Kein Vergessen

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

3. Kapitel

Im Büro in der Keithstraße angekommen nahm er sich einen Kaffee aus der Thermoskanne. Den heißen Becher vorsichtig balancierend ging er zu seinem Platz, wo er ungeschickt mit der Ecke des Schreibtisches kollidierte. Leise fluchend stellte er den Becher ab, dann wischte er vorsichtig über die Stelle, die der verschüttete Kaffee hinterlassen hatte. Resignierend und mit seiner Ungeschicklichkeit hadernd ließ er sich auf seinen Stuhl fallen, der protestierend Lebenszeichen von sich gab.

Etwas gefiel ihm überhaupt nicht, es war vollkommen ungewöhnlich, dass ein netter alter Opa vollkommen grundlos umgebracht wird. Zudem die Methode auch nicht alltäglich für einen Mord im Park war. Erstechen, ja, erschießen meinetwegen auch, erschlagen, das war die wahrscheinlichste Mordmethode. Aber von dieser Methode waren eigentlich jüngere Personen betroffen, wenn es zu einer Schlägerei kam. Aber auch in solchen Fällen stellte sich in Regel heraus, dass es weniger um Mord, sondern ganz profan um einen Unfall ging.

Hast Du eigentlich schon nachgesehen ob es Neuigkeiten aus dem Melderegister oder der Gerichtsmedizin gibt oder wartest Du hier auf Befehle. Kurz überlegte er, wie hieß der neue Kollege eigentlich, er sollte langsam anfangen alles aufzuschreiben, auch seine Frau hatte ihn bereits mehrfach auf seine Vergesslichkeit hingewiesen.

Mit Wehmut dachte er an seine frühere Mitarbeiterin, wie hieß die doch gleich, die zur gleichen Zeit wie seine Tochter schwanger wurde. Dann fiel es ihm wieder ein, Katharina Nolde, nein so hieß jetzt auch nicht mehr, seit sie ihren Prinzen aus Italien gefreit und den Polizeidienst verlassen hatte. Der vermeintlich Schuldige an ihrer damaligen Schwangerschaftsübelkeit entpuppte sich bei der Geburt als eine süße Tochter, die in ihrer neuen Familie abgöttisch geliebt und zu ihrem Leidwesen auch verwöhnt wurde.

Sag mal, wie heißt Du eigentlich, entweder hast Du mir deinen Namen nicht gesagt oder ich hab den schon wieder vergessen.

Der junge Kollege, der immer noch mit rotem Gesicht vor ihm stand, meinte nur, ich heiße Wolfgang Ungerad und meinen Namen habe ich bestimmt schon dreimal gesagt.

Er wollte gerade einen Scherz mit dem Namen Ungerad machen, dann ließ er es doch sein. Mit Bedauern fiel ihm ein, dass er für solche Scherze eigentlich schon zu alt oder noch nicht alt genug war. Diesen Scherz, mit dem „er solle nicht schief laufen“ hatte dieser bestimmt schon unzählige Mal gehört.

Wir können Du zueinander sagen, Du kannst Gerhard zu mir sagen, den Herrn Melzer heben wir uns für die Mörder auf. So Wolfgang, dann versuche mal, ob schon etwas angekommen ist, ich werde mal in der Pathologie anrufen, vielleicht habe ich ja Glück. Mit Glück meinte er, dass er seinen Dr. Nagel erreichen würde und dieser vielleicht schon an der Leiche etwas rumgeschnippelt hatte.

Doppeltes Glück und das am Sonntag, Dr. Nagel war da und er hatte bereits die Autopsie so gut wie abgeschlossen. Es fehlten noch einige Untersuchungen, die sich durch Auffälligkeiten an der Leiche ergeben hatten. Im Anschluss daran wollte er, sofern keine Laboruntersuchung dies verhinderte, seinen vorläufigen Abschlussbericht diktieren.

Der Anruf hatte gerade diese Untersuchungen unterbrochen, das sagte er auch etwas ungehalten, bis er hörte, wer am Telefon war. Sie hatten sich vor etwas mehr als zehn Jahren näher kennengelernt, als OK Melzer bei einem Mordfall sehr eng mit ihm zusammengearbeitet hatte.

Nach langen Diskussionen in der Rechtsmedizin waren sie nicht selten gemeinsam in die Stammkneipe von Dr. Nagel gegangen, um bei einem oder zwei Bier weiter zu diskutieren. Amüsant fanden sie den Gleichklang ihrer Vornamen, als sie sich endlich entschlossen, auf das Förmliche Sie zu verzichten.

Melzer, der ein paar Jahre älter war, sprach das als Erster an. Hör mal, wir gehen jetzt seit fast zwei Monaten regelmäßig einen saufen, er korrigierte sich gleich darauf, entschuldige ich meinte natürlich trinken dabei reden wir uns immer noch mit Sie an. Irgendwann kommt es so weit, dass wir beide besoffen unterm Tisch liegen und uns mit Sie anreden. Also, mein Vorname ist Gerhard, dabei blickte er erwartungsvoll Dr. Nagel an der lächelnd meinte, das passt, meiner ist Gerold. Seit jenem Abend entwickelte sich so etwas wie Freundschaft, obwohl, das war etwas zu hoch gegriffen, aber doch so etwas wie eine bevorzugte Bekanntschaft.

Also setzte Gerold Nagel an, ich weiß nicht, ob Dir das schon am Tatort aufgefallen ist, aber ich konnte nirgends feststellen, dass der gute Mann sich gegen die Strangulierung gewehrt hat. Weder waren am Hals Hautabschürfungen zu finden, die sich dort aber hätten befinden müssen, wenn er versucht hätte, das Tuch wegzuziehen. Noch haben wir unter seinen Fingernägeln etwas gefunden was auf Abwehrmaßnahmen hätte schließen lassen.

Übrigens, wie der Kollege am Tatort vermutet hat, ist der Tote wirklich durch den Mangel an Sauerstoff gestorben. Bei der Obduktion konnten wir die erwarteten blauen Flecken am Hals vorfinden. Was mich etwas verwundert hat, der Täter muss mit sehr großer Kraft an dem Tuch gezogen haben. Obwohl der Mangel an Sauerstoff die Hauptursache für den Tod ist, konnte ich feststellen, dass bei dem Toten das Zungenbein gebrochen ist. Die Abneigung dem Toten gegenüber muss schon sehr ausgeprägt sein, wenn eine Strangulierung mit so viel Kraft ausgeführt wird.

Mach mal langsam, warf Gerhard Melzer ein, wenn ich Dich richtig verstanden habe, hat ein sehr wütender Täter diesen alten Mann mit großer Kraft mittels eines Schals erwürgt. Ich nehme mal an es war ein Mann, oder hätte dies auch eine Frau vermocht. Warte wehrte er eine Antwort ab, ich habe noch eine Frage, weshalb hat der Tote sich nicht gewehrt.

Dazu wollte ich ja gerade kommen, als Du mich unterbrochen hast, meine Vermutung ist, dass er in irgendeiner Form vorher ausgeschaltet worden sein muss. Wahrscheinlich durch einen Taser oder einem ähnlichen Gerät. Aber da war ich mit der Untersuchung noch nicht fertig. Allerdings weisen zwei kleinere Verletzungen darauf hin, die ich Nacken vorgefunden aber noch nicht untersucht habe. Wie gesagt, die Punkte könnten auf einen Elektroschocker hinweisen. Auf jeden Fall hat er sein Opfer außer Gefecht gesetzt, um es in Ruhe zu erwürgen. So jetzt lass mich den Rest noch untersuchen, ich sage Dir morgen Vormittag Bescheid. Übrigens, an eine Frau als Täter glaube ich nicht.

Nachdem er aufgelegt hatte, dachte er über das soeben gehörte nach, dabei zog er für sich ein erstes vorläufiges Resümee. Der Täter, er war auch überzeugt es war ein Mann, aus seiner Sicht deutete alles darauf hin. Er wollte sichergehen, dass sein Anschlag gelingt, deshalb hatte er sein Opfer außer Gefecht gesetzt, danach mit großer Kraft mit dem mitgebrachten Schal das Opfer erdrosselt.

Er unterbrach seine Gedanken, wieso mitgebracht, Wolfgang rief er laut, um festzustellen, dass dieser gerade den Telefonhörer an sein Ohr gedrückt hielt. Wahrscheinlich wollte er gerade telefonieren, egal, jetzt hatte er ihn bereits unterbrochen, da konnte er auch weitermachen. Erst als dieser irritiert seinen Kopf hob und dabei die Telefonmuschel abdeckte, bemerkte er, dass er ein Gespräch unterbrochen hatte.

War der Alte schwerhörig oder weshalb schrie dieser ihn an. War er dazu noch blind, oder weshalb störte er das Telefonat.

Gibt es Hinweise auf den Schal, wem gehörte der, war das ein Schal des Opfers. Die Fragen kamen ohne Pause hintereinander. Die Dringlichkeit, mit der die Fragen gestellt wurden, ließ diesen erst mal sein Telefonat abbrechen.

Ich melde mich gleich noch mal, dann legte er auf.

Bei den Fragen bei seinen Nachbarn konnte sich keiner an einen roten Schal erinnern, außerdem sind es eher Frauen, die einen Seidenschal tragen.

Er nickte nachdenklich, gut gemacht, er meinte die Frage nach dem Schal zu dem frühen Zeitpunkt, vielleicht hatte er seinen jungen Kollegen doch unterschätzt. Der Schal warf plötzlich neue Fragen auf, war es vielleicht doch eine Frau. Die Benutzung von Hilfsmitteln für die Ausschaltung sowie der Schal deuteten auch eher auf eine Frau. Er kratzte sich am Kopf, es war doch verzwickter als er ursprünglich angenommen hatte. Wir müssen rausfinden, woher dieser Schal kommt, hoffentlich ist er selten, hast Du schon etwas aus dem Melderegister.

Nein, die hatte ich doch gerade am Telefon, als ich unterbrochen wurde, setzte er in Gedanken hinzu. Ich ruf gleich noch mal an.

Er kam heute nicht weiter, außerdem hatte er schon seit mehr als einer Stunde Feierabend, seine Frau würde bestimmt wieder meckern, wieso er auch noch am Sonntag Überstunden machen musste.

4. Kapitel

Nach knapp acht Stunden hatte er wieder Frankfurter Boden unter den Füßen. Da es jetzt zu spät war um nach Berlin zu fliegen überlegte er, welche Alternativen ihm blieben. Ein Blick auf sein leeres linkes Handgelenk zeigte, er hatte vergessen, sich eine Uhr zu kaufen. Neben einer Anzeigetafel fand er endlich eine überdimensionale digitale Anzeige, deren rote Anzeige zweiundzwanzig Uhr siebenundvierzig anzeigte.

Allzu viele Möglichkeiten blieben ihm nicht, er konnte sich ein Hotelzimmer am Flughafen suchen und morgen versuchen einen Flug nach Berlin zu bekommen. Noch ehe er sich ernsthaft damit auseinandersetzen konnte, schloss er diese Möglichkeiten für sich aus. Er wollte so schnell als möglich nach Berlin, ein Hotelzimmer kam also nicht infrage.

Damit blieb nur noch die Option zwischen Mietwagen oder Eisenbahn, wegen der seit Jahren fehlenden Fahrpraxis tendierte er zur Bahn.

Ein Hinweisschild wies auf eine Bahnauskunft hin, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass diese noch besetzt sein würde. In den USA hätte da bestimmt noch einer hinter dem Counter gesessen, hier war er sicher schon seit Stunden verweist. Bei der gewohnten deutschen Gründlichkeit würde aber wenigstens ein Fahrplan aushängen.

 

Verwundert blickte er in das Gesicht einer alten, mit Falten überzogenen Frau. Es wirkte belustigend, wie sie ihre Mütze bis zu den Augenbrauen gezogen hatte, vielleicht war diese auch zu groß, egal er wollte nur eine Auskunft.

Als sie in ihrem Computer nach einer Zugverbindung suchte, beobachtete er, wie sie ohne Brille versuchte, die Angaben zu entziffern. Habe meine Brille vergessen nuschelte sie, können Sie selber gucken dabei drehte sie den Monitor in seine Richtung.

Nach so einer Aussage wollte er sicherheitshalber die auf dem Monitor dargestellten Verbindungen überprüfen, tatsächlich es waren die Zugverbindungen nach Berlin. Er benutzte die Scrolltaste der Tastatur, um den Zeitbereich aufzurufen, der ihn betraf. Kurz vor dem Ende der Anzeige fand er eine Verbindung, auf die er gehofft hatte. In etwas mehr als einer halben Stunde würde ein Zug diesen Bahnhof in Richtung Berlin verlassen.

Der Zug fuhr um dreiundzwanzig Uhr achtunddreißig los, die planmäßige Ankunft in Berlin sollte um acht Uhr sechsundvierzig erfolgen. Diese Verbindung war geradezu ideal, er würde versuchen im Abteil schlafen, um die Auswirkungen des Jetlags zu vermindern. Er löste eine Fahrkarte, danach ging zu dem angegebenen Gleis, um sich einen Platz auf einer Bank zu suchen.

Ausgeschlafen trat er auf dem neuen Hauptbahnhof aus dem Zugabteil, was für ein monströses Gebäude dachte er noch, während er sich auf den Weg richtigen zum Ausgang suchte. Wie angenehm war doch das Reisen ohne Gepäck, wie er jetzt unfreiwillig feststellen konnte. Trotzdem brauchte er in den nächsten Tagen eine komplette Ausstattung, wenn er sich bei einer Agentur vorstellen wollte.

Auf dem Weg zum Ausgang sah er einige Geschäfte die eine vorläufig ausreichende Auswahl an Grundausstattung anboten. Er kaufte sich eine Erstausstattung an Kleidung sowie Toilettenartikeln, dann machte sich, mit zwei Tüten beladen, auf den Weg.

Wo sollte er wohnen, was nicht infrage kam, war bei seinen Eltern, er hatte den Kontakt nach seinem Studium abgebrochen. Mit dem Abschluss war er nach München umgezogen, später wechselte er für einen Job nach Hamburg, von da war er nach New York gegangen.

Die Wende hatte er in der Anfangszeit, später nur aus der Entfernung miterlebt, deshalb war für ihn dieses neue Berlin unbekannt. Natürlich hatte er immer wieder über die Entwicklung von Berlin gelesen, im Fernsehen einige Sendungen gesehen, aber die gesamte Entwicklung nur aus der Ferne miterlebt.

Er hatte immer einen Bogen um Berlin gemacht, als er neunzehnhundertneunzig nach München geflohen war. Flucht war genau der Gedanke, den er damals empfunden hatte, die neue Stadt sollte ein Neubeginn für ihn werden.

Während der Anfangszeit hatte seine Mutter versucht, den Kontakt aufrechtzuerhalten, bis er ihr, mit sehr drastischen Begriffen erklärt hatte, dass er nichts mehr mit ihnen zu tun haben wolle. Sie hatte es nicht verstanden, ihr Glaube an die eigene Unfehlbarkeit ließ keine andere Meinung, schon gar keine Kritik zu. Sein Vater hatte sich sowieso geweigert mit ihm zu reden, er hatte ihm immer gezeigt, dass sein Sohn ihn enttäuscht hatte.

Als er acht Jahre später nach Hamburg in eine der großen Agenturen wechselte, hatte er sich bereits in Deutschland einen Namen in der Branche gemacht. Seine internationalen Meriten sollte er sich allerdings erst in Hamburg erworben. Die Leistungen in jener Zeit waren es auch, die ihn international bekannt machten und seinen Weg in die USA ebneten.

Jetzt war er wieder hier, nach fast zwanzig Jahren kam er zurück zu der Stätte, die für ihn alles bedeutete. Freude, Leid, Glück, Unglück, Einsamkeit und Qual, unendliche Qualen, die sein Leben immer noch prägten. Bisher hatte er dies immer negiert, nichts davon sollte je wieder zum Vorschein kommen, keiner sollte je davon erfahren.

In den Tagen, als er über sein bisheriges Leben nachgedacht hatte, waren erste Zweifel in ihm aufgetaucht, ob er wirklich alles richtig gemacht hatte. Oder hatte er es sich zu einfach gemacht, indem er vor diesen unendlichen Qualen davongelaufen war.

Die Phasen, in welchen er ein störungsfreies Leben geführt hatte, waren immer unterschiedlich lang gewesen, häufig wurden diese durch eine Erinnerung oder einen Impuls wieder beendet. War es ein Geruch, ein Wort oder ein besonderer Körperkontakt, der diese Saiten in ihm zum klingen gebracht hatte. Sie waren jedenfalls immer der Auslöser für das Ansteigen der Spannung, bis die Saite riss.

Der Bezirk, den er am besten kannte, war Tiergarten, dahin würde er fahren, sich vorerst in einem Hotel einquartieren. Er sah zwar die Schilder, die zur S-Bahn zeigten, er hatte allerdings keine Ahnung wie sich die Verbindungen in den letzten zwanzig Jahren geändert hatten. Etwas entfernt konnte er an der Stirnseite des Bahnhofs das BVG-Zeichen erkennen.

Erleichtert hörte er der Erklärung der Angestellten zu, die ihm sagte, dass er nur eine Station zu fahren brauchte, um zum S-Bahnhof Bellevue zu gelangen. Er wusste, dort würde er sich zurechtfinden, schließlich war dies die Gegend, in der er seine Jugend verbracht hatte.

Er verließ den Bahnhof, hier kannte er sich aus, es schien als wäre die Zeit stehen geblieben. Gegenüber auf der anderen Straßenseite sah er ein Restaurant, er erinnerte sich, auch damals wurde an gleicher Stelle ein jugoslawisches Restaurant betrieben. Er fühlte sich, als wäre er zu Hause angekommen, hier wollte er die Vergangenheit abschütteln, hier wollte er sein neues Leben beginnen. Die Frage, wie oft er bereits neu begonnen hatte, ebenso wie die Antwort nach dem Scheitern wollte er heute nicht stellen, sie hätte ihn sonst deprimiert.

Langsam, jeden Schritt auf heimischen Boden genießend wandte er sich nach rechts in Richtung der Moabiter Brücke. Hier schien alles so geblieben zu sein, wie er es aus seiner Erinnerung kannte. Rechts, entlang der S-Bahngleise führte der Weg zum Schloss Bellevue, auch hier schien keine größere Veränderung sichtbar, oder sein Gedächtnis spielte ihm einen Streich.

Auf der Brücke angekommen fiel sein Blick sofort nach links, zeigte ein geradezu vollständig neu entstandenes Stadtquartier. Alles war neu, die historischen Gebäude der alten Meierei waren verschwunden. Hier hatten sich Architekten und Stadtplaner zulasten der historischen Gebäude ausgetobt. Ob es wirklich besser oder schöner war, mochten andere entscheiden. Was ihm ins Auge fiel, war die Leuchtreklame, die über allem prangte, Abion Hotel, das war es, was er gesucht hatte.

Am Empfangstresen des Hotels blickte ihn der Concierge neugierig an, die Klangfarbe seines Gegenübers hatte bei der Aussprache diesen leichten amerikanischen Einschlag. Trotzdem scheint dieser leicht mitgenommene Herr ohne Gepäck mit zwei Plastiktüten ein Zimmer zu wünschen, dachte er, ohne es direkt auszusprechen.

Um einer Diskussion vorzubeugen, erklärte Matthias ihm, mein Gepäck ist leider abhandengekommen, deshalb werde ich neue Sachen benötigen. Dann fügte er hinzu, außerdem hätte ich gerne ein Doppelzimmer für zunächst vierzehn Tage.

Leicht irritiert von der Person die vor ihm stand, begann sich bei dem Concierge die Augenbraue an seinem linken Auge nach oben zu bewegen. Etwas derangiert, dazu ohne Gepäck, jetzt ein Zimmer für zwei Wochen. Kann ich bitte Ihren Ausweis sowie eine Kreditkarte haben, um die Anmeldeformalitäten zu erledigen, fragte er höflich, ohne seine Irritation erkennen zu lassen. Er hatte schon andere eigenwillige Hotelgäste erlebt, sich abgewöhnt, nur nach Äußerlichkeiten zu urteilen.

Am dringendsten brauchte er eine Dusche, er genoss sichtlich das auf ihn brausende Wasser, er hatte den stärksten Strahl eingestellt, der möglich war. Um sämtlichen Schmutz der Reise loszuwerden, hatte das Wasser so heiß eingestellt, wie er es gerade noch ertragen konnte. Rot wie ein Krebs aber vollständig erfrischt, stieg er aus der Dusche. Abschließend packte noch das neue Rasierzeug aus, dann begann er, den Bart der letzten Tage aus seinem Gesicht zu entfernen. Er fühlte sich wie ein neuer Mensch, mit seiner neuen sauberen Kleidung konnte er nun beginnen die Dinge zu besorgen, die er dringend benötigte.

Als Erstes brauchte er dringend einen Kaffee, beim Hinaustreten aus dem Hotel blickte er sich genauer um. Vorher hatte er eher unterbewusst den Rest der ehemaligen Meierei gesehen, jetzt sah er genauer auf die Einbindung des alten Gebäudes in das neue Ensemble.

Er wandte sich nach rechts zu dem Restaurant, dort bestellte einen einfachen Kaffee, wobei er einen Tisch wählte, der ihn ungehindert auf die Spree blicken ließ. Die Ausflugsschiffe, die permanent an ihm vorbei fuhren, zeigten ihm, er war wieder zu Hause, endlich daheim. Außerdem war es ein Genuss, wieder einmal Kaffee ohne die zweihundert Zusätze oder Varianten zu trinken. Es überraschte ihn, wie gut Kaffee in seiner ursprünglichen Form doch schmeckte.

Er ließ sich ein Taxi rufen, als dieser ihn nach dem Ziel fragte, sagte er ihm, ich brauche einen Apple Computer, können sie mir sagen, wo ich hier einen bekommen kann.

Ein Grinsen machte sich in dem Gesicht des Fahrers breit, klar Mann, ich benutze auch Apple, am Ernst-Reuter-Platz ist einer, da kriegen sie alles, was sie brauchen. Es dauerte keine zehn Minuten, als der Fahrer auf den Store zeigte, hier bekommen sie alles, was sie haben wollen.

Er kaufte den neuesten MacBook sowie alles, was er für einen mobilen Internetzugang benötigte. Beim anmelden hatte er zwar gesehen, dass dieses Hotel über einen Internetzugang für Gäste verfügte, trotzdem wollte er, unabhängig davon, auch unterwegs die Möglichkeiten des Internets nutzen.

Deshalb ließ er die Karte sofort freischalten, er wollte wissen, ob Rachel oder sein ehemaliger Boss auf seine Mails reagiert hatten. Außerdem musste er im Internet die Agenturen in Berlin suchen, die für einen neuen Job infrage kamen. Im Anschluss daran musste er sich dringend eine Wohnung suchen.

Verdammt, beinahe hätte er es vergessen, er brauchte noch ein Telefon sowie eine deutsche Mobilfunknummer. Das Ladegerät für sein Telefon lag noch in New York, außerdem hatte es nur die amerikanischen Anschlüsse. Wenn er daran dachte, was er alles noch besorgen musste, waren die nächsten Tage komplett ausgefüllt.

Der Weg zurück ins Hotel erfolgte völlig zugepackt, und um zweitausenddreihundert Euro ärmer, jetzt musste er alles noch einrichten, um es auch nutzen zu können. Für heute hatte er genügend besorgt, nun wollte er auch damit arbeiten. Nachdem er die Funktionen überprüft hatte, rief er seinen E-Mail-Account auf, um nachzusehen, ob Mails eingegangen waren.

Die beiden hatten, neben anderen, geantwortet, trotzdem ging er zuerst in den Einstellungs-Modus, um sein Passwort zu ändern. Er hatte Rachel sein Passwort gegeben, da er nichts vor ihr zu verbergen hatte, das hatte sich nun geändert. Er rief als erste Mail die von seinem ehemaligen Chef auf, dieser war sauer, er beschimpfte ihn mit „What a douche bag“. Mann der war richtig sauer, wenn er ihn als üblen Kotzbrocken beschimpfte. Er musste umschalten, wieder auf Deutsch denken, damit er hier nicht den Amerikaner raushängen ließ, meist wurde einem dies sehr schnell sehr übel genommen.

Er las weiter, unabhängig von seinem Job nahm er ihm sein Verhalten Rachel gegenüber übel. Zum Schluss wurde er versöhnlicher, wenn er für einen neuen Job in Europa eine Empfehlung bräuchte, würde er die trotzdem erhalten, da er seinen Job gut gemacht hatte.

Sein Finger wollte die nächste Mail nicht öffnen, er hatte Angst, was sie geschrieben hatte. Er fürchtete zu Recht ihre Wut und ihren Zorn, wenn sie ihn beschimpfen würde, könnte er es nur zu gut nachvollziehen.

Sie war traurig, sie war verwirrt sie fühlte sich schuldig, sie wusste aber nicht, worin ihre Schuld lag. Sie bat ihn zurückzukommen, ihr alles zu erklären, es hatte sie wütend gemacht, dass er so einfach aus ihrem Leben verschwunden war, ohne ihr die Chance des Verstehens zu geben. Wieso wollte er ihr oder ihrem gemeinsamen Leben keine Chance geben, hatte sie alles nur missverstanden. Sie hatte mit ihrer Familie telefoniert, ihr Vater sei sehr wütend geworden aber Kim und ihre Mutter hatten sie getröstet. Ob er nicht doch zurückkommen wolle?

Er war fassungslos, das hatte er nicht erwartet, mit allem hatte er gerechnet, mit Beschimpfungen mit Verwünschungen auch mit Drohungen, aber nicht mit so einer Mail. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte, er hatte jetzt noch keine Erklärung, er musste in Ruhe darüber nachdenken. Er brauchte erst mal eine Pause, er konnte nach dieser Mail nicht einfach zum nächsten Punkt gehen, der erledigt werden sollte. Nach dem Ausloggen legte er sich auf das Bett, als er sich umdrehte, spürte er, dass sein Kopfkissen feucht war, er wischte über sein Gesicht, er hatte geweint.

 

Völlig zerschlagen wachte er am Morgen auf, die Zeitdifferenz von sechs Stunden würde ihm noch ein paar Tage zu schaffen machen. In New York war es schließlich noch sehr früh gerade mal drei Uhr in der Nacht. Trotzdem quälte er sich aus dem Bett, nach einer Dusche würde die Welt sicher etwas freundlicher aussehen. Er ging zum Fenster, er wollte sehen, wie das Wetter heute sein würde, er wusste noch sehr gut, der Herbst in Berlin war nicht immer freundlich.

Er zog die Jalousie zur Seite, heute hatte er wohl noch mal Glück, die Sonne schien, trotzdem hatten die Leute die unten vorbei gingen warme Jacken an. Es schien kälter zu sein, als es wirkte, egal, heute würde er sich einkleiden dabei überlegen, was er Rachel schreiben sollte. Gleichzeitig wollte er sie bitten, seine persönlichen Dinge hier an das Hotel zu senden, vielleicht brauchte er doch nicht alles neu zu kaufen, ein Versuch war es wert.

Nach seiner Einkaufstour wollte er sich zuerst seine Mail an Rachel schreiben, danach wollte er sich eine Wohnung und einen Job suchen. Wenn er weiter so mit seinen Ersparnissen umging, wie in den letzten beiden Tagen brauchte er wirklich bald eine neue Einkommensquelle.

Liebe Rachel, bitte verzeih mir, was ich Dir angetan habe. Ich kann Dir nicht erklären, weshalb ich in der damaligen Situation so gewalttätig reagiert habe. Ja ich weiß, ich bin ganz sicher, dass Du keine Schuld an meinem Gewaltausbruch hast. Lange habe ich mir in den vergangenen Tagen die Situation vor Augen geführt und es hat mich erschreckt, zu welchen Dingen ich fähig bin. Ich habe Dich verlassen, weil mir bewusst geworden ist, wie sehr ich zu einer Gefahr für Dich geworden bin, da ich nicht beurteilen kann, wann und weshalb ich erneut die Kontrolle verliere. Ich wünsche Dir, dass Du das Glück welches Du verdienst bei einem anderen Mann findest. Falls es Dir möglich ist, bitte ich Dich, mir meine persönlichen Dinge an das Abion Hotel zu senden. Bitte versuche nicht, mich umzustimmen. Bitte hasse mich nicht, Matthias.

Mehr war nicht zu sagen, er hoffte, dass sie dies so akzeptieren würde. Jetzt kamen Wohnung und Job dran, zuerst der Job, schließlich musste man einen künftigen Vermieter von der Zahlungsfähigkeit überzeugen. Er suchte nach Agenturen in Berlin und erschrak über die Vielzahl, die sich auf seinem Monitor ausbreiteten, dann suchte er nach bekannteren Namen.

Er fand seine ehemalige Agentur aus Hamburg, die inzwischen auch eine Dependance in Berlin hatte, sie war eine der größten in Deutschland. Dort würde er es zuerst versuchen, sie hatten bedauert, als er die Agentur verließ, um in den USA zu arbeiten. Sollte er je wieder nach Europa zurückkehren, hatten sie ihm einen Job in Aussicht gestellt.

Es war bereits zu spät, morgen wollte er direkt in Hamburg anrufen. Dort so hoffte er, hatte sich die Struktur nicht wesentlich verändert, mit etwas Glück würde er seine ehemaligen Vorgesetzten noch vorfinden. Dies würde die gesamte Prozedur vereinfachen, sie hatten seinen Werdegang in New York sicher verfolgt.

Üblicherweise blickte man auch über den Teich, um die Arbeiten der Mitbewerber zu verfolgen, diese konnten sich auf dem immer kleiner werdenden Markt schnell zu Konkurrenten entwickeln. Dass einige der Kampagnen seinen Namen trugen, war sicher mit Interesse vermerkt worden.

Er musste sich entscheiden, in welchem Bezirk sollte seine neue Wohnung liegen. Eigentlich war dies sicher von seinem Job abhängig, andererseits wollte er in der Gegend bleiben, in welcher er vieles wiedererkennen würde. Spontan entschied er, dass eine Wohnung nur in diesen Bezirken suchen wollte, Tiergarten, sein ehemaliger Heimatbezirk sowie das angrenzende Charlottenburg.

Es ging nicht darum, in Erinnerungen zu schwelgen, nein er wollte sein Lauftraining wieder aufnehmen, dazu bot sich der Park geradezu an. Die Entscheidung, die prinzipiell gefallen war, hing im Wesentlichen von der Tätigkeit sowie dem Umfeld ab, heute war darüber keine Entscheidung mehr möglich, so entschied er, erst morgen das Telefonat abzuwarten.

Plötzlich hatte er freie Zeit, bevor er genau wusste, was geschah, stand er ausgehfertig vor dem Hotel. Ruhig blickte auf die vereinzelten Spaziergänger, sah, wie eine ältere Frau an einer Büste stehen blieb, um zu lesen, was auf einem Kupferschild stand. Ihr Weg führte zur nächsten Büste, wo sich die Prozedur wiederholte. Auf dem vorübergleitenden Ausflugsschiff waren nur wenige Plätze mit Ausflügler belegt, die trotz des Sonnenscheins, in dicke Jacken gehüllt waren.

Er wandte sich ab, ging jetzt selbst die „Straße der Erinnerung“ entlang, in der Personen der Zeitgeschichte der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts geehrt wurden. An der Moabiter Brücke wählte er den Weg in den Tiergarten, er wollte unbedingt sehen, was sich in den letzten zwei Jahrzehnten geändert hatte. Hatte der Park, außer seinem natürlichen Wachstum, seine Anziehungskraft behalten, oder hatte man auch derart gravierende Änderungen vorgenommen. Er erinnerte sich noch sehr genau an die Wochenenden, die er mit Freunden im Park verbracht hatte, der immer von sonntäglichen Spaziergängern überlaufen war.

Beim Durchlaufen des Parks entdeckte er Stellen, die ihn an seine Kindheit erinnerten, hier hatten sie Fußball gespielt, Spaziergänger geärgert oder einfach nur in der Sonne gelegen. Bereits beim Betreten des Parks hatte er es gespürt, hatte den Geruch aufgesogen, den er nie vergessen hatte. Der Park hatte sich verändert aber nicht so spürbar, dass er die markanten Stellen nicht erkannt hätte. Er lief am Teehaus vorbei, ohne zu ahnen, wie schicksalhaft dieser Ort für ihn werden sollte, plötzlich fühlte er sich wieder zu Hause angekommen. Hier auf seine Eltern zu treffen brauchte er nicht zu befürchten, diese hatten vor Jahren bereits Berlin verlassen und lebten in Bayern. Das heißt, seine Mutter lebte noch dort, wo genau hatte ihn nie interessiert. Den Tod seines Vaters hatte er längst aus seinem Gedächtnis gelöscht.

Wieder im Hotel angekommen prüfte er seine Mails, dann surfte er wahllos im Internet, wobei er die Meldungen nur überflog, ohne genau zu lesen, was da stand. Heute hätte er nicht sagen können, wie er darauf gestoßen war, dunkel erscheinen die Worte Missbrauch und Bartholomäus Kolleg in der Überschrift.

Mechanisch klickte er den Artikel an, dieser erschien groß auf seinem Bildschirm, plötzlich sah er schwarz auf weiß, was er für undenkbar gehalten hatte. Es war als hätte jemand einen Schalter in seinem Kopf umgelegt, bisher verdeckte Erinnerungen brachen in den Vordergrund und dominierten seine Gedanken.

Wie unter einem Wasserfall kamen plötzlich die Erinnerungen zum Vorschein. Er war missbraucht worden, über Jahre hinweg gequält und missbraucht worden, fassungslos saß er vor dem Artikel, in welchem auf die Missbrauchsfälle eingegangen wurde. Jetzt las er den Artikel voller Hoffnung und Erwartung auf den Namen zu treffen, der ihm das angetan hatte. Voller Enttäuschung stellte er fest, der gesuchte Name stand nicht in dem Artikel, wütend griff er nach dem Computer, wollte diesen zertrümmern.

Wie aus einer Trance erwacht, merkte er, wie er in seinem Zimmer stand und seinen Computer in beiden Händen hielt. Vorsichtig stellte er ihn auf den Tisch dann ging er ins Bad, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Danach rieb er mit einer Vehemenz über sein Gesicht, bis es schmerzte, dabei spürte er, wie Tränen über das Gesicht liefen und nicht aufhören wollten.

Другие книги автора