Die Geschichte der Zukunft

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Die geringen amerikanischen Arbeitslosenraten von um die fünf Prozent legen nahe, die 20er Jahre seien in den USA schon Teil des vierten Kondratieffaufschwungs. Zwar arbeitet noch immer jeder vierte Amerikaner in der US-Landwirtschaft, aber die USA und Kanada produzieren in den 20er Jahren zusammen 90 Prozent aller Autos der Welt (obwohl die wichtigsten Innovationen des vierten Kondratieffs aus Europa stammen). Doch während im langen Aufschwung der Arbeitsplatz sicher scheint, leiden jetzt die Beschäftigten gerade in dem neuen technologischen System rund um das Auto unter den ständigen Marktschwankungen, einem dreimal häufigeren Stellenwechsel als 1899/​1913 und noch öfter unter vorübergehender Arbeitslosigkeit.

Die frühe Automobilindustrie entwickelt sich nicht wie heute ein paar Prozent rauf oder runter, sondern sprunghaft mit heftigen Ausschlägen. 1921, 1924 und 1927 fällt die Auto-Produktion in den USA dramatisch. Und als sie 1928 um 28 Prozent und 1929 um 23 Prozent steigt, erreicht sie dennoch erst wieder den Output von 1926 in Höhe von über vier Millionen Autos.60 Der Export von Autos fällt von über 600.000 vor dem Börsenkrach auf 65492 im Jahr 1932. Alle Zulieferer sind betroffen vom Einbruch der Autoverkäufe. Das heißt: Das neue technologische Netz entwickelt sich zwar rapide, ist aber noch nicht stark genug, die Wirtschaft zu tragen. Die Produktivitätsfortschritte der schon etablierten Branchen führen im Kondratieffabschwung aber nur mittelfristig zu Arbeitslosigkeit. Langfristig dagegen ist das die Voraussetzung dafür, dass dem nächsten Strukturzyklus ausreichend Ressourcen zur Verfügung stehen.

Da ist die instabile Konjunktur in Deutschland kein Wunder: Nach der überschießenden Inflation führt die Reichsbank die »Rentenmark« ein und verknappt die Geldmenge – das löst zum Jahreswechsel 1923/​24 eine Stabilisierungskrise aus. Über 28 Prozent der gewerkschaftlich organisierten Arbeiter (eine amtliche Statistik führt der Staat erst seit 1928) werden arbeitslos. Auch im Sommer 1924 und Ende 1925 bricht die Wirtschaft ein – in diesem Winter verliert jeder vierte Beschäftigte seine Arbeit, jeder weitere vierte muss kurzarbeiten. Aus dieser Rezession können sich die Deutschen schnell befreien, weil die Engländer Verteilungskämpfe ausfechten: Um in der internationalen Abwertungsspirale billiger im Ausland verkaufen zu können, werden die Löhne dort um etwa 10 Prozent gesenkt. 40 Prozent aller britischen Gewerkschaftsmitglieder sind bei Generalstreiks landesweit im Ausstand. Die deutsche Wirtschaft kann die fehlenden Güter kurzfristig liefern. 1928/​29 produziert die Industrie endlich wieder so viel wie eine halbe Generation zuvor 1913, da sackt sie in sich zusammen.

Der »unerklärliche« Börsencrash 1929

Nachdem das elektrische System weitgehend implementiert, aber das Auto noch nicht stark genug ist, wird nicht ausreichend in die Realwirtschaft investiert, die Zinsen erreichen Tiefststände. Wie schon im Spekulationsfieber Anfang der 1870er fließt das Anlagekapital an die Börse in virtuelle Werte. Die rasant steigenden Kurse reizen immer mehr Privatleute, Aktien zu erwerben – zunehmend auch auf Kredit. Schon im Sommer 1928 ziehen amerikanische Banken und Investoren Kapital aus Europa ab, um damit die Hausse an der New York Wall Street zu finanzieren. Ein Jahr später spürt Europa bereits an der stockenden Konjunktur, wie ihm das amerikanische Geld fehlt. Auch die US-Wirtschaft schrumpft schon vor dem Crash. Während Deutschland, England und Italien in die Depression rutschen, sinkt auch die amerikanische Autoproduktion von 622.000 Stück im März 1929 auf 416.000 im September (und wird nach dem Crash auf nur noch 92.000 Autos im Monat Dezember abstürzen).

Obwohl die Wirtschaft schon schwächelt, haussiert die Börse weiter. Die amerikanische Notenbank ist in einer schwierigen Situation: Soll sie die Zinsen senken, um Investitionen rentabler zu machen und so die amerikanische Realwirtschaft wieder anzukurbeln (was aber auch wieder mehr Geld für Luftbuchungen an der Börse frei macht), oder soll sie die Zinsen erhöhen, damit die Kurse eben nicht mehr weiter so völlig unrealistisch steigen (und die Wirtschaft abwürgen, weil das Investitionen verteuert)? In vier Schritten hebt sie bis August 1929 die Zinsen von 3,5 auf 6 Prozent an, ohne dass die Kursrallye endet – dafür wird die Wirtschaft weiter ausgebremst.

Anfang September 1929 endet die Hausse. Allmählich beginnen die Kurse zu fallen, aber noch denken die Anleger (und da können sich die Anleger des Jahres 2000 gut hineinfühlen), das sei eben wieder nur eine Atempause, bevor es weiter aufwärts geht. Am 15. Oktober 1929 prognostiziert Irving Fisher, Professor an der Yale-Universität: »Die Kurse haben ein dauerhaft hohes Niveau erreicht. Ich erwarte, dass die Kurse in wenigen Monaten ein gutes Stück höher als heute stehen werden.« Am 24. Oktober stützt ein Bankenkonsortium die wichtigsten Kurse ab, doch die Verkauforders häufen sich. Panik erfasst die Aktionäre. Ihre Informationen sind oft schon einen Tag alt oder älter, wenn sie diese erhalten; die geringeren Kommunikationsmöglichkeiten sind ein Grund, warum die Börse nach dem dritten Kondratieff viel heftiger abstürzt als jetzt nach dem fünften Kondratieff ( Börsen-Kapitel, S. 346).

Noch ein Grund für den schnellen Absturz: Damals müssen Investoren nur zehn Prozent des Aktienkaufs bar bezahlen, den Rest können sie leihen. Wer Aktien auf Kredit gekauft hat, für den verkauft die Bank die Papiere auch ohne seine Zustimmung, sobald der Kurswert gerade noch den Kreditanteil deckt – das beschleunigt den Abfahrtsslalom. (Heute darf nur die Hälfte des Betrages kreditfinanziert sein, mit dem jemand in den USA Aktien kauft – auch deswegen verteilt sich die Korrektur der Preisblase auf mehrere Jahre.) Am 28. und 29. Oktober 1929 verliert der Dow Jones-Aktienindex 40 Prozent. Anleger stürzen sich von Wolkenkratzern in den Tod. Es wird bis 1954 dauern, bis er wieder das Niveau von 1929 erreicht hat. (Glauben Sie es also Ihrem Finanzberater nicht blind, wenn der Ihnen erzählt, Aktien wären immer die bessere Anlage.)

Spirale abwärts

»Ohne die entdeckten langen Zyklen ist die Realität gar nicht zu verstehen, besonders der gegenwärtige Zustand der Konjunktur«, schreibt Kondratieff am 23. Januar 1935 in einem Brief aus dem Gefängnis an seine Frau Evgeniya. Im Vergleich zu 1925 halbiert sich 1929 die Industrieproduktion der USA, 1933 wird nur noch ein Viertel von dem Wert des Jahres 1929 industriell hergestellt. Die Wirtschaftspolitik ist hilflos: Das Smoot-Hawley-Zollgesetz schottet die eigenen Grenzen gegen fremde Waren noch stärker ab als die Gesetze der 20er Jahre mit durchschnittlich 60 Prozent Zoll auf alle importierten Waren. Präsident Hoover setzt es 1930 gegen den öffentlichen und völlig wirkungslosen Protest von über tausend Wirtschaftswissenschaftlern in Kraft. Jede Zollanhebung sorgt nur dafür, dass sich die anderen Länder dagegen wehren – mit ebenfalls höheren Einfuhrzöllen oder -verboten. Und das trifft die USA noch viel härter: Der US-Getreideexport sinkt von 200 Millionen Dollar im Jahr 1922 auf fünf Millionen Dollar 1932, die Autoexporte von 541 Millionen Dollar 1929 auf 76 Millionen Dollar 1932. Im dritten Kondratieffaufschwung, in den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg, hat sich der Welthandel mehr als verdoppelt; doch im folgenden langen Abschwung in den 20 Jahren danach erreicht er genau zum 1929er Crash das Vorkriegsniveau und fällt 1932/​33 auf das Niveau der vorangegangenen Jahrhundertwende – mit großen Wohlstandsverlusten.

Als Franklin Roosevelt im März 1933 Präsident der USA wird, hat sein Land 15 Millionen Arbeitslose (das ist fast ein Viertel der arbeitsfähigen Bevölkerung), die Industrie steht fast still. Eine Armee von 15.000 arbeitslosen Veteranen des Ersten Weltkriegs marschiert 1932 nach Washington und wird erst durch die reguläre Armee aufgelöst und zerstreut. Auf dem Land nehmen Bauern schon einmal das Recht in die eigene Hand, um sich gegen Zwangsvollstreckungen zu wehren, und auf den Straßen der Großstädte herrscht blanke Gewalt (das ist auch heute noch ein dankbares Umfeld für Gangsterfilme). Die Zinsen entsprechen der Kondratiefftheorie: Selbst im Ersten Weltkrieg bleiben sie niedrig und fallen bis 1935 auf 0,25 Prozent. Am niedrigsten verzinst sind Kredite mit dreimonatiger Laufzeit 1939 in New York: Auf zwölf Monate hochgerechnet, sind sie für 0,02 Prozent zu haben. Die USA erreichen ihr Produktionsniveau von 1929 erst 1937 wieder und dann auch nur kurz. Erst der Zweite Weltkrieg mit seiner weltweiten Nachfrage an Panzern, Flugzeugen, Werkzeugen, Truppenausrüstung oder synthetischem Gummi wird die US-Industrie auf Touren bringen, weil diese effizientere Produktionsverfahren erzwingen.

Der dritte Kondratieffabschwung erfasst aber nicht nur die USA, sondern alle – egal, ob Sieger oder Kriegsverlierer: Englands Wirtschaft bricht gerade in den Wachstumsmotoren der früheren Kondratieffs ein: die Textilindustrie um zwei Drittel, Eisen und Stahl halbieren sich, der Schiffsbau fällt auf sieben Prozent der Vorkriegstonnage zurück. Während Gesamteuropa im Durchschnitt etwa ein Viertel weniger produziert, ist Deutschland mit minus 40 Prozent überproportional betroffen.

Ebenso stürzt Frankreich in die Krise. Die Regierung kürzt die Ausgaben und erhöht die Steuern. Wie überall sind die Arbeiter erbost, dass sie die Hauptlast der höheren Steuern zu tragen haben, und die Vermögensbesitzer sind sauer, weil ihr Erspartes 80 Prozent seiner Kaufkraft verloren hat. Die Weltwirtschaftskrise erfasst Frankreich etwas später, hat dort ihren Tiefpunkt 1936 und ist noch immer nicht vorbei, als der Zweite Weltkrieg ausbricht (das bestätigt Kondratieffs Annahme, dass der lange Zyklus in den verschiedenen Ländern zwar parallel, aber nicht identisch verläuft). Je größer die Krise, umso mehr fehlt den Politikern die Kraft, langfristige, strategische Ziele zu verfolgen und umso mehr reagieren sie nur auf den tagesaktuellen Nutzen. Wegen ihrer wirtschaftlichen Probleme ziehen Frankreich und England Ende der 30er Jahre gegen Hitler politisch nicht an einem Strang. Die Lehre, die wir heute daraus ziehen müssen: Je heftiger der Kondratieffabschwung wirkt, umso schwerer, aber auch umso wichtiger wird es, langfristige Ziele zu verfolgen.

 

Während uns die langen Schlangen von Arbeitslosen in den USA und Europa zumindest aus Filmen präsent sind, erinnert keiner an das Elend der damaligen Kolonien oder schon selbständigen Entwicklungsländer. Nachdem 1929 zum Beispiel die Bananenpreise in den Keller rutschen, vergrößert die United Fruit Company61 panikartig die Anbaufläche in Honduras, vertreibt die Bauern aus ihrem Siedlungsland und macht sie so zu städtischem Lumpenproletariat. Rund um den Globus haben die Kolonialherren der 1880er im zweiten Kondratieffabschwung die gemischten Strukturen der alten Dörfer zerstört, als sie deren Wirtschaft auf ihre eigenen Bedürfnisse umgestellt haben: Die Äcker sind längst in Monokulturen umgewandelt, Dorfgemeinschaften zerbröselt, die lohnabhängigen Arbeiter auf Plantagen gezogen. Mit den Preisen für Rohstoffe und Agrargüter brechen auch die Lebensgrundlagen der Menschen in Afrika und Asien zusammen – da geht es selbst einem arbeitslosen New Yorker oder Berliner vergleichsweise gut.

Auch Japan wird erschüttert, setzt aber selbst im langen Abschwung seinen Aufstieg fort: Nachdem es sich 1868 nach zwei Jahrhunderten Abschottung wieder dem Westen geöffnet hat, hat es nicht nur westliche Technik, sondern auch Institutionen wie Gewerkschaften oder Arbeitgeberverbände übernommen, die nicht zum gruppenorientierten Denken dieser Kultur passen. Unternehmer sehen im Streik eine Art Befehlsverweigerung wie beim Militär – das passt nicht zur Treue einer archaischen Samurai-Gesellschaft. Während des Ersten Weltkriegs stellt Japan im Auftrag der Alliierten Munition und Frachtschiffe her, es beliefert die Märkte Asiens, welche die Europäer nicht mehr bedienen können. Unter dem Schutz des Krieges kann es an den dritten Kondratieff anschließen und eine große chemische und elektrotechnische Industrie aufbauen. Danach sind seine Produkte wieder dem Wettbewerb mit europäischen Waren ausgesetzt. Seine Wirtschaft stottert, weil die Kosten höher sind als in Europa. 1921 und 1925 sinkt die Menge der produzierten Industriegüter. Die Bauern leiden unter Reisimporten aus Taiwan und Korea, der Seidenexport in die USA erliegt in der Depression.

Solange die Wirtschaft immer weiterwuchs, blieb die Lage ruhig. Doch mit der Weltwirtschaftskrise eskalieren die Konflikte. Es kommt zu blutigen Straßenschlachten, als die Armee Streiks und Demonstrationen auflöst. Zwischen den beiden Weltkriegen sind Belegschaftswechsel bis zu 100 Prozent keine Seltenheit, kaum eine Regierung ist länger als ein Jahr im Amt. Die Militärs ergreifen die Macht. Gewerkschafter und Sozialisten werden inhaftiert. Die Generäle wollen das Elend und die Abhängigkeit von Rohstoffen – Öl, Eisenerz, Kohle – durch Expansion lösen, nach Malaysia, Borneo, Niederländisch-Ostindien, Französisch-Indochina. Als Finanzminister Takahashi über die wirtschaftlichen Konsequenzen erschrickt, dass das Militär 1936/​37 schon 47 Prozent des Staatshaushaltes beansprucht, wird er vom Militär ermordet – der Rüstungsanteil wächst daraufhin im folgenden Jahr auf 70 Prozent des Staatshaushaltes.62 Japans erster zaghafter Ausflug in eine individualistische Gesellschaft endet nach Mord und Totschlag wieder in einer Gruppenethik, in die sich der Einzelne bedingungslos einfügt. Für Individualismus, bei dem jeder seine Interessen gewahrt sehen will, und die daraus folgenden Konflikte ist Japan in den 1920er Jahren noch nicht bereit (und ist es vielleicht heute noch nicht, obwohl die Informationsgesellschaft Japan dazu zwingen wird): Aus der Sicht der Kondratiefftheorie ist Wirtschaft eben vor allem eine kulturelle Leistung.

Verteilungskämpfe zerstören den Rechtsstaat

Im Abschwung muss eine Gesellschaft mehr Probleme lösen als vorher – und das mit weniger Ressourcen. Innenpolitisch zerstört der Kondratieffabschwung das bisschen Konsens, vor allem in Deutschland. Dabei hat dort alles so gut angefangen: Nachdem der Kaiser vertrieben ist, suchen Gewerkschaften und Arbeitgeber noch den Schulterschluss. Die einen wollen endlich mitregieren, die anderen haben Angst vor einer Revolution wie in Russland. Beide vereinbaren, Streit in einer »Zentralarbeitsgemeinschaft« zu regeln. Die Unternehmer akzeptieren Betriebsräte und Flächentarifverträge, die tägliche Arbeitszeit wird auf nur acht Stunden festgeschrieben. Und wenn sich Arbeitskonflikte dennoch verhärten, soll der Staat als Zwangsschlichter eingreifen, also das Ergebnis neutral, aber für beide verbindlich festsetzen.

Das vermeidet Streiks, solange die Inflation für Vollbeschäftigung sorgt (weil es sich nicht lohnt, Geld zu sparen, wird es eben sofort wieder ausgegeben) und solange sich danach wirtschaftlich noch ein paar wenigstens mäßige Jahre anschließen. Doch als die Konjunktur abflacht, wagen es immer mehr Unternehmer vor allem in den Branchen der ersten beiden Kondratieffs, die Arbeitszeit eigenmächtig zu erhöhen oder die Kompetenzen der Betriebsräte wieder aufzuheben. Einige Manager unterlaufen die Rechte der Betriebsräte im Aufsichtsrat, indem sie verschleierte Bilanzen vorlegen oder wichtige Fragen eben nicht mehr dort diskutieren.

Die miese Konjunktur verschlechtert wie im Kondratieffabschwung der 1880er die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer. In den Stabilisierungskrisen Mitte der 20er Jahre machen immer mehr Väter die Erfahrung, ein paar Monate arbeitslos auf der Straße und nicht mehr in der Lage zu sein, ihre Familie ernähren zu können. Wie in den 1880er Jahren reagiert der Staat auf die soziale Not des Kondratieffabschwungs mit einer neuen Sozialversicherung – er führt am 1. Oktober 1927 die Arbeitslosenversicherung ein. Anders als heute unterstützt sie einen Erwerbslosen nur höchstens 26 Wochen lang. Je nach Familienstand und früherer Lohnhöhe bekommt er lediglich zwischen 35 und 80 Prozent des letzten Nettolohnes.

Was das Klima zwischen Arbeitern und Unternehmern endgültig vergiftet, sind Arbeitskämpfe wie der Ruhreisenstreit 1928. Zunächst läuft der Tarifvertrag dort ganz normal zum 30. Oktober 1928 aus. Gewerkschaften und Arbeitgeber werden sich bei den Tarifgesprächen nicht einig. Der Schlichter, Reichsarbeitsminister Wissell (SPD), setzt mit einem verbindlichen Schiedsspruch die Lohnhöhe fest, die beide Seiten zu akzeptieren haben. Doch die Arbeitgeber entscheiden sich, den staatlichen Schiedsspruch zu umgehen, indem sie alle 230.000 Arbeiter zum 1. November kündigen und dem Arbeitsminister antworten, die von ihm verordneten Löhne seien gegenstandslos, weil gar keine Arbeitsverhältnisse mehr bestünden.

Die Arbeiter bleiben ausgesperrt. Ihre materielle Not bringt jetzt selbst die bürgerlichen Parteien dazu, sich mit den Arbeitern zu solidarisieren. Aber vor Gericht siegen die Arbeitgeber: Ihnen wird das Recht zugestanden, Arbeitsverträge zu kündigen, wann es ihnen passt, und die Arbeiter so zu zwingen, ihre Lohnvorstellungen zu akzeptieren. Dieser Verteilungskampf treibt die Arbeiter bei den nächsten Reichstagswahlen zu den radikalen Parteien: Denn der demokratische Staat hat in ihren Augen keine Autorität mehr – er kann sie nicht vor der Willkür der Unternehmer schützen. Mit der wirtschaftlichen Macht des Stärkeren können die Unternehmer Recht umgehen. Wirtschaft und Demokratie sind in der Weimarer Republik noch nicht miteinander versöhnt. Das Arbeitsrecht verdient schon 1930 seinen Namen nicht mehr, Lohnabbau ist die Regel. Deswegen ist später der Widerstand gegen Nazi-Willkür und Zwang im Arbeitsleben so schwach: Der Rechtsstaat ist schon vor der »Machtergreifung« aufgehoben worden.

Der Kondratieffabschwung begräbt auch das politische System unter sich. Seit 1928 regiert eine große Koalition, die ein breites Spektrum umfasst: angefangen von der SPD über das Zentrum, die Bayerische Volkspartei und die Deutsche Demokratische Partei bis hin zur rechten Deutschen Volkspartei. Damit sitzen in einem Kabinett die Interessensvertreter der Arbeitgeber (DVP) denen der Arbeiter gegenüber (SPD). Der wirtschaftliche Verteilungskampf erreicht die Regierungsparteien, als die Arbeitslosigkeit ansteigt. Die Arbeitslosenversicherung ist nur für 500.000 Menschen konzipiert. Da reichen die drei Prozent vom Bruttolohn nicht mehr, welche die Beschäftigten und die Arbeitgeber paritätisch bezahlen. Die SPD fordert schon im ersten Halbjahr, den Beitrag zur Arbeitslosenversicherung um einen Prozentpunkt zu erhöhen, aber die Arbeitgeber wollen nicht – sie müssten schließlich wie heute davon die Hälfte an Lohnkosten zusätzlich zahlen. Durch einen Kompromiss – der Beitrag steigt nur auf 3,5 Prozent – kann Stresemann seine DVP dazu überreden, sich der Stimme zu enthalten.

Nachdem das amerikanische Kapital aus Europa abfließt und immer mehr Fabriken dichtmachen, reicht der zusätzliche halbe Prozentpunkt auch nicht mehr aus. Wieder versucht die Arbeitgeberpartei ihre Klientel davor zu bewahren, etwas von den wachsenden Sozialausgaben übernehmen zu müssen. Viele von ihnen erwirtschaften zugegebenermaßen angesichts der sich beschleunigenden Rezession sowieso schon Verluste, müssten bei höheren Lohnkosten, zu denen die Sozialbeiträge zählen, noch mehr Arbeiter entlassen. Diesmal, im Frühjahr 1930, setzt sich die DVP durch: Die Koalitionsmehrheit hebt die Arbeitslosenversicherung auf vier Beitragsprozente an, doch die Erhöhung wird allein aus der Lohntüte der Arbeiter finanziert. (Das ist derselbe Konflikt, der heute um die Krankenkassenbeiträge geführt wird: Die Unternehmer wollen nicht ständig Beitragserhöhungen hinnehmen, die sie zur Hälfte bezahlen müssen. Angesichts des fünften Kondratieffabschwungs und steigender Krankheitskosten ist es vorprogrammiert, dass sich der Konflikt von 1930 sehr bald wiederholt.)

Die SPD-Fraktion kämpft gegen das Gesetz und begeht einen für Deutschland verhängnisvollen Fehler: Um bei ihren Wählern nicht noch unglaubwürdiger zu werden und sie an die Kommunistische Partei zu verlieren, schmeißt sie die Verantwortung hin und verlässt die Koalition. Die Bevölkerung hat die instabilen demokratischen Regierungen satt. Viele begrüßen es, dass ab jetzt diktatorisch regiert wird: Reichspräsident Paul von Hindenburg ernennt im März 1930 Heinrich Brüning zum Reichskanzler. Der regiert nach Paragraph 48 der Reichsverfassung per Notverordnung unabhängig vom Parlament und ist allein gegenüber dem Reichspräsidenten verantwortlich, der längst unter dem Einfluss eines kleinen Rechtsaußen-Zirkels steht.

Perspektivlose Wirtschaftspolitik

Das Land erstarrt, immer weniger wird produziert, gebaut, unternommen. Es ist kein Ende in Sicht: Steuereinnahmen brechen weg, mit der Not steigen die Sozialausgaben, Reparationen werden nicht mehr bedient. Brüning will zuerst den Staat wieder stabilisieren, also den Haushalt ausgleichen und die Neuverschuldung verringern. Er kürzt die Staatsausgaben, stellt den Sozialwohnungsbau fast ein, kürzt Löhne und Beamtenbezüge. Die zusätzlichen Steuern, die er erhebt, lehnt der Reichstag zwar ab. Aber Brüning setzt sie per Notverordnung durch und lässt Hindenburg den Reichstag auflösen. Die Neuwahlen im September 1930 werden zu einem triumphalen Aufstand der politisch Verantwortungslosen: Fünf Millionen bisherige Nichtwähler steigern die Zahl der NSDAP-Reichstagsmandate von 12 auf 107. Nachdem damit das Parlament völlig funktionsunfähig geworden ist, regiert Brüning weiter an ihm vorbei per Notverordnungen. Wegen der undemokratischen Verhältnisse zieht das Ausland noch mehr Kapital ab; eine weitere, sehr starke Welle der Wirtschaftskrise erfasst Deutschland.

Die Kaufkraft kollabiert, immer weiter beschleunigt sich der Preisverfall und führt zur Deflation – Waren werden immer billiger, Geld – das nur wenige haben und dann auch nur wenig davon ausgeben – wird immer mehr wert. Als erste große Banken ihre Zahlungen einstellen – am 13. Juli 1931 bricht die Darmstädter- und Nationalbank zusammen und reißt einige andere Kreditinstitute und Firmen mit sich – stürmen die Sparer panisch in die Filialen und wollen ihr Geld abheben. Alle Banken, Sparkassen und Börsen werden vorübergehend geschlossen. Im Winter 1931/​32 sind über sechs Millionen Deutsche arbeitslos (ohne verdeckte Arbeitslosigkeit wie Frauen oder jene, die auf den elterlichen Bauernhof zurückkehren können). Nur noch 7,6 Millionen arbeiten als Vollbeschäftigte, 5,2 Millionen sind Kurzarbeiter. Mit saisonaler Arbeitslosigkeit hat das nichts mehr zu tun: Selbst im Sommer 1932 bleiben über fünf Millionen gemeldet.

 

Zumindest kurzfristig geht das wirtschaftspolitische Konzept Brünings nicht auf, den Staat zu stabilisieren. Hätte ihm damals jemand die Kondratiefftheorie erklärt, er hätte ruhig Schulden gemacht, weil im tiefsten Abschwung keine Inflation droht. Er hätte das Geld nicht für Sozialversicherung und Konsuminvestitionen ausgegeben, sondern in die Infrastruktur des nächsten Auto-Kondratieffzyklus gesteckt. Heute gilt Brüning vielen als ein Hauptschuldiger, der damals den wirtschaftlichen Zusammenbruch beschleunigt.

Doch aus der Sicht der später Geborenen fällt es leicht, eine keynesianische Wirtschaftspolitik zu empfehlen, wie sie in dieser historischen Situation entsteht: Brüning hätte sich demnach antizyklisch verhalten, also mehr Staatsaufträge vergeben und mehr Geld in Umlauf bringen müssen, um den Käuferausfall auszugleichen und dann im Aufschwung wieder Geld zurückzulegen. Doch was in der Theorie einleuchtet – antizyklisch zu handeln –, ist zugegebenermaßen völlig unmöglich, wenn es um Zyklen geht, die ein halbes Jahrhundert umfassen. Auch jetzt wäre es schwierig, eine antizyklische Finanzpolitik zu betreiben, wenn wir 20 Jahre Krise vor uns haben. Aus der Sicht der Zeitgenossen, die in der gigantischen Inflation nach dem Ersten Weltkrieg ihr Familienvermögen verloren haben, ist Brünings rigide Wirtschaftspolitik dagegen eher verständlich. Sie ist die kulminierte, auf einen Zeitpunkt konzentrierte Wucht des Abschwungs.

Auf den Straßen führen fast alle Parteien einen Bürgerkrieg, besonders SA und Frontkämpferbund der KPD. Als Brüning die SA verbieten und ostelbische Großgüter an Kleinbauern verteilen will, wird er vom Reichspräsidenten – beziehungsweise von der Gruppe, die über den verkalkten Greis inzwischen bestimmt – entlassen. Nach den Kurzzeit-Kabinetten Papen und Schleicher rutscht Hitler die Macht kampflos in den Schoß (von wegen »Machtergreifung«), weil sich alle anderen gesellschaftlichen Kräfte verbraucht haben. Es sind vor allem die alten Branchen um Kohle und Stahl, die zu Hitlers Förderern und Finanziers gehören. Unternehmer der neuen Branchen wie Siemens und IG Farben zeigen sich bis 1933 reserviert. Denn diese wissensintensivere New Economy hat Angst, dass der Wissenschafts- und Entwicklungsstandort Deutschland geschwächt wird, wenn die Nazis jüdische Wissenschaftler vertreiben (beziehungsweise ermorden).

Über Hitler werden alte Leute in den 1960ern und 1970ern behaupten, er sei gar nicht so schlecht gewesen, schließlich habe er die Autobahnen gebaut. Damit haben sie zum einen Unrecht, denn schon seit 1928 wirbt die Zeitschrift »Autobahn« dafür, dieses gigantische Vorhaben umzusetzen. Hitler brauchte 1933 nur noch die Baupläne umzusetzen, die deutsche Vorgängerregierungen schon seit 1927 gerade fertiggeplant hatten. Das Deutsche Reich hätte auch ohne Hitler die Autobahnen gebaut. Recht haben die alten Leute im Deutschland der 1970er aus der Sicht der Kondratiefftheorie in einem Punkt: dass sie die Weltwirtschaftskrise nur deshalb überwunden haben, weil sie so massiv in den nächsten Strukturzyklus investierten.

4. Kondratieffaufschwung Freie Straße für das Individuum

Eisenbahnen halten eben nicht direkt vor der eigenen Haustür oder der eines Geschäftspartners. Deswegen wächst das Bedürfnis, Menschen und Güter individuell transportieren zu können. Am Höhepunkt des vierten Kondratieffs wird dann jeder sechste Beschäftigte in den USA und in Deutschland in der Automobilindustrie arbeiten, Mitte der 1990er Jahre wird eine halbe Milliarde Autos über den Globus fahren. Doch zu Beginn gibt es dagegen Widerstand wie bei jeder Basisinnovation: Alte Protokolle der Industrie- und Handelskammer diskutieren, die Zahl der Autos in München auf 100 Stück zu begrenzen – die seien laut, gefährlich, würden stinken und Platz kosten. Zur Jahrhundertwende erliegt man wie zu jeder Zeit dem Irrtum, die Gegenwart auf die Zukunft hochzurechnen, und schätzt, es werde nie mehr als 40.000 Autos in Deutschland geben. Denn damals benötigt jedes Auto einen Ingenieur zur Wartung, und zu dieser Zeit gibt es eben nur 40.000 Ingenieure in ganz Deutschland. Es ist ein absolutes Luxusgut. Solange das Auto das Spielzeug reicher Leute ist, kann es sein Beschäftigungspotenzial nicht entfalten.


Erst die Kombination von vielen Innovationen bringt das neue technologische System in Schwung: die Kombination aus effizienteren Verbrennungsmotoren, synthetischem Gummi, Fließbandproduktion und einer Reihe von Verbesserungen, mit denen es endlich gelingt, aus Rohöl Benzin und Diesel zu raffinieren – billiger, in großen Mengen und höherer Explosivität. Als ein weites Straßennetz mit glatten Fahrbahnen das Kopfsteinpflaster in den Städten und staubig-lehmige Landstraßen ersetzt, steigt der persönliche Nutzen des Autos, lohnen sich höhere Stückzahlen, sinkt der Preis, werden die Autos dank Lernerfahrungen in der Praxis immer besser, können sich immer mehr Menschen ein Auto leisten.

Die neue Industrie beschäftigt alle anderen Branchen63: Sie wird zum größten Abnehmer von Glas, Stahl und Gummi. Bankangestellte errechnen die Rate für den Autokredit, Makler verkaufen eine Autoversicherung. Die Elektroindustrie baut Maschinen, die Autoteile herstellen. Straßen müssen gebaut, das dafür nötige Material wie Teer geliefert werden. Zur Infrastruktur gehören Raffinerien und Tankstellen zumindest in jeder größeren Stadt. Rechtsanwälte und Richter spezialisieren sich auf Verkehrsunfälle, es gibt sogar eine eigene Verkehrspolizei. Fahrlehrer bringen Achtzehnjährigen das Fahren bei, die Führerscheinstelle im Landratsamt und die Kfz-Zulassungsstelle beschäftigen immer mehr Beamte und Angestellte – das sind Arbeitsplätze, die es vorher nicht gibt und die auch keine früheren verdrängen.

Innovation für das Liebesleben

Wie einschneidend das Auto alle Lebensbereiche verändert, erschließt sich einem, wenn man sich vorstellt, wie Kinder vorher aufwachsen, als ihre Eltern noch ganz nahe an einer Fabrik wohnen müssen – zwischen Hinterhofindustrie und dunklem Treppenflur, wo sie trotz Verbotes spielen. Sie erreichen weder Sandkasten noch Sportplätze, Schwimmhallen, Parks und Wälder. 1905 ergibt eine Umfrage in Berliner Volksschulen, dass von 100 Kindern 70 keine Vorstellung vom Sonnenaufgang haben, 75 noch nie einen lebendigen Hasen gesehen haben, 49 keinen Frosch kennen und 87 nicht wissen, wie eine Birke aussieht.64

Der neue Kondratieffzyklus ist daher auch eine soziale Innovation und organisiert die gesellschaftlichen Strukturen neu – sogar das Liebesleben der Jugendlichen: Bis zu diesem Zeitpunkt lassen gleiches Arbeiten, gleiches Wohnen und Essen, gleiches Beten und Feiern in überlieferten Formen wenig Spielraum für eigene Gestaltung. Eine eigene Familie kann nur gründen, wer Eigentum und eine Erwerbsquelle besitzt, die einen umfassenden eigenen Hausstand ermöglicht – und das sind nur wenige Gewerbe und Berufe. Deshalb bleibt bis ins 19. Jahrhundert hinein ein hoher Anteil der Bevölkerung unverheiratet, weil er gezwungen ist, in einem größeren Haushalt zu wohnen und zu arbeiten. Individualisierung ist da nicht möglich. Der vierte Kondratieff hebt die Produktivität auf ein Niveau, das es erlaubt, sich von allen anderen unabhängig zu machen und materiell selbständig zu werden. Was im 19. Jahrhundert schleichend begonnen hat, kann sich nun voll entfalten.