Das einfache Leben

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Nun also würde er fortgehen, und nur als von einem Narren würde von ihm geredet werden. Sein Vater würde es wissen, aber sein Vater war tot. Man mußte es nun allein wissen. Sich abends mit frohem Herzen niederlegen können, das war vielleicht das ganze Geheimnis. Froh, wenn man an den gewesenen Tag, und froh, wenn man an den kommenden Tag dachte. Keine Erlebnisse, keine Heldenrolle, kein Glanz um die Stirn. Die Netze auslegen und wieder einziehen, Haus und Insel sauberhalten, ein paar Seiten lesen und abends am Wasser sitzen und in die Sterne sehen. Den Vertrag erfüllen, den man unterschrieben hatte.

Wann war er froh gewesen zur Nacht? Er legte Jahr auf Jahr beiseite und kam wieder bis zu seiner Kinderzeit. Der Vater, der gute Nacht sagte, das offene Fenster, durch das die leisen Geräusche des Gutshofes kamen, der Zigarrenrauch aus dem Nebenzimmer, wo der Vater noch über den Rechnungsbüchern saß oder in einem Band Fontane las. Die Bilder, die sich immer mehr verwirrten … der Weizenschlag mit der brennenden Sonne … der Waldsee mit den alten Hechten … das Pferd, das er ritt, immer mit etwas klopfendem Herzen … die Uhr auf dem Hof, die ihre Schläge über die nebligen Felder schickte, und der letzte Schlag tönte lange nach, Welle auf Welle, immer mehr ersterbend … frohen Herzens, so war er eingeschlafen und wieder aufgewacht.

Aber dann nicht mehr. Nicht als Kadett und nicht als Leutnant. Dienst und Pflicht immer wie eine Rüstung auf der Brust, und manchmal schmerzte die Rüstung … die Segel, der Mastkorb und dann die Geschütze, die Navigation, Zahlen, Formeln, Kurven, Rechnungen, Gesichter, die feierlich oder höhnisch oder spöttisch waren … und dann der Krieg, Menschenleben und Boote, die in seiner Hand lagen, und die Hand war nicht immer stark, nein, nicht immer … kein frohes Herz, auch nicht unter den Kameraden, ein Sonderling, still, scheu, verschlossen … der Krieg, ein bitteres Handwerk, ohne Glanz, töten und vernichten … und dann das Ende und die Leere der Tage und Nächte, wie ein Brett auf dem Ozean, auf … ab, auf … ab … wie ein Geschwätz …

Dies aber war gut, die hohen, grauen Stämme, ernst wie Masten; die Wipfel, aus denen der Dampf vergangenen Regens stieg; der Specht, der hinter dem Hügel hämmerte, fleißig wie ein einsamer Hausvater; der See, der durch die Bäume blitzte, und Vögel riefen über sein Glänzen hin; Wolken, hoch im blauen Raum, durch den die Keile der Kraniche sich drängten. Gut und still. Alte Gesetze, denen die Kreatur gehorchte, die den Tag einschlossen und die Nacht. Krieg auch hier, Leiden auch hier, aber aus Gesetz und nicht aus Willkür.

Und der Vertrag, der ihn einschloß in diese Welt, der ihm die Stunde erfüllte und die geöffneten Hände. Ein einfaches Werk, in dem die Räder sich kreuzten und überschnitten, ein Werk, das nichts brauchte als Fleiß und guten Willen und Gehorsam vor der Ordnung der Dinge. Zu erfüllen auch von denen, die noch die alten Waffen trugen, deren Sinn nach dem Einfachen trachtete, weil sie fremd waren im Verwickelten der Zeit. Die ein Dach wollten, einen Herd, eine Arbeit und ein frohes Herz.

Es fiel ihm ein, daß er die Mönche immer geliebt hatte, obwohl er anderen Glaubens war. Die aus der alten Zeit, die den Wald urbar machten und beim Kerzenlicht die großen Buchstaben auf gelbe Pergamente malten. Die das Schwert nahmen, wenn es um den Acker ging oder um Gott, aber es wieder fortstellten, wenn der Acker und Gott gerettet waren. Fern rauschte ihnen die Welt, ein Strom hinter Weiden, aber sie wollten nichts von ihr. Sie wollten den Pflug und das Bild der Heiligen Mutter und den Kerzenschein über der weißen Zellenwand. Sie wollten sein wie die Steine auf dem Grund, und das Werk ihrer Hände sprach immer noch, hin durch die Jahrtausende. Kein vertanes Leben, kein Aufruhr, kein Geschwätz. Getreue Knechte, die unter Steinplatten schliefen, aber der Hausvater hatte ihre Namen gesammelt und bewahrt.

Wenn sie älter ist, dachte Thomas und stand auf, wird sie wissen, daß die goldene Krone unsichtbar ist, und vielleicht wird auch Joachim es wissen. Daß es nur das Letzte des Lebens ist, sein wahrer Sinn, heraufgezogen mit dem Netz, an dem das Leben gesponnen hat. Güte und Weisheit und nichts haben wollen. Frieden schließen, aber den Frieden, hinter dem kein Krieg mehr steht … vielleicht gewinne ich es, daß ich es ihnen zeigen kann, nur ihr und ihm … zwei Menschen sind schon viel, und ich selbst bin der dritte … drei … was für eine große Zahl, was für eine Riesenzahl für eine Menschenhand … Es war schwer, das Kind dort zu lassen, schwerer als alles andere, aber es gab Wege, die man ohne Kinder gehen mußte, ohne Frau und auch ohne Kind. Erst mußte man fest stehen wie der Mann im Zirkus, bevor man Frau und Kind auf seine Schultern heben konnte. Und er würde Joachim bei sich haben, ein paarmal im Jahr.

Er würde ihn erfüllen mit dem, was er inzwischen gewonnen haben würde. Er würde getreulich teilen. Nur das Geringste würde er für sich selbst behalten wollen. Er ging schon zu Tal, aber das Kind würde fortzusetzen haben, in das neue Leben hinein …

Der Förster stand am Zaun und winkte ihm. »Ein gutes Jahr, lieber Herr. Die Saat steht schön, und auf der Insel wird es wieder lebendig sein. Ein Geist hat da gewohnt, und nun zieht der Mensch wieder ein. Ein gutes Jahr …«

Sie hatten ein schweigsames Mahl, und dann war Thomas den ganzen Nachmittag auf dem Wasser. Er fuhr das Ufer ab. Bucht für Bucht und Schilfrand nach Schilfrand. Er betrachtete den Grund, Sand und Moor, Seerosenstengel und verwitterte Baumstämme, deren Äste hinaufgriffen, einen schmalen Pfad im hohen Gras und die Otterspur, die sich weich in den Boden drückte. Er fuhr um die Waldecke und weiter bis zum Fließ, hinter dem der zweite See begann. Und überall Wald und Wiese, Erlengehölz und Feld, ein graues Dorf vor einem bläulichen Kiefernstreifen, ein Land ganz für sich, mit einem hohen Himmel, unter dem nur der Wind leise tönend ging.

Er sah Christoph abfahren und das Boot an der hohen Fichte verlassen. Er trug einen Sack auf dem Rücken, sein ganzes Hab und Gut, und grau und gebeugt verschwand er im Uferwald, die Fahne sicherlich um den Leib gebunden, ein Mann nach einer verlorenen Schlacht.

Nun war niemand auf der Insel. Die Sonne sank hinter die Eichenwipfel, Gewitterwolken hoben sich bläulich über den Wald, über dem Schornstein hing kein Rauch, ein großer Vogel kreiste über dem grauen Dach und verschwand im dunklen Gewölk.

Thomas holte das leere Boot und fuhr zur Försterei zurück. Sie wollten zusammen das Haus ansehen und was geändert werden sollte, solange Thomas wieder fort war. Am nächsten Morgen wollte er fahren und nach zwei Wochen wiederkommen.

Es war niemand auf dem Hof, aber aus dem kleinen Garten hörte er wieder den leisen, schlafwandlerischen Gesang. Die Frau stand über der frischgegrabenen Erde, im schwarzen Kleid wie bisher, ein Tuch um die Schultern, und streute Samen in die neuen Beete. Aber es war nichts in ihrer Hand. Die Hand war leer, und nur die Gebärde war voller Sinn. Das Lied ging eintönig durch die Stille, einfach und fast heiter, wie ein Kinderlied oder ein Lied über kindlichem Schlaf. Und Thomas meinte ihn dort knien zu sehen, den das Feuer im dunklen Turm versengt hatte, zu Staub und Asche verwandelt, eine kleine Gestalt, die nach den Samenkörnern griff, und sie wußte noch nichts von der kommenden Ernte der Zeit.

Die Luft war schwül wie am Abend zuvor, die Wolken hatten die Sonne bedeckt, und ein gedämpftes Licht fiel von den glühenden Rändern über die Erde. In diesem Licht ging der schwarze Arm der Frau langsam hin und her, die Reihen der Beete auf und ab, eine arme, kindliche Mühle, die das tote Leben streute.

Wieder fröstelte es Thomas, und er ging leise ins Haus. »Ja, ein frühes Gewitter kommt«, sagte der Förster. »Dann ist sie unruhig und bleibt nicht im Hause. Sie kann das große Feuer nicht sehen über dem Wald, und doch bleibt sie auf, solange das Wetter leuchtet, die Hände vor den Augen. Sie sieht ihn wohl im Feuer, lieber Herr …«

Sie fuhren schweigend über den See und traten ins Haus. Es war so leer wie zuvor, und es war nicht zu sehen, daß ein Mensch es verlassen hatte. Sie sahen alles an, und Thomas schrieb sich die Maße in sein Buch. Er wußte gleich, was er brauchte, und sie rechneten die Preise aus. Ein Fußboden sollte gelegt, ein kleiner Herd zum Kochen im Nebenraum gesetzt und das Fenster sollte höher und um das Vierfache verbreitert werden. Alles andere sollte unverändert bleiben, und der Förster wollte zusehen, daß in zwei Wochen alles fertig wäre. »Ein Palast, lieber Herr«, sagte er lächelnd, »und im Winter werde ich das Licht durch die Bäume sehen … Gott segne Ihren Einzug, lieber Herr!«

Ja, Thomas wollte noch ein wenig auf der Insel bleiben. Er sah das Boot zurückfahren, in die Dämmerung hinein, und verschwinden. Das Licht über dem See war schon erloschen, und hinter den Uferwäldern flammte das Wetter schon rötlich auf.

Thomas ging um die Insel herum über Sand und braunes Gras, am Schilf entlang, dessen Halme sich leise aneinander rieben, und wieder zurück. Er war so einsam wie auf dem Ozean. Sein Herz schlug, wie es vor der Schlacht geschlagen hatte, aber was vor ihm lag, war schöner als eine Schlacht. Er fand eine Stelle auf der Westseite des Hügels, unterhalb der Eichen, wo Heidekraut und junge Fichten sich zum Ufer senkten. Dort konnte man auf einem Baumstumpf sitzen und weit über das Wasser sehen. Es war wie auf einer Brücke, und hinter ihm ragten die Masten auf.

Es dunkelte jetzt über den Wäldern, und das Feuer hinter den Wolken blitzte scharf und rötlich über das Wasser hin. Der Wind strich niedrig über das Schilf, und wenn er erstarb, hörte Thomas das leise erzene Dröhnen hinter der Wolkenwand. Mitunter tastete nur ein fahler Schein über die Insel und den Wald, dazwischen aber flammte es böse und drohend auf, wie von langen Rohren über grauer Panzerwand, ein greller Strahl schoß den Himmel hinauf, und lange hinterher, aus begrabener Finsternis, rollte der ferne Donner lange nach und bewegte die Erde, auf der Thomas saß.

 

Er sah mit weitoffenen Augen in das Licht hinaus. Er sah die grauen Leiber vorwärts stürmen und die zerwühlte See zwischen ihnen. Er hörte Glocken, Signale und verwehenden Schrei. Er saß wie in einem Traum, und vor seinen Augen und Ohren zog es vorbei, die Summe vergangenen Lebens, die Probe vieler Jahre, die Entscheidung junger und bebender Herzen: die Schlacht.

Dann hörte er die Flügel der großen Vögel rauschen und den heiseren, schwankenden Schrei. Er sah sie im nächsten Leuchten über sich, den schmalen Hals gehoben, und wie die trockenen Wipfel unter ihnen erbebten.

Da ging er leise fort, zum Ufer hinunter und an diesem entlang bis zu seinem Boot. Ein paar Tropfen fielen, warm und schwer, und er stand noch eine Weile, bevor er abfuhr, das Gesicht zu ihnen aufgehoben, mit offenen Augen, in denen die Blitze sich spiegelten.

4

Die Uhr über dem Gutshof des Schlosses ist Maß und Regel für die Landschaft um den See. Der Gutshof liegt hoch über dem Wasser, und der Turm über dem Stalldach liegt hoch über dem Hof. Wenn die Luft ruhig ist oder nur ein leiser Wind über die Wälder geht, dringt der helle Schlag weit in die Runde hinaus, und die Menschen richten sich auf von Arbeit oder Schlaf, lauschen auf die Zahl der Töne und messen Schlaf oder Tagwerk danach ab. Die Kirche ist weit, die Eisenbahn ist weit, die Schneidemühlen sind weit. Aber die Glocke des Schlosses ist in ihrer Mitte, und schon das vorige Geschlecht hat sie gekannt. Ihr Alter verliert sich in der ländlichen Sage. Sie schweigt nur, wenn im Schloß sich jemand zum Sterben bereitet; sie wollen nicht, daß der Schlag der Stunde in den letzten Atem fällt.

Die ersten, die der Uhr gehorchen, sind der Kämmerer und der Eleve im Schloß, Thomas und der Fischadler. Die beiden ersten reiben sich den Schlaf aus den Augen und sind nicht immer fröhlich. Die beiden andern sind ganz wach und auf ihr Tagwerk bedacht. Thomas sitzt an dem grauen Tisch vor seinem Haus, hat seinen Kaffee getrunken und raucht die erste Pfeife. Die Sonne steht rot über den schwarzen Kiefern, der ganze See brennt, und die Nebel stehen wie glühender Rauch über den Buchten. An ihrem Rande kann er als feine graue Striche die Stöcke erkennen, zwischen denen die Reusen auf dem Grunde liegen.

Der Adler kommt von Osten hoch über den Wald, stumm, eilig, in gerader Bahn. Er überfliegt die Insel und wendet sich erst am westlichen Wald. Schneeweiß leuchtet seine Brust auf, wenn die Sonne sie trifft. Über der Otterbucht zieht er den ersten Kreis, wo das Wasser immer unbewegt ist und die alten Fische unter der Oberfläche stehen. Dann faltet er die Schwingen zusammen und stößt hinunter. Eine Schaumwolke steht auf, und aus ihr, einmal das Gefieder schüttelnd, hebt er sich langsam wieder auf, höher und höher, bis die Beute in seinen Fängen gegen den weißen Morgenhimmel sich abzeichnet. Hoch über der Insel ertönt sein Schrei, ehe er in der Sonne verschwindet.

Wieder schlägt die Glocke über den See. Der Kuckuck ruft, und das »Hup … hup … hup« des Wiedehopfs geht wie ein Kinderspielzeug durch den Wald. Die Gespanne verlassen den Gutshof, und auf den betauten Waldwegen ziehen die Mädchen zur Pflanzarbeit, die bloßen Füße in schweren Schuhen, weil der Seidenstrumpf das Knien auf der feuchten Erde nicht verträgt. Hier und da murrt eine über die Sklavenarbeit, aber dann zieht doch ein Lied vor ihnen her über die glänzenden Schonungen, weil das Leben stärker ist als das andere. Der Förster hebt einen Bastfetzen von der niedrigen Kiefer, an der der Bock gefegt hat, und Thomas fährt mit den ersten nassen Netzen ans Land.

Die Sonne hebt sich über den Wald, und in dem östlichen Giebelzimmer des Schlosses versucht Herr Bergengrün, an einem kleinen Globus die Drehung der Erde anschaulich zu machen. Marianne von Platen sieht mit ernsten Augen zu und fragt, ob Herr Orla jetzt wohl den Fisch mit der Goldkrone aus dem schwarzen Wasser hebe. Der General sitzt im Sattel, und der friderizianische Soldat begibt sich an die Mündung der Kanone zurück. Die Glocke schlägt, ein weißer Taubenschwarm steigt in die blaue Luft, und in Feld und Wald ziehen braune Hände den Kork aus den Blechkannen mit kaltem Kaffee. Die Pferdeleiber dampfen, und der Morgenschweiß von Mensch und Tier trocknet im warmen Wind. Thomas breitet die nassen Netze aus. Er trägt nur ein Hemd und eine kurze Hose, seine Haut ist braun, und Fischschuppen blitzen in seinem dunklen Haar.

Die Frau mit dem erloschenen Gesicht geht in dem Giebelzimmer auf und ab und singt ohne Worte das Lied mit der heiteren Marschmelodie. Wenn die Sonne auf die zerschlissene Seide fällt, schimmert es alt und grünlich über den demütigen Schultern.

Die Glocke schlägt, und Rauch steht über den Schornsteinen, auch über dem grauen Dach auf der Insel. Thomas kocht seine Fischsuppe, und die blauen Schleie zerfallen nicht mehr nach den ersten mißglückten Versuchen. Die Gespanne kehren heim, die Mädchen auf der Pflanzung liegen im Schatten, und Gruber sagt zu der blassen Frau, daß es ihm lange nicht so gut geschmeckt habe. Sie wendet den Kopf, als höre sie ihm zu, aber ihre Augen gehen durch ihn hindurch, weit fort, bis zu dem dunklen Meer wahrscheinlich, wo sie nun Kränze versenken zum Gedächtnis der Toten und der schrille Schrei der Möwen hinter den Schiffen herzieht. Der General hebt seinen Rotwein gegen das Licht und fragt sein Enkelkind, was es sich zum Geburtstag wünsche. Herr Bergengrün meint vor sich hin, man mache jetzt viel Rühmens von einer neuen Ausgabe der Märchen von den Gebrüdern Grimm, und das Kind nickt ihm zu. Der melancholische Riese steht bolzengerade an der Anrichte, und auf seinem weißen Lederzeug sitzen ein paar hartnäckige Fliegen.

Die Glocke hat den Kreis ihrer Schläge vollendet und beginnt von neuem mit einem einzigen hellen Ton. Der Zeiger rückt vor, und die Arbeit folgt, wird langsamer und müder und endet. Der Adler ist dreimal dagewesen, und Thomas kehrt vom Netzauslegen heim. Neben ihm auf der Bank liegt die kleine Büchse, aber ihr Lauf ist noch blank. Er hat seine Post von der Försterei mitgebracht, eine Zeitung, voller Hader, Unruhe und Lärm, eine Karte von Joachim, daß er im Rechnen jetzt »sehr gut« sei und der Ordinarius ihn gefragt habe, ob er nicht bald den schwarzweißroten Wimpel von seinem Fahrrad abnehmen werde. Dazu hatte er in Klammern in seiner großen steifen Schrift »Fehlanzeige!« hingesetzt. Und daß es bis zu den großen Ferien noch zweiundfünfzig Tage seien. Auf der Vorderseite stand gehorsam: »An Herrn Thomas Orla.«

Thomas hörte die Glocke über den See schlagen, sechs helle Töne, und so bleiben noch vier Stunden, die er für sich allein hat. Um zehn wird die Lampe gelöscht. Tür und Fenster stehen weit auf in seinem Haus, und er bleibt eine Weile auf der Schwelle und sieht hinein, ob Christoph vielleicht vor den Büchern steht und den Kopf schüttelt. Denn die Bücher sind nun da, fünf breite und hohe Bretter, die ganze dunkle Bohlenwand entlang. Der Globus ist da, und der Messingstreifen des Äquators blitzt in der Sonne, die durch das breite Fenster fällt. Und die beiden schweren Sessel stehen vor der Herdtür, ein schmales Feldbett ist an der andern Wand, der Schrank mit den Waffen und Masken und in der Fensterecke der schwere graue Tisch mit der Holzbank. An den Wänden nichts als das Bild des feuernden Kreuzers im Goldrahmen.

Und alles ist sein, ganz allein sein, erfüllt von seinem eigenen Leben, von der Erinnerung an Tage und Nächte, die er diesen Dingen hingegeben hat, mit Lesen, Denken, Grübeln und Sein. So ganz sein Eigentum wie die Kleider, die er trägt, und der Atem, der aus seinem Munde geht. Das aus dem Schiffbruch Gerettete, das doppelt Teure und Kostbare, mit eigenen Händen auf die Insel getragen wie aus der Brandung des Meeres. Christoph hatte sich fürchten müssen, die Schneestürme und das Klagen im Schornstein, die Nebel und die heiseren Rufe der winterlichen Tiere. Er hatte nur das Feuer, die Pfeife und den Schnaps. Und das brennende Bild der Zukunft, die immer Zukunft blieb.

Aber Thomas hatte mehr. Er hatte eine Arbeit, die er liebte, und seine Hände waren hart vom Rudern. Er hatte die Glocke, die durch sein Tagwerk ging, und die Bank, von der er die Sonne untergehen sah. Er wußte, daß sie nur für die Müden unterging. Er hatte die Weltkugel da, und sie schwang sich leise durch den unendlichen Raum, wenn seine Hand sie berührte. Und er hatte alles, was auf dieser Kugel Unsterblichkeit gewonnen hatte. Auf den schmalen Brettern vor der vom Herdrauch dunkel gewordenen Wand standen die Ewigen und sahen ihn an, nah und vertraut, denn bei ihnen allen war er zu Gast, und der Blick seiner Augen war ihnen bekannt, die sorgsame Bewegung, mit der er die Blätter umwendete, die Neigung der Stirn, mit der er ihnen nachsah. Er besaß ihre Vergangenheit, die alles umfassende, und in ihrer Vergangenheit lag alle Zukunft beschlossen, eine reine und gläubige Zukunft, von Haß und Hochmut gereinigt, die große Stille, nach der sie getrachtet hatten am Ende ihres Lebens, und nach der auch er trachtete, ein demütiger Schüler, von ihrem Hauche genährt.

Die Glocke schlägt, und alle hören sie, die wissen, was der Feierabend ist. Thomas sitzt auf dem Baumstumpf unter den Eichen und weiß, weshalb die Menschen Gott gelobt haben. Nur als Kind hat er so gewußt, wie schön die Welt ist, so schön, daß es in der Brust schmerzt. Das letzte rote Licht auf dem See, der schlafende Wald, das junge Birkenlaub vor dem weißen Himmel und sein Duft, der keinem andern zu vergleichen ist. Und nun beginnen die Eulen zu rufen, der Nebel steigt, Sterne zünden sich an. Die Ruhe der Nacht breitet sich aus wie Wellenkreise von einem letzten Stein, weiter und weiter, und in der Mitte sitzt er selbst, regungslos, und sein Blut rauscht und singt wie ein Brunnen im Traum.

Die Glocke schlägt. Das Licht der Lampe fällt auf die Seiten des Buches in seiner Hand, die rot beschienen ist von der Flamme des Herdes. Wenn er den Kopf hebt, sieht er durch das offene Fenster ein fernes, zitterndes Licht. Das ist das Licht im Forsthaus, und es ist das einzige, das er sieht. Auch der alte Mann wird am Fenster sitzen, rauchen und schweigen. »Sieben Jahre, lieber Herr …« Er wird es gelernt haben. Und im Giebelzimmer singt die Frau. Die Diele knarrt, und der Mann am Fenster hört den Ton nicht mehr. Oder er denkt an seine Bäume im Wald, und wie der Wind noch leise an sie rührt. Und daß er einen Nachbarn gewonnen hat, bei dem er manchmal sitzt um diese Zeit, wenn das Dach ihn erstickt, und der leise Gesang, der wie ein Kindermarsch unter den Sternen ist.

Der Nabob aber hebt den Rotwein gegen die Flamme im riesigen Kamin und sieht, wie rot er im Glase leuchtet, wie dunkles Blut, und er hat zwei Söhne begraben. Das große Haus liegt dunkel und tot. Wie eine Kirche ist die gewaltige Halle über ihm, ein Goldrahmen funkelt, und die ausgestopften Tiere stehen wie dunkle Heilige auf ihren Sockeln. Die Flamme leckt und erlischt und glüht wieder auf. So viele Bilder und Gesichter, Lachen und leiser Gesang. Ein Ast, der sich krümmt und verfällt. Ein Gesicht mit einem Goldhelm, zuerst rot, dann grau, dann weiß … der Helm zerfällt, die Stirn bricht auf, in Asche sinkt das Bild zusammen … »Haltung, Generalmajor!« Schon gut, schon gut. Das Wappenschild wird zerbrochen, aber die Toten bleiben. Die Toten und der königliche Herr. Er hebt das Glas, und es leuchtet rot.

Die Glocke schlägt, und die Lichter erlöschen. Schlaf fällt wie Tau über die Augenlider. Ein Reiher schlägt mit den Flügeln und faltet sie wieder zusammen. Er sieht das Wasser voller Sterne, wie goldene Fische stehen sie tief und unbewegt. Eine Kröte sitzt vor der Schwelle des Hauses. In ihren dunklen Flanken geht der Atem leise auf und ab.

Die Glocke schlägt, und Joachim von Orla fährt aus seinem ersten Schlaf. Er ist im Traum in die Kreuzerschlacht gefahren, und eine Glocke hat ihn in den Kommandoturm gerufen. Aber alles ist dunkel, kein Admiral ist da, der ihm den großen Auftrag erteilt, mit dem er, Joachim, die Schlacht entscheiden wird. Nur auf dem Schrank ihm gegenüber schimmert das Schiff aus Lindenholz in dem matten Licht, das durch das Straßenfenster fällt. Ansehen müsse man es, hat der Vater gesagt, daß es einen zum Dienst rufe. Weit ist der Vater, auf einem großen See, wo er der Herr ist über Adler, Reiher und Fische, und es sind nur noch fünfzig Tage, bis er alles das sehen wird. Und vielleicht tausend Tage, bis er als Kadett eintreten wird, um Flottenchef und Admiral zu werden. Der Vater hat zu früh aufgehört, aber er wird es wiedergutmachen … zuerst aber kommt das Kriegsspiel in nächster Woche, das ganz heimliche, und morgen gibt es Zitronenspeise, das hat Schwester Beate versprochen … gut ist die Schwester und wie das weiße Schaf anzufühlen, das die Mutter ihm zu Weihnachten geschenkt hat … er hält noch einmal den Atem an, um zu hören, ob Schwester Beate hinter der geöffneten Tür schläft, und als sie sich leise unter ihrer Decke bewegt, legt er sich wieder auf die Seite und macht die Augen zu … die lieber sein, als heißen wollte … so merkwürdige Dinge, die der Vater manchmal sagt …

 

Die Glocke schlägt von dem Kirchturm hinter den Kiefern, der Wecker schnarrt, und mit einem Sprung ist Joachim aus dem Bett, die Augen noch ohne Besinnung und schwer von Schlaf. Aber nur Frauen drehen sich noch einmal auf die andere Seite und betrügen Uhr und Tag. Die kalte Dusche rauscht, die Amseln flöten vor dem schmalen Fenster. Schwester Beate schwankt noch vor Müdigkeit, und er spritzt ihr das kalte Wasser ins Gesicht.

Dann ißt er sein Ei, die lateinische Grammatik neben dem Teller. Seine hellen Augen sind ganz wach und laufen die Spalten hinauf und hinunter.

»Heute schreibe ich die beste Arbeit, Schwester Beate«, sagte er.

Sie ist immer ein bißchen verwirrt unter seiner Klarheit und Sicherheit. Der Vater würde sicherlich nicht geglaubt haben, die beste Arbeit zu schreiben. »Du weißt alles so genau, Joachim«, seufzt sie. Er sieht sie von der Seite an und lächelt. »Das muß man auch, wenn man etwas werden will«, sagt er weise. »Sie möchten sowieso gern auf der Penne, daß alle dumm und faul sind, die ein ›von‹ vor dem Namen haben, aber für meine Person: Fehlanzeige, ihr Lieben!« Die Schwester lächelt, und einen Augenblick lang sieht sie die zerstreuten und traurigen Augen des Kapitäns vor sich. »Jaja, Joachim«, sagt sie in Gedanken, »sei nur tüchtig, daß der Vater sich freuen kann …«

Dann fährt er die stille Straße entlang, die Hände über der Brust gekreuzt. Der Wimpel an der Lenkstange flattert im Wind.

Die Glocken schlagen. Die Stunden gehen dahin. Er schreibt wirklich die beste Arbeit, und in der großen Pause trägt er die Sache mit dem Bankierssohn endgültig aus. Seine Nase blutet zwar, und ein langer Riß geht über seine linke Wange, aber der andere wird ausgezählt, nach einem prima Kinnhaken, und stößt mit dem Kopf an die Korridorwand, als er wieder in seine Klasse torkelt. Ekelhafter Bursche. Im Auto vorfahren und Kuchen fressen, das hat das Vaterland gerade nötig!

Er ist beliebt und etwas gefürchtet in der Klasse. Das Feuer springt zu schnell in seine grauen Augen. Aber niemals wird er Unanständigkeit in Haltung oder Gesinnung dulden. »Orla hat gesagt, das geht nicht.« Also fertig und erledigt. Den meisten Lehrern ist er etwas unheimlich, ein Pfeil, der immer gespannt auf der Sehne liegt. Aber der Direktor, Major der Landwehr, liebt ihn mehr als sein eigenes Kind. »Vom Vater gehört, Joachim?« – »Jawohl, Herr Direktor, fischt vom Morgen bis zum Abend und ißt wie ein Wolf!« Die grauen Augen leuchten, und die zerschrammten Hände liegen fest an der Naht der kurzen Hose. »Recht so!« sagt der Direktor und fährt ihm über den hellen Schopf. »Zeigt den Leuten, was Arbeit heißt. Fabelhafter Mann, dein Vater!«

Zum Schluß die Turnstunde, und noch einmal leuchtet Joachim. Wie eine Katze läuft er das Tau hinauf, und der Turnlehrer, immer verdrießlich, sieht ihm mit schrägen Augen nach. »Geh nur nicht gleich durch die Decke!« sagt er. Aber Joachim ist schon wieder unten. »Die Wanten sind höher«, bemerkt er nachlässig.

Die Finken schlagen, als er mittags heimfährt. An der Straßenecke stürzt er sich mit schrillem Geklingel auf den Hund des Nachbarn, und strahlend kommt er die Treppe herauf.

Ja, auch die Mutter ist einmal zu sehen. Er mag die Farben auf ihrem Gesicht nicht und hält ihr nur die Wange zum Kuß hin, die rechte. Aber als sie bei Tisch sitzen, will sie alles wissen, was er erlebt hat und wie seine Kameraden sind. Sie kennt fast alle Eltern, und der Vorort ist wie ein Dorf.

Er erzählt bereitwillig, noch ganz ohne Eitelkeit, aber im Bewußtsein des eigenen Wertes. Es ergibt sich, daß in der Klasse ein paar »prima Kerle« sind, aber auch, daß sie in Kleinigkeiten nicht ganz an ihn heranreichen. Auch daß Wohlhabenheit und Verträumtheit ihm als nebensächliche, wenn nicht gar verächtliche Dinge erscheinen.

Frau von Orla, mit tiefen Schatten unter den Augen, hört ihm halb ernsthaft und halb belustigt zu. Nur als er vom Gelde spricht, meint sie, er solle nicht so früh anfangen, die Wirklichkeiten des Lebens und der Macht geringzuschätzen. Schon der Vater habe bedenkliche Ansichten darüber.

Fabelhafter Mann, der Vater, habe der Direktor gesagt.

Ja, ja, meint sie lächelnd, nur würden die Werte des Lebens im allgemeinen nicht von Schuldirektoren bestimmt, eher schon von Bankdirektoren. Ob er denn auch später einmal, mit fünfundvierzig Jahren, als Fischer leben möchte?

Er denkt eine Weile nach, und wieder erscheinen die gespannten Falten auf seiner steilen Stirn. Nein, das möchte er nun wohl nicht, entscheidet er schließlich. Das sei zu wenig, wenn auch für einen Sommer wahrscheinlich sehr schön. Ein Kreuzer sei besser als ein Boot, und ein Geschwader besser als ein Kreuzer. Ein bißchen zu früh aufgehört habe der Vater, aber das werde er selbst schon am besten wissen.

Ja, meint Frau von Orla für sich, vielleicht habe er gar nicht angefangen gehabt, und da eben die Zitronenspeise erscheint, so hat Joachim auch nichts gehört.

Nur Schwester Beate sitzt die ganze Zeit in einer leisen Befangenheit da, und am Schluß will sie das Fischbesteck statt der Speiselöffel reichen. Ihre großen, den Tränen so leicht geöffneten Augen sehen das Gesicht des Kapitäns, wie es sich von der Treppe noch einmal zurückwendet … »Und der Junge, Schwester, hören Sie? Achten Sie mir auf den Jungen, Tag und Nacht!«

Gott weiß, daß sie es tut, aber so vieles dürfte nicht sein wie eben, und für vieles ist es wohl auch zu spät. Sie weiß, daß Kinder in vielen Dingen fertige Leute sind. Die Eltern wollen es meistens nicht wissen, aber sie weiß es. Man lebt nicht umsonst mit fremden Kindern, und sie zählt die fünfzig Tage ebenso wie Joachim. Wenigstens mit der Zitronenspeise ist es noch so, wie es sein soll.

Als Frau von Orla noch einmal Joachims Teller nimmt, bleibt die Spitze ihres losen Ärmels an einer Falte des Tischtuches hängen, und der leichte Stoff schiebt sich bis über den Ellbogen hinauf. »Sind das Narben, Mutter?« fragt Joachim und fährt mit dem Finger über die Beugung. Aber sie dreht das Gelenk hastig zur Seite und zieht den Ärmel herunter. Nein, es seien Mückenstiche, das Mädchen müsse die Drahtfenster wieder in den Schlafzimmern einsetzen. Sie ist blaß geworden und sieht Schwester Beate an, aber diese hat sich über einen leeren Glasteller gebeugt und zieht mit dem Finger die Linien des Schiffes nach.

Die Glocken der Kirche läuten, immer drei Töne in trauriger Folge hintereinander, und Schwester Beate läßt die Wäsche sinken, die sie mit der Nadel ausbessert, und denkt nach, wer in der Umgebung gestorben sein könnte. Aber es sterben so viele in dieser Zeit, nicht nur an Krankheiten, sondern an der Armut, an der Verzweiflung, ja am Hunger. Die Zeit hat den Besitz gefressen, schwindelnd schnell, und nun, da die Scheine schon zehnstellige Zahlen tragen, kommt die Nachernte. Sie trifft die alten Exzellenzen wie die neuen Reichen, nur daß jene leiser dahinzugehen pflegen als diese. Das Land ist wie ein kranker Wald, in dem die Bäume gezeichnet werden, und die Glocken läuten jeden Tag. Sie seufzt und sieht verstohlen auf das Kind.

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