Kein Vergessen

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2. Kapitel

Wie erstarrt stand er auf seiner Dachterrasse in unmittelbarer Nähe zum Tiergarten und blickte mit leerem Gesichtsausdruck auf die Wolke. Es war nur ein flüchtiger Gedanke, der sofort wieder verschwunden war. Jetzt war die Wolke, die das Aussehen eines Löwenkopfs hatte, gerade im Begriff sich vor die Sonne zu schieben.

Von der Straße drangen die Geräusche der Spaziergänger, die an der Spree entlang spazierten, bis hinauf zur Terrasse. Dazu kam das Gemurmel der Besucher, die auf dem Restaurantschiff ihren Kuchen aßen und dazu ihren Kaffee tranken oder ein verspätetes Frühstück einnahmen.

Seinen fünfundvierzigsten Geburtstag hatte er gerade hinter sich gebracht, den er wie immer nicht gefeiert hatte, nein das war falsch, vor dem er regelrecht geflüchtet war. An seinen Schläfen konnte man bereits die ersten vereinzelt ergrauten Haare sehen, trotzdem zeigten sich in seinem Gesicht fast keine Falten. Die Einkerbungen an der Stirn, die im Laufe der Jahre immer tiefer geworden waren, beruhten auf anderen Ursachen.

Wie heute Morgen trug er immer noch seinen Jogginganzug, an dem nur wenige Schweißflecke zu sehen waren, die auf sportliche Betätigung schließen ließ. Er hatte es die ganze Zeit geahnt, die Zeit heilt keine seelischen Wunden, sie verdeckt nur, was nicht vergessen werden kann.

Trotz seines Alters war er körperlich fit, bei einer Größe von einem Meter fünfundachtzig wog er nur achtundsiebzig Kilo. Seine Fitness hatte er seinen ehemaligen Kollegen in New York zu verdanken, deren Fitness- und Laufwahn ihn langsam auch dazu animiert hatte es ihnen gleichzutun.

Fast alle aus seinem ehemaligen Büro liefen jeden Sonntag mehrere Kilometer durch den Central Park, dabei war es gleichgültig, welchem Geschlecht man angehörte. Obwohl noch neu in dem Büro versuchten ihn alle zu überreden mitzulaufen. Er trotzte ihren Überredungskünsten, weigerte sich standhaft, bei diesem wahnwitzigen Treiben mitzumachen, seinem Körper mit diesen Anstrengungen Gewalt anzutun.

Es war schließlich Rachel, die ihn überredet hatte mitzumachen, es zu versuchen, um auch Teil ihrer Gemeinschaft zu werden. An diesen sonntäglichen Läufen teilzunehmen sollte neben dem Gruppenerlebnis auch das Miteinander im Büro fördern. Dies war eines der Hauptargumente, die ihm jeder auf andere Weise einzureden versuchte.

Sie waren immer in einer Gruppe von bis zu fünfzehn Personen gelaufen und sie waren fit. Bei Gott waren die fit, wenn er daran dachte, wie schnell er bei seinen ersten Versuchen außer Puste war. Dann musste er eine Pause einlegen, wobei er sich auf die Treppen am Ostufer des Jacqueline Kennedy Onassis Reservoirs setzte, die sich zwischen Guggenheim und Jüdischem Museum befanden.

Wieder erholt, wartete er, bis die Gruppe erneut vorbeikam, um zu einer weiteren Runde anzusetzen, damit er sich wieder anschließen konnte. Langsam bekam er die Kondition, um mit den anderen mitzuhalten, merkte dabei, dass er mit dem Laufen auch vor Problemen weglaufen konnte, woraufhin er sein neues Hobby immer exzessiver betrieb.

Bald konnte er mit den besten Läufern der Gruppe mithalten, sodass sich alle über seine Wandlung wunderten, sollte er vom Saulus zum Paulus geworden sein. Erneut war es Rachel, die ihn ansprach, sie hatte die Vermutung, dass er vor etwas davonlaufe, trotzdem fand sie ihn so attraktiv, dass sie immer häufiger seine Nähe suchte. Seine negativen Erfahrungen mit Beziehungen, die bisher immer gescheitert oder katastrophal verlaufen waren, führten dazu, dass er, so weit es möglich war, auswich. Er wollte mit ihr weder über seine Probleme reden, noch wollte er ihr sein Herz ausschütten.

Den Job als Art Director bei der Werbefirma in New York hatte genau er aus diesem Grunde angenommen. Es war mal wieder eine Beziehung gescheitert, sodass er sich entschloss, eine gravierende Änderung in seinem Leben vorzunehmen. Ein paar Jahre zuvor war er von einer amerikanischen Firma angesprochen worden, ob er nicht wechseln, nach New York kommen wolle.

Er rief an, sein ehemaliger Gesprächspartner war immer noch da, hatte sogar Karriere gemacht. Als er jetzt erfuhr, dass sein Werben, wenn auch mit Verzögerung, Erfolg gehabt hatte, lud er ihn umgehend ein, seine Zelte in New York aufzuschlagen.

Sie machten ihm die Eingewöhnung leicht, abwechselnd luden sie ihn an den Wochenenden in ihre Familien ein, damit er diese nicht allein verbringen musste. Er lernte dabei die amerikanische Herzlichkeit aber auch die Oberflächlichkeit kennen, alles, was nicht Amerika direkt oder indirekt betraf, war unwichtig, aber er gewöhnte sich daran, es lenkte ihn ab. Diese unbeschwerte Form der Kreativität, die in Deutschland immer etwas gezwungen wirkte, machte im Spaß, ja sie befeuerte in regelrecht.

Sie mochten ihn, „the nice German boy“, obwohl er eher introvertiert war, sich Häufiger als gewünscht zurückzog, war er höflich und nett. Trotzdem hielt seine vor langer Zeit errichtete Mauer allen Abrissversuchen seiner neuen Kollegen stand. Er wehrte sich auch lange standhaft den Versuchen seiner Kollegen, ihn in die sonntägliche Laufbewegung einzubinden. Nun hatten sie ihn weich gekocht, er hatte zugesagt, es wenigstens zu versuchen.

Nachdem er sich entschlossen hatte es versuchen zu wollen, ließen sie nicht mehr locker. Rachel wurde abkommandiert ihn an die Hand zu nehmen und dafür zu sorgen, dass ihm die benötigte Ausstattung auch bis Sonntag zu seiner Verfügung stand.

Aus diesem Grund verabredeten sie sich am Samstag um zehn Uhr vormittags an der Metrostation Fifth Avenue / 53rd Street. Von da wollten sie dann gemeinsam die Fifth Avenue bis 6 East 57th Street laufen. Dort würden sie auf die Auswahl treffen, die dafür sorgte, dass der nächste Tag mit dem erforderlichen Equipment stattfinden konnte.

Sie trafen sich um zehn Uhr vor der Metrostation, wobei er Rachel beinahe nicht erkannt hatte, als sie in ihrer sommerlich leichten Bekleidung auf ihn zukam. Sie hatte die sportliche Variante gewählt, die er bisher noch nicht kannte, dabei konnte ihr Shirt allerdings unter sehr heiß in doppelter Bedeutung subsumiert werden. Augenscheinlich hatte sie auch vergessen, einen BH unter dem bisschen T-Shirt unterzubringen.

Sie sprach ihn an, es war die Stimme, die er zuerst erkannte, dann riss er seine Augen auf, was sie lächelnd zur Kenntnis nahm. Im Gegensatz zum Büro hatte sie auf jegliche Farbe im Gesicht verzichtet, außerdem trug sie ihr schulterlanges Haar offen. Diese Wirkung von Natürlichkeit mit einem Schuss Sommersprossen faszinierte ihn augenblicklich.

Sie hakte sich bei ihm unter, zeigte in die Richtung, die sie die Fifth Avenue entlang gehen mussten. Auf seine Frage, in welches Sportgeschäft sie ihn entführen wollte, zeigte sie nur auf ihre Schuhe, deren Herkunft durch das Logo bestimmbar war.

Zielbewusst führte sie ihn im Niketown zu den Schuhen, wobei sie ihm erklärte, alle anderen Klamotten, die er noch benötigen würde, wären nicht so wichtig, das Wichtigste sind die Laufschuhe.

Sie fragte nach seiner Größe, dann wählte sie ein Paar aus und brachte diese zum Probieren. Er versuchte noch zu lesen, was auf den Schuhen stand, irgendetwas mit Max Air aber genau hatte er es nicht lesen können, als sie ihn nachdrücklich auf einen Stuhl drückte.

Er wusste nicht genau, was hier geschah, sie saß vor ihm auf einem kleinen Hocker, hatte seinen Fuß genommen dann einfach auf einer leicht schrägen Abstellfläche abgestellt. Verwundert blickte er zu wie sie begann, seinen linken Schuh auszuziehen, wobei sie ihren Kopf in den Nacken legte, um ihn von unten anzulächeln.

Er ließ es geschehen, es war ja auch nicht unangenehm, außerdem schien es ihr Freude zu bereiten. Nachdem sie ihm den Laufschuh angezogen hatte, sollte er sagen ob er zu groß oder zu klein sei oder ob dieser sogar passen würde. Er stellte sich auf den Fuß, wippte ein paar Mal um den Sitz zu testen, dann meinte er, dass er wunderbar an seinem Fuß sitzt.

Er musste sich erneut setzen damit sie den zweiten Schuh anziehen konnte dann führte sie ihn zu einem Laufband. Hier sollte er probeweise seine erste Meile laufen, wie sie lächelnd hinzufügte, dann schaltete sie ein. Er hatte noch nie auf so einem Teil gestanden, beinahe wäre er bei seinem ersten Versuchen auf der Nase gelandet. Es musste wohl sehr lustig ausgesehen haben, wie er versuchte einen Sturz zu vermeiden, denn Rachel, aber auch ein paar andere Zuschauer bogen sich vor Lachen. Er machte gute Mine zu dem verunglückten Auftritt, sie konnten ja nichts dafür, dass er sich etwas ungeschickt anstellte.

Er hatte, trotz seines Missgeschicks festgestellt, dass die Schuhe etwas zu klein waren, was er jetzt loswerden musste, vielleicht konnte er ihren Lachflash damit unterbrechen. Sie nickte, sich die Tränen aus den Augenwinkeln wischend führte sie ihn wieder durch die grinsende Meute zu seinem Stuhl.

Lachend erklärte sie ihm, dass sie zuerst noch Laufsocken besorgen wolle, um dann mit größerer Schuhkollektion wiederzukommen. Immer noch lachend verschwand sie aus seinem Gesichtsfeld, während er etwas peinlich berührt versuchte, die Schnürbänder zu öffnen, um die Schuhe loszuwerden.

Etwas beruhigt aber immer noch mit Lachfältchen um die Augen kam sie zurück und streichelte ihm über die Wange. Sorry, es sah so lustig aus, dabei sah sie ihn so unschuldig an, dass er ihr nicht böse sein konnte. Sie erklärte ihm, dass die Laufsocken keine Nähte hätten, deshalb könnten sie auch keine Blasen oder sonstige Verletzungen beim Laufen verursachen.

Jetzt sollte also das Ganze noch einmal erfolgen dieses Mal aber mit den Laufsocken. Bevor er reagieren konnte, hatte sie bereits seinen Fuß in ihren Händen und zog ihm seine Strümpfe aus. Es war ihm unangenehm, gottseidank hatte er heute Morgen ausgiebig geduscht, dabei auch seine Füße nicht vergessen.

 

Es schien ihr nichts auszumachen, manchmal hatte er das Gefühl sie würde darüber streicheln, sie blickte ihn jetzt auch nicht mehr an. Nachdem er beides an den Füßen hatte, ging es erneut zu dem Laufband, wo es sehr viel besser lief als beim ersten Mal.

Es war alles in Ordnung, alles passte, er war nicht gestolpert, allerdings war er bereits nach den paar Schritten auf dem Laufband außer Atem. Sie gab ihm die Hand um ihm herunter zu helfen dabei meinte sie nachdenklich, an Deiner Kondition werden wir wohl noch etwas intensiver arbeiten müssen. Wie auch immer, jetzt gingen sie erst einmal zu ihrem Platz zurück, er wollte wieder seine normalen Schuhe an den Füßen spüren.

Das sollte sich allerdings als undurchführbar erweisen, die Schuhe waren weg. Wer zum Teufel klaute gebrauchte Schuhe. Sie fragten sich durch das umstehende Personal, alle zuckten nur mit den Schultern und drückten ihr Bedauern aus. Nicht ohne zu vergessen darauf hinzuweisen, dass man selbst auf seine Schuhe aufpassen muss.

Sie war geknickt, es war ihr anzusehen, sie hätte es eigentlich wissen müssen. Er beruhigte sie, es war kein Weltuntergang, er brauchte nun eben noch ein Paar Schuhe, damit er wechseln konnte.

Mit den Sportschuhen, die er jetzt an den Füßen trug, sowie den anderen dringend erforderlichen Laufutensilien gingen sie zur Kasse, wo er der Kassiererin seine Kreditkarte reichte. Er blickte etwas verwundert auf, als die Kassiererin ihm sagte, in welcher Höhe sie diese belasten würde. Als er unterschrieb, standen siebenhundertachtundvierzig Dollar und fünfzig Cent auf dem Beleg, den er achselzuckend einsteckte.

Rachel war wegen seiner Schuhe immer noch unangenehm berührt, als sie erneut ansetzen wollte, um sich zu entschuldigen, unterbrach er sie. Erstens hast Du die Schuhe nicht entwendet, Du brauchst Dich deshalb auch nicht schuldig fühlen. Eigentlich stehe ich in Deiner Schuld deshalb lade ich Dich, als Belohnung für Deine kompetente Beratung, zum Kaffee ein. Jetzt war er es der sie anlächelte, nimm es Dir nicht zu Herzen, es waren wirklich nur Schuhe ohne goldene Schnürbänder oder sonstige Besonderheiten.

Er hatte sich bereits am Tag der Entscheidung vorgenommen, Rachel als Belohnung für ihre Mühe, die sie mit ihm haben würde, zum Lunch einzuladen. Den Tisch im Le Bernardin hatte er für den frühen Nachmittag bestellt, es sollte eine Überraschung für sie sein. Er kannte die Gegend ein bisschen, da er an manchen Wochenenden hier spazieren gegangen war, er wusste also, dass das Restaurant etwa eine halbe Meile von hier entfernt lag. Er hatte sogar einen kleinen Umweg eingeplant, da er mitbekommen hatte, dass nicht an allen Straßen Fußwege vorhanden waren.

Die Überraschung war gelungen, sie hatte zwar schon von dem Restaurant gehört, hatte aber noch nie darin gegessen, da es ihr zu teuer war. Etwas hatte er vergessen zu berücksichtigen, die Kleidung war nicht angemessen aber scheinbar kein Problem, da man ihnen Jackett und Blazer zum Überziehen anbot.

Sie aßen gut und lange, da sie über vieles redeten, dabei fühlte sie, wie sie dieses angenehme Gefühl des Neuen des sich Kennenlernens genoss. Nach mehr als zwei Stunden machten sie sich gemeinsam auf den Weg zur Metro, wo sie sich gegenseitig für die Wohltaten des jeweils anderen bedankten. Nachdrücklich wie sie ihn auf den nächsten Tag hin, damit er die Verabredung zu ihrem ersten Lauf nicht vergesse.

Sie fuhren getrennte Wege in ihre jeweiligen Wohnungen, als sie das gemeinsame Mittagessen Revue passieren ließ, extrahieren wollte, was sie Neues erfahren hatte. Dabei musste sie feststellen, dass sie nicht viel mehr als vorher wusste. Er hatte sie immer animiert, von sich zu erzählen. Dabei war er so geschickt vorgegangen, dass sie die ganze Zeit geredet hatte, während er sich auf die Rolle des Zuhörers beschränkte. Er war so clever, so verdammt clever, aber jetzt erst recht dachte sie.

Ihm war nicht entgangen, dass sie ihre Kleidung auch deshalb so gewählt hatte, um ihn auf ihre Reize aufmerksam zu machen. Dazu hätte es ihres sexy Outfits nicht bedurft, er fand sie auch so sehr anziehend. Aber er wusste auch, dass jede Beziehung früher oder später in einem Fiasko enden würde. Deshalb fragte er sich häufig, ob er sich oder auch seinen Partnerinnen diese Pein nicht ersparen sollte.

Letztendlich würden erneut zwei Personen verletzt auf der Strecke bleiben, er war inzwischen daran gewöhnt aber wollte er dies wirklich auch Rachel antun. Seine Tendenz ging eindeutig in Richtung Nein, er mochte sie, er würde, um ihr nicht wehzutun, wieder etwas mehr Distanz wahren, versuchen ihr aus dem Weg zu gehen.

Der erste Lauf sollte beginnen, er war pünktlich zum Treffpunkt erschienen, wobei er das am Vortag erworbene Equipment vorführte. Erste anerkennende Pfiffe erklangen, zustimmende Kommentare waren zu vernehmen auch die ersten Lobreden auf Rachel erklangen, der diese unglaubliche Veränderung des German Boy zugeschrieben wurde. Jetzt würde alles wie von selbst gehen, er brauche seinen Beinen nur freien Lauf lassen, dann würde die Strecke in Rekordzeit zurückgelegt werden.

Leider war es doch nicht so einfach, nach etwa zwei Kilometern fing er so an zu pumpen, dass er mit rotem Gesicht stehen blieb. Mit schmerzverzerrtem Gesicht hielt er sich die stechende Seite, damit sich alles wieder beruhigen konnte. Er rief den anderen zu, dass er eine Pause einlegen wolle, bei der nächsten Runde aber wieder dabei sein würde.

Rachel erbot sich, bei ihm zu bleiben, ihm zu helfen, was er vielleicht zu barsch zurückwies. Er wollte, er musste sie auf Abstand halten, bevor es zu spät war. Er setzte sich auf die Treppen am Ostufer des Reservoirs und wartete, dabei blickte er über den See, versuchte ruhig zu atmen, wie seine Kollegen es ihm vorher gezeigt hatten. Als die Gruppe erneut auftauchte, hatte er sich so weit erholt, dass er wieder mit einsteigen und mitlaufen konnte.

Die Kondition kam langsam aber stetig, jeden Sonntag versuchte er, aufs Neue bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit zu gehen. Nach vier Monaten war er bereits so fit und konditionell so stark, dass er mit den Cracks in der Gruppe mitlaufen konnte.

Dies ging so weit, dass er weiter im Central Park lief, während die anderen bereits auf dem Weg nach Hause waren. Rachel hatte sich etwas zurückgezogen, sie wusste nicht, was sie falsch gemacht hatte, aber es musste etwas Schlimmes gewesen sein, sonst hätte er nicht so reagiert. Sie war aber immer mehr davon überzeugt, dass er vor etwas davonlief, worüber er nicht reden wollte.

Währenddessen drehte er unermüdlich seine Runden in der Hoffnung einer baldigen Erschöpfung. Mochten andere doch annehmen, dass er vor etwas davonlief, es war ihm egal, er hatte festgestellt, dass er die Erschöpfung suchte, ja sogar brauchte. Manchmal überkam ihn das Gefühl oder war es bereits Gewissheit, dass die Ausschüttung der Endorphine ebenso brauchte wie die Erschöpfung. Er war wie ein Junkie, der begierig auf seinen nächsten Schuss wartete, diesen regelrecht herbeisehnte.

Er lief, im Sommer wie im Winter, egal bei welchem Wetter er war mit seinen Max Air unterwegs, inzwischen hatte er bereits das zweite Paar. Er lief vorbei an den acht Seen, an Gedenkstätten wie Strawberry Fields. Hier hatte neunzehnhundertfünfundachtzig Yoko Ono einen kleinen Bereich im Central Park John Lennon gewidmet, der am achten Dezember neunzehnhundertachtzig ermordet worden war.

Er hatte davor gestanden vor dem kreisrund gestalteten Mosaik aus schwarzen und weißen Steinchen, in dessen Zentrum, in Anlehnung an seinen vielleicht berühmtesten Titel Imagine zu lesen stand.

Und er stellte sich vor, wie sein Leben verlaufen wäre, wenn er in Strawberry Fields gewesen wäre, jenem Waisenhaus bei Liverpool. In dessen Garten Lennon gespielt hatte, nicht an dem Ort, den er immer noch als Belastung mitschleppte. Er freute sich aber auch über The Gates of Christo, an der Installation der siebentausendfünfhundert Tore aus safrangelben Stoffbahnen. Er hatte sie alle durchlaufen, sich an ihnen erfreut, inzwischen war der Central Park zu seinem zweiten Zuhause geworden.

Im Büro machten sich einige schon Vorwürfe was sie mit ihrem Vorschlag ausgelöst, was sie damit losgetreten hatten. Trotz, oder vielleicht auch deswegen, seiner Kreativität taten diese Strapazen, diese immerwährenden Erschöpfungszustände an den Wochenenden keinen Abbruch. Es bewirkte eher das Gegenteil, er schien nach solch einem Wochenende zu neuen Höchstleistungen aufzulaufen.

Es hatte den Anschein, als wären seine Gedanken fokussiert, nichts konnte ihn ablenken, als hätte er beim Laufen unnützen Ballast abgeworfen. Immer wenn gedankliche Flaute in der Agentur eintrat, die Ideen ausblieben, fragte ihn der Leiter der Agentur, ob er nicht den Central Park unsicher machen wolle.

Er war jetzt fast vierzig Jahre und fühlte zum ersten Mal in seinem Leben so etwas wie Zufriedenheit, seine Gedanken schweiften nicht mehr ausschließlich in die Vergangenheit. Rachel, die diese Entwicklung mit zwiespältigen Gefühlen betrachtete, ahnte eine dunkle Seite, die irgendwann ausbrechen würde. Sie fragte sich verzweifelt, was sie tun, wie sie helfen, ob sie das Unglück verhindern könne.

Sie sprach mit niemandem, alle hätten sie ausgelacht, hätten ihre Bedenken kleingeredet, vielleicht hätten sie ihr auch unterstellt sie sei sauer, weil sie nicht bei ihm landen konnte. Es gab durchaus Tuscheleien und Gerüchte, zwischen ihr und Matthias sei irgendetwas im Gange, auf alle Fälle wäre sie scharf auf ihn.

Diese Zufriedenheit, sowie das Fehlen bestimmter Auslösemechanismen führten dazu, dass die Hoffnung wuchs endlich alles überwunden zu haben. Es war endlich vorbei, es war vorbei, es war vorbei, es war endlich vorbei, das Leben war also auch für ihn wieder lebenswert. Es hatte lange gedauert, aber wenn jetzt alles vorbei war, dann wollte er verzeihen und vergessen.

Rachel nahm diese innere Zufriedenheit, diese neue Gelassenheit als Erste wahr, was auch nicht besonders verwunderlich war, sie hatte ihn auch am meisten und am intensivsten beobachtet. Für Sonntag nahm sie sich deshalb etwas Besonderes vor, sie wollte später zu der Laufgruppe dazustoßen, erst bei der Vierten von üblicherweise fünf Runden mitlaufen.

Nach Abschluss und Verabschiedung der Gruppe wollte sie Matthias bitten, ob sie noch etwas mit ihm zusammenlaufen dürfe, sie hoffte, so wieder Zugang zu ihm zu erhalten. Er war zwar die ganze Zeit höflich und zuvorkommend zu ihr gewesen, das war aber nicht, was sie wollte.

Das geplante Zusammentreffen klappte wie vorhergesehen, entgegen ihrer Befürchtung war Matthias bester Stimmung und freute sich zusammen mit ihr zu laufen. Nach weiteren vier Runden merkte er, wie Rachel nach und nach mehr verkrampfte, mit seinem Tempo zu kämpfen hatte. Er beendete die Runde mit ihr, dann erklärte er ihr, dass auch er für heute genug hätte und aufhören wolle.

Sie war extra mit dem Auto gefahren, obwohl sie selbst über keines verfügte. Eine Freundin hatte sich sofort bereit erklärt, ihr das Auto zu überlassen, als Rachel ihr ausmalte, welchen Zweck sie damit verfolgte. Wenn Du den Typ aufreißt, habe ich aber etwas gut bei Dir, sagte diese noch, als sie ihr den Fahrzeugschlüssel in die Hand drückte.

Aus Spaß erwiderte diese, Du darfst die Brautjungfer sein, beide lachten, keine nahm diese Aussage ernst. Nun bot sich die Gelegenheit ihren Trumpf auszuspielen, Du kannst bei mir mitfahren, ich habe übers Wochenende das Auto meiner Freundin. Nicht ganz wahrheitsgemäß fügte sie hinzu, sie ist dieses Wochenende verreist.

Fragend blickte er sie an, was stellte sie sich vor, noch konnte er keinen Vorteil erkennen, aber er konnte sich ja anhören, was sie sich vorstellte. Früher hatten sie sich immer an dem Fahrzeug eines Kollegen umgezogen, danach war er mit der Metro nach Hause gefahren. Seit er länger lief, hatte er seine Route immer so gelegt, dass er an der Metrostation sein Laufen beendete, die drei Stationen nach Hause dann in seiner verschwitzten Laufkleidung fuhr. Am Anfang war es ihm unangenehm, mit der durchgeschwitzten Laufkleidung in der Metro zu fahren, bis er festgestellt hatte, dass andere es ihm gleich taten.

Da seine Wohnung sehr viel günstiger zum Park lag als ihre, hatte sie sich auf alles vorbereitet. Ich kann Dich nach Hause bringen, dafür darf ich bei Dir duschen, Sachen zum Wechseln habe ich dabei, danach könnten wir noch gemeinsam frühstücken. Ist das ein Vorschlag, sie blickte ihn fragend an. Sie war sich sehr wohl bewusst, dass sie bei ihrer Größe den Kopf in den Nacken legen musste, dabei sehr hilflos wirkte, wenn sie ihn entsprechend ansah. Sie kannte diese Wirkung, jetzt setzte sie diese gezielt ein.

 

Er überlegte kurz, OK einverstanden, wenn ich Dich nachher zum Frühstück einladen darf. Sie atmete innerlich erleichtert auf, ungewohnt burschikos aber auch zurückhaltend ging sie darauf ein, indem sie einfach mit „Einverstanden“ antwortete.

In seiner Wohnung angekommen zeigte er auf die Tür des Badzimmers, Du darfst zuerst duschen, ich mach uns einen Kaffee, es kann ja nicht schaden, vorher einen Kaffee zu trinken. Sie nickte, nahm ihre Tasche, dann verschwand sie in dem Badezimmer, sie verschloss die Tür absichtlich nicht, wenn er reinkommen wollte, dann sollte kein Hindernis zwischen ihnen sein. Sie duschte sehr ausgiebig, sie hatte ihre teuerste Duschlotion mitgenommen, danach nutzte sie ausgiebig ihr bevorzugtes Lieblingsparfüm. Es sollte nicht, am sich nicht riechen können, scheitern.

Er hatte keinen Versuch unternommen zu ihr ins Badezimmer zu kommen, das war aber nicht so schlimm. Die Waffen einer Frau konnten in vielfältiger Natur eingesetzt werden, sie war gerade erst am Anfang. Als sie aus dem Bad erschien, wirkte sie dezent in ihrem Outfit, sie hatte gelernt, wie leicht er zu verschrecken war, dieses Mal wollte sie alles richtig machen. Du kannst ins Bad, rief sie in die Küche, wo er an einem Tresen stand und Kaffee trank.

Er trank seine Tasse aus, Kaffee ist fertig in der Maschine, leider habe ich keine Milch, er wusste also, dass sie ihren Kaffee im Büro immer mit Milch trank.

Das macht nichts murmelte sie, konnte sich aber nicht vorstellen, dass er sie noch gehört hatte. Sie nahm sich den Kaffee, dann blickte sie sich um, eigentlich ganz angenehm, auch wenn man auf den ersten Blick sah, dass hier ein Mann allein lebte. Sie öffnete den Kühlschrank, die Vorurteile über Kühlschränke und Männer wurden hier in exemplarischer Art bestätigt. Er war einfach nur leer bis auf einen Joghurt, sie wollte sehen welche Sorte, es war egal, dessen Haltbarkeitsdatum war bereits vor mehr als zwei Monaten abgelaufen.

Sie beschloss, sich die Zeit zu nehmen, Matthias schien ein besonderes Exemplar der Gattung Mann zu sein. Er stand in der Küchentür, die Haare immer noch feucht, nur mit den Händen irgendwie in Form gebracht, mit T-Shirt und Hose. Sie blickte an ihm abwärts, bemerkte, dass er barfuß mit fragendem Blick vor ihr stand.

Wenn sie ihn nicht schon geliebt hätte, so hätte sie sich jetzt spontan in ihn verliebt. Er schien zu warten, dann kam die Frage noch mal, hast Du dir überlegt, wo wir frühstücken wollen. Sie schüttelte den Kopf, nein meinte sie leise, wenn sie recht überlegte, hatte sie keinen Hunger mehr.

Sie wollte doch keinen Fehler machen, sie riss sich zusammen, forsch fügte sie hinzu. Du kennst dich in der Gegend besser aus, wenn man Rückschlüsse auf den Inhalt in Deinen Kühlschrank zieht, dann kennst Du bestimmt alle Cafés in der Gegend.

Ich warne Dich, wenn ich frühstücke dann meist europäisch im Mont Blanc, in die 48th Street.

OK, wird eine neue Erfahrung für mich, lass es uns probieren.

Den Fehler, den sie beim letzten Mal gemacht hatte, wollte sie korrigieren, sie wollte hinter das Geheimnis dieses Mannes kommen, sie würde heute die Fragen stellen. Sie war verwundert, was man doch in Europa so zum Frühstück aß. Gottseidank gab es auch amerikanisches Frühstück, um sich langsam an das Ungewohnte zu gewöhnen, mischte sie aus beiden Kontinenten ein paar Kleinigkeiten. Sie wunderte sich nur, mit welch ungeheuerem Appetit, er die unfassbare Menge an süßen Speisen vertilgte.

Sie redeten über dieses und jenes, über das Büro, die Kollegen dabei versuchte er erneut sie zu animieren von sich zu erzählen. Doch dieses Mal war sie vorbereitet, agierte so, wie er es beim letzten Mal gemacht hatte. Er gab bereitwillig Auskunft über sein Leben in Deutschland, seine berufliche Entwicklung oder die Werbekampagnen, die er geleitet und initiiert hatte.

Allerdings schien es immer einen Bruch zu geben, wenn sie auf frühere Beziehungen eingehen wollte, ihn verdeckt danach fragte. Er wich aus, wollte nicht darüber reden, es schien als hätte es ein Leben davor nicht gegeben. Seine Antworten waren ausweichend, wenn sie weiter insistierte, wurde er abweisend bis zur Unfreundlichkeit.

Nun wusste sie, welche Themen sie tunlichst vermeiden sollte, wenn sie wollte, dass sie sich näherkommen, sie hatte aber auch gemerkt, dass sie sich Zeit lassen musste.

Die nächsten Monate vergingen wie im Flug, sie unternahmen vieles gemeinsam, besuchten Veranstaltungen, gingen in Konzerte. Zu ihrer Verwunderung war er auch an Kunst interessiert wenn sie wieder eine neue Ausstellung in einem weniger bekannten Museum entdeckt. Die Jahreszeiten zogen an ihnen vorbei, mittlerweile hatte sich ihre Beziehung geändert, sie waren Freunde geworden.

Sie hatte inzwischen ein Gefühl entwickelt, welchen Stand seine derzeitige Gefühlslage aufwies, sie hatte gelernt, mit seinen Gefühlsschwankungen umzugehen. Sie wusste, wann sie sich zurückziehen musste, wenn er allein sein wollte und sie spürte, wenn er ihre Nähe und Zuneigung zuließ.

Er war inzwischen seit fast drei Jahren in den USA, im Büro mochten sie ihn, es schien als führe er ein zufriedenes, ein ausgeglichenes Leben. Sie wusste es inzwischen besser, sie hatte ihn in den unterschiedlichen Phasen erlebt sich gewundert, dass keiner der anderen Kollegen dies bemerkt hatte.

Er musste ein ausgezeichneter Schauspieler sein, wie sonst war es möglich, das alles zu verstecken, was sie in unterschiedlichen Phasen miterlebt hatte. Sein über die Maßen ausgeprägtes impulsives Verhalten, welches sich abwechselte mit diesem Gefühl von permanentem betäubt sein.

Was ihr auch immer zu schaffen machte, waren diese Störungen in seinen Beziehungen, dann spürte sie seine Gleichgültigkeit, seine Teilnahmslosigkeit gegenüber anderen Menschen oder Tieren, auch gegen sie. Es machte sie wütend, aber sie konnte ihm nie lange böse sein, wenn sie zu erkennen glaubte, dass diese emotionale Abgestumpftheit nur als Schutzreaktion auf ihr Verhalten war. Auch die Gespräche mit ihm in solchen Phasen führten zu irrationalen Angstzuständen, seine Angst in seinem Beruf zu versagen oder sein Zurückziehen in eine Art Todessehnsucht.

Alles dies hatte sie in den letzten gemeinsamen eineinhalb Jahren, die sie näher und intensiver mit ihm verbracht hatte, mit Schrecken erlebt und durchlebt. Häufig fragte sie sich, wie lange kann er dieses Gefühlschaos, diesen Wechsel seiner Ängste unbeschadet überstehen. Immer wenn sie fühlte, wie er in seiner Todessehnsucht versank, hatte sie Angst um ihn und hoffte, dass er kämpfen würde, diese zu überwinden. Sie konnte, nein sie durfte ihm nicht helfen, er sperrte sie aus, es war, als würde er sie vor sich selbst schützen wollen.

Trotz oder vielleicht auch wegen seiner nur für sie ersichtlichen Zustände liebte sie ihn. Sie wollte immer bei ihm sein, ihn beschützen, ihm helfen, mit ihm gemeinsam diese traumatischen Erlebnisse zu überwinden. Sie war inzwischen überzeugt, dass es eine oder mehrere traumatische Erlebnisse gegeben haben musste, in einer Zeit, die weit zurücklag.

Es gab keine sexuelle Beziehung zwischen ihnen, auch wenn im Büro darüber getuschelt wurde, keine der Kollegen neidete es ihnen, nein sie gönnten beiden ihr gemeinsames Glück.

Wenn sie gewusst hätten, wie die Realität aussah, sie hätten die Welt nicht mehr verstanden. Sie sahen nur, wie sie häufig sehr liebevoll miteinander umgingen, auch wenn ein Austausch von Zärtlichkeiten im Büro bisher von niemandem beobachtet werden konnte.

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