dritte Kondratieff in den USA: 1890 haben erst 15 Prozent der amerikanischen Städte elektrisch angetriebene Trambahnen, 1904 sind es 94 Prozent.49 Damit beginnt, was das Auto später perfektioniert: Das Leben der Arbeiter und Angestellten verlagert sich aus der Nachbarschaft der Fabriken raus an den Stadtrand und in die Vororte.

Die Elektrifizierung versetzt die chemische Industrie in die Lage (zum Beispiel durch Elektrolyse oder celsiusgradgenaue Temperatureinstellung), chemische Stoffe aller Art in Masse zu produzieren. Das eröffnet unendlich viele Möglichkeiten, sie neu zu kombinieren und zu Produkten zu verarbeiten: neue Werkstoffe und Legierungen, Schwefelsäure, Farbstoffe. Glas, Papier, Zement, Gummi und Keramik werden Teil der chemischen Industrie. Auch Aluminium hängt von der elektrischen Industrie ab, ebenso das Herstellen von Chlor. Was elektrischer Strom in der Chemie möglich macht, wirkt auf die Elektrobranche zurück: Erst mit Hilfe der Elektrolyse lässt sich Kupfer in großen Mengen herstellen. Nie zuvor haben Wissenschaft und Produktion so eng zusammengearbeitet – zum ersten Mal geht es in einem Kondratieff um die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse, besonders um das Wissen über den Aufbau der Materie.50

Durch den elektrischen Strom beginnt erst jetzt so richtig das Zeitalter des Stahls, auch wenn schon vorher bessere Herstellungsverfahren die Grundkosten des Rohstahls senken (Bessemer-Verfahren 1856, Siemens-Martin-Verfahren 1864, Thomas-Verfahren 1879). Im selben Jahr stellt Siemens den ersten elektrischen Hochofen vor. Am Ende des Kondratieffs erzeugen sie Temperaturen, die für konventionelle Brennstoffe unerreichbar sind. Der Preis etwa für Stahlschienen sinkt in den USA von 107 Dollar pro Tonne im Jahr 1870 auf 18 Dollar 1898.51 Mit den höheren Temperaturen steigt auch die Qualität. Stahl wird auf unendlich viele Arten neu einsetzbar. Das löst eine Welle von Anwendungen im Gebäude- und Schiffsbau und erneut bei der Eisenbahn aus. Die Eisenbahn ist aber nicht mehr Wachstumsmotor, sondern hat im Staffellauf der Wachstumsmärkte den Stab an den elektrischen Strom abgegeben. Weil der den Wohlstand hebt, gibt es mehr zu transportieren. In dem Jahrzehnt bis 1905 kommen in Deutschland noch einmal 10420 Schienenkilometer dazu, danach bricht dieser Sektor mit nur noch 5430 zusätzlichen Kilometern schon vor dem Ersten Weltkrieg am deutlichsten ein und zeigt, dass die Wirtschaft auch ohne Krieg in den 1920er Jahren abgerutscht wäre.

Der dritte Kondratieff verändert auch den Schiffsbau völlig: Wird 1870 erst jedes zehnte aus Stahl gefertigt, sind es nur 20 Jahre später neun von zehn Schiffen. Sie kommen mit deutlich dünneren Platten aus. Stahlschiffe sparen so mehr Kosten, als es die fallenden Preise pro Tonne Stahl ausdrücken – das gilt für alle Bereiche, wo Stahl das bislang verwendete Eisen ersetzt (s. Grafik). An Stahlpfeilern hängen neue Brückenkonstruktionen, große Bahnhofshallen werden aus Stahlträgern errichtet. Bisher waren hohe Gebäude auf dicke, tragende Mauern aus Ziegelsteinen angewiesen, die nur wenige Fenster erlauben. Mit dem Stahlbau beginnt jetzt im völlig übervölkerten New York und Chicago die Ära der Wolkenkratzer. Auch dabei zieht sich wieder das technologische Netz gegenseitig nach oben: Elektrischer Strom ermöglicht einen sicheren Lift, das Telefon die Kommunikation über 20 Stockwerke hinweg. Andererseits verbessert der Stahl auch Anwendungen der Elektrotechnik, etwa für größere Generatoren. Mit der jetzt möglichen Massenproduktion in der Chemieindustrie werden neue Legierungen möglich, die den Stahl immer härter machen, was wiederum neue Werkzeuge generiert – zum Beispiel die Bohrköpfe, die den Panamakanal ausgraben.


Kupfer wird durch Elektrolyse gewonnen, ermöglicht andererseits aber erst die Massen-Elektrifizierung. Aus elektrischen Hochöfen fließt besserer Stahl, was den Maschinenbau beflügelt, der mit härterem Stahl Metalle exakter verarbeiten kann. Rostfreier Stahl regt die Rüstungsindustrie an. Blechdosen bestehen ab jetzt nicht mehr aus Zinn-Weißblech, sondern zu 98 Prozent aus Stahl – das verändert die Haushalte und das Leben der Soldaten im Ersten Weltkrieg. Fahrräder aus Stahlrohren werden in den 1890er Jahren erschwinglich. Und auch Gebrauchsgüter wie Essbesteck ersteht der kleine Mann für weniger Geld.

 

Nicht Makroökonomie, sondern der neue Kondratieff treibt den Wohlstand

Der Markt ist kein völlig zufälliges Geschehen. Die Elektroindustrie entwickelt sich, wie sich alle Basisinnovationen entwickeln: Ihre Beschäftigung, ihr Umsatz und ihr Anteil an der Gesamtwirtschaft explodieren. In nur 17 Jahren legt die Zahl der Mitarbeiter bei Siemens von 4000 im Jahr 1895 auf 57.000 im Jahr 1912 zu, bei der AEG von 550 auf 22.650. Die Hälfte aller in der deutschen Elektrobranche Beschäftigten arbeitet in »Elektropolis«, in Berlin. Auch innerhalb der deutschen Industrie bekommt die Elektrobranche größeres Gewicht: 1895 arbeiten 24.000 Menschen in der Elektroindustrie, das ist nur jeder 250. Industriearbeiter. 1925 sind es 449.000 – das ist jetzt jeder 25. Der weltweite Umsatz von Siemens steigt von 800.000 Britischen Pfund 1893 auf 23,6 Millionen Pfund, AEG ist mit einem Umsatz von 22,7 Millionen Pfund fast gleichauf. Jeder von ihnen produziert allein mehr als der wichtigste US-Konkurrent General Electric, der 17,8 Millionen Pfund auf die Waage bringt.

Die Elektrifizierung spiegelt sich auch in der Weltkupferproduktion wider: Sie steigt zwischen 1875 und 1900 von 130.000 auf 525.000 Tonnen. Welches wirtschaftliche Gewicht der elektrisch hergestellte Stahl bekommen hat, verdeutlicht sein Verhältnis zum Branchenumsatz des ersten Kondratieffs: Während die US-Wirtschaft 1901 Textilien für eine Million Dollar produziert, produziert sie im selben Jahr Stahl im Wert von einer Milliarde Dollar.52 Zwischen 1880 und 1913 steigt der US-amerikanische Stahlausstoß von einer auf 31 Millionen Tonnen, in Deutschland von 0,7 auf 18,9 Millionen Tonnen, in Großbritannien dagegen nur von 1,3 auf 7,7 Millionen Tonnen. 1903 ist der Stahlhersteller Krupp das größte Privatunternehmen auf dem europäischen Kontinent.

Dass kurz nach der Jahrhundertwende eine Elektrokrise ausbricht, ist kein Argument gegen die These, dass in diesen Jahren ein Kondratieffaufschwung stattfindet. Macht die Basisinnovation bei ihrer Bergtour eine Pause, dann stottert die Konjunktur, aber eben nur kurz. Das gibt es auch beim Eisenbahnaufschwung in den 1840ern und 1857 oder im Computeraufschwung um 1992: weil Investitionen nicht immer im selben Tempo von der Gesellschaft wirtschaftlich aufgenommen werden können, mit welchem sie errichtet werden. Deutlich nachzuvollziehen ist der dritte Kondratieff an der Zahl der Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen ins Ausland flüchten: In den zehn Jahren während des zweiten Kondratieffabschwungs zwischen 1881 und 1890 wandern 1.342.000 Deutsche in die USA aus, die zu dieser Zeit in Deutschland nicht ausreichend produktiv beschäftigt werden können. Das ist nicht nur ein Verlust an Menschen, sondern auch an Kapital. Denn sie nehmen im Durchschnitt vier bis sechs Jahreseinkommen eines Arbeiters mit. Trotz Bevölkerungsexplosion versiegt der Auswandererstrom, als Deutschland im dritten Kondratieff prosperiert: Zwischen 1901 und 1910 wandern insgesamt nur noch 280.000 Deutsche aus.

Zu welchem Zeitpunkt man genau anfangen sollte, die Geschichte des dritten Kondratieffs zu erzählen, lässt sich nur willkürlich bestimmen. Ein Strukturzyklus berührt zwar alle Ebenen des Denkens und der Gesellschaft, aber er berührt sie unterschiedlich schnell. Seine grundlegenden Erfindungen brauchen Zeit. Lange, bevor sie die Wirtschaft antreiben, müssen sie zahlreiche Hindernisse überwinden, technische Probleme lösen, soziale Voraussetzungen und Infrastruktur schaffen, misstrauische Zeitgenossen vom Nutzen überzeugen. Längst beansprucht das neue technologische System große Entwicklungsressourcen, verändert Bildungslandschaft und Organisationsmuster, bis es stark genug ist, die Wirtschaft auf ein neues Wohlstandsniveau zu tragen. Seine Strukturen überlappen sich mit denen des Vorgängers und des Nachfolgers, verlaufen parallel. Ein neues technologisches System entwickelt sich zuerst nur als Nische, Nutzer oder Zulieferer des aktuellen Strukturzyklus und mausert sich zu einem eigenen Kondratieff, bis es in seinem wirtschaftlichen Gewicht selbst wieder zum Lieferanten seines Nachfolgers absinkt.

Dass die USA so schnell auf der dritten Welle reiten, liegt an Thomas Alva Edison – und zwar nicht nur an seinen Erfindungen: Er überzeugt die Handelsorganisationen, seine Elektroausrüstung zu vertreiben. Die Deutschen müssen diesmal nicht in England spionieren, denn sie selbst treiben die Innovation voran. Der deutsche Erfolg im dritten Kondratieff hängt an zwei Personen: Emil Rathenau, der als Unternehmer in der AEG vor allem umsetzt, was andere erfinden, und Werner von Siemens, dem Pionier. Als Armeeingenieur entwickelt Siemens ein Elektrolyseverfahren, das Essbesteck wie Gabeln und Löffel vergoldet. Dann bastelt er an der Möglichkeit, Nachrichten mit elektrischem Strom zu übermitteln, und verbessert 1846 einen englischen Telegrafen. Von Anfang an ist aber auch er vor allem Unternehmer: Die Probleme, mit denen er sich beschäftigt, sucht er sich danach aus, ob jemand bereit ist, für die Lösung viel Geld auszugeben. Seine Firma ist 1847 ein Hinterhofgebäude in der Schöneberger Straße 19 in Berlin, in der Nähe des Anhalter Bahnhofs. Eine baufällige Treppe führt zu 150 Quadratmetern sparsamst eingerichteter Werkstatt.53 Dort schafft er die Voraussetzung für den Aufstieg der Elektrotechnik und den Wohlstand späterer Generationen: Da es noch nicht gelingt, Strom über weite Strecken zu leiten, weil die Kabel nicht gut isoliert werden können, erfindet Siemens eine Presse, mit der Kupferkabel nahtlos mit Guttapercha umhüllt werden können, einem gummiartigen Pflanzenprodukt. Mit zuverlässigen und billig isolierten Drähten ist der Weg frei für Telegrafen und die wirtschaftlich sinnvolle Verbreitung elektrischer Geräte.

1852 gibt es in ganz Russland nur 600 Kilometer Eisenbahn – gegenüber 10600 Kilometern im vergleichsweise winzigen England. In industrielle Größenordnung katapultiert Siemens der russische Auftrag, während des Krimkrieges eine Telegrafenlinie von Sankt Petersburg über Kiew bis zum Kriegsschauplatz auf der Krim zu bauen und die komplette Anlage zu installieren, einschließlich der Leitungen, Masten, Isolatoren und Relaisstationen. Dabei sieht es in der Werkstatt aus wie bei Handwerkern, nicht wie in einer Fabrik: Jedes Werkstück wird per Hand hergestellt, bis 1863 gibt es noch nicht einmal eine Dampfmaschine, die Drehbänke und Bohrmaschinen werden von Hand bedient.

Das Telegrafengeschäft kommt Ende der 60er Jahre ins Stottern: Es ist im zweiten Kondratieff gleichbedeutend mit Kabeln und Signalanlagen entlang der Bahntrassen. Siemens findet mit dem Dynamo 1866 als Erster einen Weg, mechanische Energie in elektrischen Strom zu verwandeln. Deswegen ist er führend in der Schwachstromtechnik, aber in der Starkstromtechnik liegt der amerikanische Erfinder Thomas Alva Edison vorne. Und der junge Konkurrent Emil Rathenau wird den alten Herrn von Siemens bald überflügeln, weil dieser ein eigenwilliger Gründer ist, der es nicht schafft, sich vom allwissenden Prinzipal einer Garagenfirma zum Manager einer Massenproduktion zu verändern. Siemens zieht sich 1890 aus dem Geschäft zurück und stirbt 1892. Es hat ein ganzes Arbeitsleben gebraucht, um den Elektrokondratieff vorzubereiten, der erst jetzt antritt, die Gesellschaft zu reorganisieren.

Der viel jüngere Rathenau setzt auf moderne Produkte und auf Marketing: Er rüstet das Münchner Residenztheater mit den von Siemens ignorierten Edison-Glühlampen aus – um so Bedarf zu wecken. Seine Geschichte macht uns heute Mut, weil sie zeigt, dass man sich während des langen Abschwungs anstrengen muss, um den neuen Aufschwung zu ermöglichen. Emil Rathenau steigt als junger Konstrukteur bei einer Maschinenbaufirma ein, die im Gründerboom in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wird. Er ist clever genug, seine Aktien vor dem Börsencrash zu verkaufen, zieht sich 35jährig mit einer dreiviertel Million Reichsmark ins Privatleben zurück und beobachtet die nächsten zehn Jahre, wie sich Technik und Wirtschaft verändern. Auf der Weltausstellung 1881 in Paris begegnet er Thomas Alva Edison, der seine Kohlefadenlampe vorführt. Rathenau setzt sich unter windigen Konkurrenten durch und erwirbt die alleinige Lizenz zur Produktion der elektrischen Glühlampe – auch er glaubt nicht an eine unvorhersagbare Zukunft, sondern weiß, dass die Elektrifizierung kommt.