Das Geheimnis der alten Mamsell

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Es zogen wohl auch phantastisch geformte, weiße leuchtende Wölkchen droben über den Baumwipfel – dann stand plötzlich eine rätselhafte Vergangenheit vor den Augen des tief sinnenden Kindes. Weiß und leuchtend war ja auch das Gewand der Mutter gewesen; das Kerzenlicht hatte sich förmlich in dem milchweißen Glanze des Stoffes gespiegelt, der lang und mit Blumen bestreut über das vermeintliche schmale Bett herabgeflossen war. Felicitas wunderte sich noch immer, daß die Mutter Blumen in den Händen gehabt und ihr keine einzige geschenkt hatte; sie grübelte und sann, weshalb man ihr damals nicht erlauben wollte, die Mama wach zu küssen, was doch sonst jeden Morgen unter gegenseitiger Schelmerei, zum großen Jubel des Kindes, hatte geschehen dürfen – sie wußte nicht, daß das bezaubernde Mutterantlitz, welches sich stets in leidenschaftlicher Zärtlichkeit über sie herabgeneigt, längst unter der Erde moderte. Hellwig hatte nie gewagt, ihr die Wahrheit zu sagen; denn wenn sie auch nach einem Zeitraume von fünf Jahren nicht mehr so bitterlich weinend und mit stürmischer Heftigkeit nach den Eltern verlangte, so sprach sie doch stets mit rührender Zärtlichkeit von ihnen und hielt ihres Pflegevaters doppelsinniges Versprechen, daß sie die Ihrigen dereinst wiedersehen werde, mit unzerstörbarer Ueberzeugung fest. Ebensowenig kannte sie den Beruf ihres Vaters; er selbst hatte es so gewünscht, und deshalb sah Hellwig streng darauf, daß niemand im Hause mit der Kleinen von der Vergangenheit spreche. Es fiel ihm nicht ein, daß der wohlthätige Schleier, den er vor ihren Augen festhielt, vor der Zeit seiner Hand entfallen könne – er dachte nicht an seinen eigenen Tod; und doch schritt dies furchtbare Gespenst längst unhörbar, aber sicher neben ihm. Er war unheilbar brustleidend, allein, wie alle derartigen Kranken, hatte er die unerschütterlichsten Lebenshoffnungen. Er mußte bereits auf dem Rollstuhle in seinen geliebten Garten gefahren werden – das nannte er vorübergehende Schwäche, die ihn durchaus nicht hinderte, großartige Bau- und Reisepläne zu entwerfen.



Eines Nachmittags trat Doktor Böhm in Hellwigs Zimmer. Der Kranke saß an seinem Schreibtische und schrieb emsig; verschiedene Kissen, die man hinter seinem Rücken und zu beiden Seiten in den Lehnstuhl gesteckt hatte, hielten die abgezehrte gebrochene Gestalt aufrecht.



»Heda!« rief der Doktor, indem er mit dem Stocke drohte. »Was sind denn das für Extravaganzen? .. Wer, ins Henkers Namen, hat dir denn das Schreiben erlaubt? Willst du wohl gleich die Feder hinlegen!«



Hellwig drehte sich um – ein heiteres Lächeln spielte um seine Lippen. »Da hast du wieder einmal das Exempel!« erwiderte er sarkastisch. »Doktor und Tod gehören zusammen ... Ich schreibe da an den Jungen, den Johannes, über die kleine Fee, und da fällt mir, der ich in meinem ganzen Leben nie weniger ans Sterben gedacht hatte, als gerade jetzt, in dem Augenblicke, wo du ins Haus trittst, der Satz da aus der Feder.«



Der Doktor bog sich nieder und las laut: »Ich halte viel von Deinem Charakter, Johannes, und würde deshalb auch unbedingt die Sorge um das mir anvertraute Kind in Deine Hände legen, falls ich früher aus der Welt gehen sollte, als –«



»Basta, und nun für heute kein Wort weiter!« sagte der Lesende, während er einen Kasten aufzog und den halbvollendeten Brief hineinlegte. Dann griff er rasch nach dem Pulse des Kranken, und sein Blick glitt verstohlen über die zwei zirkelrunden roten Flecken, die auf den scharf hervortretenden Backenknochen glühten.



»Du bist wie ein Kind, Hellwig!« schalt er. »Ich darf nur den Rücken wenden, so machst du sicher dumme Streiche.«



»Und du tyrannisierst mich himmelschreiend. Aber warte nur, mit nächstem Mai brenne ich dir durch, und dann magst du mir meinetwegen bis in die Schweiz nachlaufen.«



Tags darauf standen die Fenster des Krankenzimmers im Hellwig'schen Hause weit offen. Ein durchdringender Moschusduft quoll hinaus in die Straße, und ein Mann in Trauerkleidung schritt durch die Stadt, um den Honoratioren im Auftrage der trauernden Witwe anzuzeigen, daß Herr Hellwig vor einer Stunde das Zeitliche gesegnet habe.





Kapitel 6



Unter dem grünverhangenen, nach der Hausflur mündenden Fenster, da, wo vor fünf Jahren die schöne unglückliche Frau des Taschenspielers die Pein tiefer Demütigung erlitten hatte, stand der Sarg mit Hellwigs sterblichen Ueberresten. Man hatte die Hülle des ehemaligen Kauf- und Handelsherrn noch einmal mit allem Glanze des Reichtums umgeben. Massiv silberne Handhaben schimmerten am Totenschreine, und das Haupt des Heimgegangenen ruhte auf einem weißen Atlaskissen. – Schrecklicher Kontrast! Neben dem eingefallenen Totengesichte dufteten frisch abgeschnittene Blumen, junges, unschuldiges Leben, bestimmt, vor der Zeit zu sterben, zur Ehre des Toten!



Viele Leute kamen und gingen, flüsternd und geräuschlos. Der da lag, war ein reicher, angesehener und sehr freigebiger Mann gewesen, aber nun war er ja tot. Fast aller Augen huschten scheu und rasch über die bleichen, zerstörten Züge und konnten sich nicht satt sehen an dem Prunke, dem letzten Aufflackern irdischer Herrlichkeit.



Felicitas kauerte in einer dunklen Ecke, hinter den Kübeln mehrerer Oleander und Orangenbäume. Zwei Tage hatte sie den Onkel nicht sehen dürfen, das Sterbezimmer war fest verschlossen gewesen, und nun kniete sie da auf den kalten Steinfliesen und starrte hinüber auf dies völlig fremde Haupt, dem der Tod selbst



das Gepräge unbegrenzter Gutmütigkeit weggewischt hatte ... Was hatte das Kind vom Sterben gewußt! Sie war in seinen letzten Augenblicken bei ihm gewesen und hatte doch nicht verstanden, daß mit dem Blutstrome, der über seine Lippen geflossen, plötzlich alles enden müsse. Er hatte die Augen mit einem unbeschreiblichen Ausdrucke auf sie geheftet, als sie aus dem Zimmer geschickt worden. Draußen in der Straße war sie tief besorgt und zornig vor den weit offenen Fenstern des Krankenzimmers auf und ab gelaufen – sie wußte ja, er hütete sich ängstlich vor jedem Zuglüftchen, und nun waren sie so rücksichtslos da drinnen. Sie hatte sich gewundert, daß abends kein Feuer im Kamin gemacht werde, und auf ihre endliche Bitte, dem Onkel die Lampe und den Thee hineintragen zu dürfen, hatte Friederike ärgerlich gerufen: »Ja, Kind, ist's denn nicht richtig bei dir, oder verstehst du kein Deutsch? Er ist ja tot, tot!« Nun sah sie ihn wieder, bis zur Unkenntlichkeit entstellt, und jetzt fing das Kind an, zu begreifen, was Tod sei.



Sobald ein frischer Strom Neugieriger die Hausflur füllte, kam Friederike aus der Küche, hielt den Schürzenzipfel vor die Augen und pries die Tugenden des Mannes, den sie zu ärgern gesucht hatte, wo sie konnte.



»Da seh' einer das Mädchen an!« unterbrach sie sich zornig, als sie Felicitas' blasses Gesichtchen mit den heißen, trockenen Augen zwischen den Orangenbäumen entdeckte. »Ob sie auch nur eine einzige Thräne vergießt! ... Undankbares Ding! Sie muß doch auch keinen Funken von Liebe in sich haben!«



»Du hast ihn nie lieb gehabt und weinst, Friederike!« entgegnete die Kleine schlagend, aber mit völlig tonloser Stimme, und zog sich tiefer in ihre Ecke zurück.



Die Hausflur leerte sich allmählich. Statt der Schaulustigen aus den niederen Ständen, die sich jetzt draußen auf dem Markte postierten, um den Leichenzug mit anzusehen, erschienen vornehme, schwarzbefrackte Herren; sie gingen, nach kurzem Aufenthalte am Sarge, in das Wohnzimmer, um der Witwe ihr Beileid auszusprechen. In der großen, hochgewölbten Flur herrschte augenblickliche Stille, sie hätte eine feierliche genannt werden können, wäre sie nicht hier und da durch das Stimmengesurr drin im Zimmer unterbrochen worden.



Da fuhr die kleine Felicitas jäh aus ihrem tiefen Sinnen auf und starrte erschrocken nach der Glasthür, die in den Hofraum führte. Dort hinter den Scheiben erschien ein merkwürdiges Gesicht – er lag doch hier mit den tief eingesunkenen Augen und den unbekannten Zügen um den festgeschlossenen Mund, und dort blickte er forschend in die menschenleere Flur, wiedererstanden mit dem gütevollen Ausdruck des Gesichts, wenn auch der Kopf in fremdartiger Weise umhüllt erschien ... War es doch fast gespenstig, als das Thürschloß sich leise bewegte, und gleich darauf die Thür geräuschlos aufging ... Die seltsame Erscheinung trat auf die Schwelle. Ja, es waren Hellwigs Züge in frappanter Aehnlichkeit, aber sie gehörten einem weiblichen Wesen, einer kleinen alten Dame, die in wunderlicher, dem Reiche der Mode längst entrückter Tracht langsam auf den Sarg zuschritt. Ein sogenanntes Zwickelkleid von schwerem schwarzen Seidenstoffe, vollkommen faltenlos, spannte sich förmlich über sehr eckige, magere Formen; es war kurz und ließ ein Paar wunderkleiner Füßchen sehen, die jedoch ziemlich unsicher auftraten. Ueber der Stirn kräuselte sich eine Fülle schöngeordneter, schneeweißer Locken, und darüber lag ein klar durchsichtiges, schwarzes Spitzentuch, das unter dem Kinne gebunden war.



Die alte Dame bemerkte das Kind nicht, das unbeweglich und atemlos zu ihre aufsah, und trat an den Sarg heran. Sie fuhr bei Erblicken des Totenantlitzes sichtlich entsetzt zurück, und ihre linke Hand ließ wie unbewußt ein Bouquet köstlicher Blumen auf die Brust der Leiche fallen. Einen Augenblick verbarg sie ihre Augen im Taschentuche, dann aber legte sie die Rechte, tief erschüttert, in feierlich beschwörender Weise auf die kalte Stirn des Toten.



»Weißt du nun, wie alles zusammenhing, Fritz?« flüsterte sie. »Ja, du weißt es – du weißt es, wie ja auch längst dein Vater und deine Mutter es wissen! ... Ich habe dir verziehen, Fritz – du wußtest ja nicht, daß du unrecht thatest! ... Schlaf wohl – schlaf wohl!«



Sie nahm die wachsbleiche Hand des Verstorbenen noch einmal zärtlich zwischen ihre beiden Hände; dann trat sie vom Sarge zurück und wollte sich ebenso geräuschlos entfernen, wie sie gekommen war. In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür des Wohnzimmers, und Frau Hellwig trat heraus. Ihr Gesicht erschien unter der schwarzen Krepphaube weißer als Marmor, aber die Unbeweglichkeit ihrer Züge trat auch schärfer hervor denn je – man suchte vergebens nach der leisesten Spur vergossener Thränen an diesen Augen. Sie hielt einen plumpen Kranz von Dahlien in den Händen, offenbar, um ihn als letzte »Liebesgabe« auf den Sarg zu legen.

 



Ihr überraschter Blick begegnete dem der alten Dame. Beide blieben einen Moment wie angewurzelt stehen, aber in den Augen der Witwe begann es unheimlich zu glühen, ihre Oberlippe hob sich ein wenig und ließ einen der weißen Vorderzähne sehen – es lag etwas wie von unauslöschlicher Rachsucht in diesem Ausdrucke ... Auch die Züge der alten Dame verrieten eine tiefe Erregung, sie schien mit einem unsäglichen Widerwillen zu kämpfen, aber sie überwand ihn, und mit einem sanften, feuchten Blicke auf den Verstorbenen hielt sie Frau Hellwig die Rechte hin.



»Was wollen Sie hier, Tante?« fragte die Witwe kurz, indem sie die Bewegung der kleinen Dame völlig ignorierte.



»Ihn segnen!« lautete die milde Antwort.



»Der Segen einer Ungläubigen hat keine Macht.«



»Gott hört ihn – Seine ewige Weisheit und Liebe wägt nicht zwischen der armseligen Form – wenn er aus treuem Herzen kommt –«



»Und aus schuldbeladener Seele!« ergänzte Frau Hellwig in beißendem Hohne.



Die alte Dame richtete sich hoch auf.



»Richtet nicht,« begann sie und hob feierlich drohend den Zeigefinger – »doch nein,« unterbrach sie sich mit unbeschreiblicher Milde und blickte auf den Toten, »auch nicht ein Wort mehr soll deinen heiligen Frieden stören ... Leb wohl, Fritz!«



Sie ging langsamen Schrittes zurück in den Hofraum und verschwand hinter einer Thür, die Felicitas bis dahin stets verschlossen gefunden hatte.



»Nun, das war doch stark von der alten Mamsell!« zischelte Friederike, die von der Küchenthür aus den Vorgang beobachtet hatte.



Frau Hellwig zuckte schweigend die Achseln und legte den Kranz zu Füßen der Leiche. Noch war sie nicht Herr ihrer inneren Erregung. So ungeübt die Züge dieser Frau im Ausdrucke weiblicher Milde und Sanftmut waren, so unbeweglich und wandellos sie auch in ihrer eisernen Strenge erschienen, in Haß und Verachtung wurden sie unheimlich lebendig – wer einmal das schlimme Lächeln gesehen hatte, das in solchen Momenten ihre Mundwinkel tief herabzog, der traute der Ruhe dieses Gesichts nicht mehr. Sie bog sich über den Verstorbenen, anscheinend, um etwas an dem Arrangement zu ändern; ihre Hand stieß dabei an das Bouquet der alten Dame – es rollte über den Rand des Sarges und fiel zu Felicitas' Füßen nieder.



Draußen schlug es drei. Mehrere Geistliche im Ornate traten in die Hausflur; auch die Herren kamen aus dem Wohnzimmer, und ihnen folgte Nathanael neben einer hochaufgeschossenen, schmächtigen Jünglingsgestalt. Die Witwe hatte ihrem Sohne Johannes die Todesnachricht telegraphisch mitgeteilt, und heute morgen war er gekommen, um der Begräbnisfeierlichkeit beizuwohnen. Die kleine Felicitas vergaß für einen Augenblick ihre Leid und sah mit der ganzen Neugier des neunjährigen Kindes zu ihm empor, welcher der Liebling des Vaters gewesen war ... Weinte er wohl hinter der schmalen, mageren aber wohlgepflegten Hand, die er beim Anblicke des Dahingeschiedenen über seine Augen gelegt hatte? ... Nein, es rollte keine Thräne herab, und ein ungeübtes Auge, wie das des Kindes, konnte außer einer ungewöhnlichen Blässe auch sonst kein Merkmal der Erschütterung an dem ernsten Gesichte bemerken.



Nathanael stand neben ihm. Er vergoß viele Thränen, aber sein Kummer hinderte ihn nicht, den Bruder leise flüsternd anzustoßen, als er Felicitas in ihrem Schlupfwinkel entdeckte. Johannes' Blick folgte der Richtung des brüderlichen Zeigefingers. Zum ersten Male hefteten sich diese Augen auf das Gesicht des Kindes – es waren schreckliche Augen, ernst, finster, ohne das Licht des Wohlwollens und der inneren Wärme. In der Bibel war ein Bild des Evangelisten, des Lieblingsschülers Jesu, ein sanftes, schönes Gesicht mit fast weiblich weichen Linien – »das ist der Johannes am Rhein«, hatte sie stets behauptet, und der Onkel hatte lächelnd dazu genickt ... Sie hatten nichts miteinander gemein, jene lieblichen, von hellem Gelock umrahmten Züge und dieser Kopf mit den schlichten, kurzgeschnittenen Haaren und dem tiefernsten, blassen, unregelmäßigen Profil.



»Geh fort, Kind, du bist hier im Wege!« gebot er streng, als er sah, daß man Anstalten machte, den Sarg zu schließen. Felicitas verließ beschämt und erschrocken, als habe sie Strafe verdient, den Winkel und schlich, ungesehen von den anderen, in ihres Pflegevaters ehemaliges Zimmer.



Jetzt weinte sie bitterlich ... Ihm war sie nicht im Wege gewesen! Sie fühlte seine fieberhafte Hand wieder auf ihrem Scheitel und hörte seine gute, schwache Stimme, wie in den letzten Tagen, heiser flüstern: »Komm, Fee, mein Kind, ich hab' es so gern, wenn du bei mir bist ...!«



Horch, was war das für ein Hämmern draußen? Es scholl mißtönig durch den hochgewölbten Raum, wo doch die vielen Menschen kaum zu flüstern wagten. Felicitas hob verstohlen den grünen Vorhang und sah hinaus in die Flur ... Schrecklich! die Gestalt des Onkels war verschwunden; dort der schwarze Deckel lag auf seinem lieben Gesichte und hielt ihn für immer unerbittlich fest in der ausgestreckten Stellung. Wenn er nur ein wenig die Hand hob, stieß sie überall an harte, fest zusammengefügte Bretter ... und dort klopfte der Mann abermals und rüttelte an dem Deckel, ob er auch fest säße, ob ihn nicht die Hand da drin zurückstoßen könne, – da drin in der tiefen Dunkelheit des engen Kastens, da drin, wo man nicht atmen konnte, wo man so furchtbar allein war ... Die Kleine schrie laut auf vor Entsetzen.



Aller Augen richteten sich verwundert auf das Fenster, aber Felicitas sah nur die großen, grauen, deren Blick sie vorhin so tief erschreckt hatte. Er blickte strafend herüber; sie verließ das Fenster und flüchtete sich hinter den großen, dunklen Vorhang, der das Zimmer in zwei Hälften teilte. Dort kauerte sie sich nieder und blickte furchtsam nach der Thür, wo er gewiß eintreten und sie scheltend hinausführen würde.



In ihrem Verstecke sah sie nicht, wie draußen die Träger den Sarg auf die Schultern nahmen, wie der Onkel sein Haus verließ für immer. Sie sah nicht den langen, schwarzen, unheimlichen Zug, der dem Verstorbenen folgte, wie der letzte Schatten auf dem nun vollendeten Lebenswege ... Dort an der Ecke hob ein Luftzug alle die prächtigen weißen Atlasbänder, die am Sarge niederhingen – sie flatterten hoch auf; war es der letzte Gruß des Geschiedenen für das verlassene Kind, das eine zärtlich besorgte Mutter dem trüben Sumpfe der väterlichen Laufbahn entrissen hatte, um es unwissentlich an einen öden, unwirtbaren Strand zu werfen?





Kapitel 7



Das Stimmengemurmel in der Flur war plötzlich verstummt – und es folgte tiefe Stille. Felicitas hörte, wie die Hausthür geschlossen wurde; aber sie wußte nicht, daß damit das Drama in der Hausflur zu Ende sei. Noch wagte sie sich nicht aus ihrem Winkel hervor. Sie saß auf dem kleinen, gepolsterten Lehnstuhle, den der Onkel ihr am letzten Weihnachtsabend geschenkt, und das Köpfchen ruhte auf ihren beiden Händen, die sich auf dem Tische kreuzten. Ihr Herz klopfte nicht mehr so ängstlich, aber hinter der kleinen, gesenkten Stirn hämmerte es, und die Gedanken reihten sich in fieberhafter Schnelligkeit aneinander. Sie dachte auch an die kleine, alte Dame, deren Bouquet draußen auf den Steinfliesen lag und wahrscheinlich von den unachtsamen Leuten zertreten wurde ... Das war also die »alte Mamsell« gewesen, jene Einsame hoch droben unter dem Dache des Hinterhauses, der stete Zankapfel zwischen der Köchin und Heinrich! Nach Friederikes Aussage hatte die alte Mamsell Furchtbares auf dem Gewissen – sie sollte schuld sein an ihres Vaters Tode. Die haarsträubende Geschichte hatte der kleinen Felicitas stets Furcht und Entsetzen eingeflößt; aber jetzt war das vorbei ... Die kleine Dame mit dem guten Gesichte und den Augen voll sanfter Thränen eine Vatermörderin! Da hatte Heinrich sicher recht, wenn er beharrlich den dicken Kopf schüttelte und ebenso konsequent den geistreichen Satz aufstellte, das müsse anders zusammenhängen!



Vor Jahren hatte die alte Mamsell auch hier unten im Vorderhause gewohnt, aber, wie sich die alte Köchin mit immer neu aufloderndem Zorne ausdrückte – sie war nicht davon abzubringen gewesen, Sonntagnachmittags unheilige Lieder und lustige Weisen zu spielen. Die »Madame« hatte ihr Himmel und Hölle vorgestellt, aber das war alles umsonst gewesen, bis kein Mensch im Hause den Greuel mehr mit anhören konnte – da hatte Herr Hellwig seiner Frau den Willen gethan, und die alte Mamsell hatte hinauf gemußt unters Dach ... Dort wäre sie unschädlich, meinte Friederike stets, und man mußte ihr recht geben, denn man hörte nie auch nur einen Laut des verpönten Klavierspiels im Hause ... Der Onkel mußte jedenfalls sehr böse auf die alte Mamsell gewesen sein, denn er hatte nie von ihr gesprochen; und doch war sie seines Vaters Schwester und sah ihm so ähnlich ... Eine heiße Sehnsucht erfaßte die kleine Felicitas bei dem Gedanken an diese Aehnlichkeit – sie wollte hinauf in die Dachwohnung, aber da stand ja der finstere Johannes – das Kind schüttelte sich vor Angst – und die alte Mamsell steckte jahraus, jahrein hinter Riegeln und Schlössern.



Am Ende eines langen abgelegenen Korridors, dicht an der Treppe, die aus den unteren Stockwerken herauf führte, war eine Thür. Nathanael hatte einmal, als sie da droben spielten, leise zu ihr gesagt: »Du, da droben wohnt sie!« dann hatte er, mit beiden Fäusten auf die Thür schlagend, laut geschrieen: »Alte Dachhexe, komm herunter!« und war in schleuniger Flucht die Treppe hinabgelaufen. Wie hatte da das Herz der kleinen Felicitas vor Angst und Schrecken geklopft! denn sie war keinen Augenblick im Zweifel gewesen, es müsse ein schreckliches Weib mit einem großen Messer in der Hand hervorstürzen und sie bei den Haaren fassen ...



Es fing an, leise zu dämmern. Drüben am Rathause huschte der letzte goldene Schein der Herbstsonne um das Giebelkreuz, und auf der großen Wanduhr drin im Zimmer schlug es langsam und rasselnd fünf – sie hatte genau so eintönig und langsam jene drei Schläge herabgerasselt, nach welchen ihr ehemaliger Besitzer, der sie lange Jahre hindurch pünktlich und mit liebevoller Vorsicht bedient, hinausgetragen worden war.



Bis dahin war es ziemlich still im ganzen Hause geblieben; aber jetzt wurde die Thür des Wohnzimmers plötzlich geöffnet, und harte, feste Schritte schollen durch die Flur. Felicitas zog ängstlich den Vorhang an sich heran, denn Frau Hellwig näherte sich dem Zimmer des Onkels. Das erschien dem Kinde wunderbar neu; es war nie vorgekommen, daß die große Frau bei Lebzeiten ihres Mannes je diese Schwelle betreten hatte ... Sie kam ungewöhnlich rasch herein, schob leise den Nachtriegel vor und blieb dann einen Augenblick mitten im Zimmer stehen. Es war ein Ausdruck unsäglichen Triumphes, mit welchem diese Frau ihre Blicke langsam durch den so lange streng gemiedenen Raum gleiten ließ.



Ueber Hellwigs Schreibtisch hingen zwei schöngemalte Oelbilder, ein Herr und eine Dame. Die letztere, ein stolzes Gesicht, aus dessen Augen aber Geist und Lebenslust sprühte, war in jener Tracht, welche so unschön die altgriechische nachzuahmen sucht. Die kurze Taille, die ein weißer leuchtender Seidenstoff umschloß, wurde noch verkürzt durch einen roten, golddurchwirkten Gürtel; Brust und Oberarme, fast zu üppig geformt und nur sehr wenig bedeckt, harmonierten in ihrer herausfordernden Schönheit durchaus nicht mit dem anspruchslosen, züchtigen Veilchenstrauße, der im Gürtel steckte ... Es war Hellwigs Mutter.



Vor dieses Bild trat die Witwe jetzt; sie schien sich einen Moment daran zu weiden. Dann stieg sie auf einen Stuhl, hob es von seiner gewohnten, langjährigen Stell und schlug vorsichtig, ohne großes Geräusch einen neuen Nagel inmitten der zwei alten, an welchen sie das männliche Brustbild, Hellwigs Vater, hing. Es blickte jetzt einsam hernieder, während die Witwe den Stuhl verließ und, das weibliche Porträt in der Hand, aus dem Zimmer ging ... Felicitas' gespanntes Ohr folgte ihren Schritten durch die Hausflur, über die erste Treppe – sie stieg immer höher in dem widerhallenden Treppenhause – wahrscheinlich bis in den Bodenraum.



Sie hatte die Thür nicht völlig hinter sich geschlossen, und als ihr letzter Schritt droben verhallt war, da erschien Heinrichs scheues Gesicht in der Spalte.

 



»Na, da haben wir's, Friederike!« rief er mit gedämpfter Stimme, der man aber den Schrecken anhörte, in die Flur zurück. »Es war richtig der sel'gen Frau Kommerzienrätin ihr Bild!«



Die alte Köchin riß die Thür weit auf und sah herein.



»Ach, du meine Güte, wirklich!« rief sie, die Hände zusammenschlagend. »Herr Je, wenn das die stolze Frau wüßte, die drehte sich in der Erde um – und der sel'ge Herr erst! ... Na, sie war aber auch zu schrecklich angezogen – so bloß auf der Brust – ein Christenmensch mußte sich schämen!«



»Meinst du?« entgegnete Heinrich, schlau mit den Augen blinzelnd. »Ich will dir was sagen, Friederike,« fuhr er fort und legte abzählend den Zeigefinger der Rechten gegen den linken Daumen. »Die alte Frau Kommerzienrätin hat's durchaus nicht leiden wollen, daß unser Herr die ›Madame‹ genommen hat – das kann ihr die Madame zum ersten nicht vergessen. Zum zweiten war sie eine fidele Frau, die gern was mitmachte und am liebsten da war, wo lustig aufgespielt wurde, und zum dritten – hat sie unsere Madame einmal eine herzlose Betschwester geschimpft ... Merkst du was?«



Während Heinrichs Beweisführung war Felicitas aus ihrem Verstecke hervorgekommen. Das Kind fühlte instinktmäßig, daß es an dem rauhen, aber grundgutmütigen alten Burschen von nun an die einzige Stütze im Hause haben werde. Er hatte sie sehr lieb, und seinen stets wachsamen Augen dankte es die Kleine hauptsächlich, daß sie bis dahin in glücklicher Unwissenheit über ihre Vergangenheit geblieben war.



»Na, Feechen, da bist du ja!« sagte er freundlich und nahm ihre kleine Hand fest in seine schwielige Rechte. »Ich hab' dich schon in allen Ecken gesucht ... Komm mit 'nüber in die Gesindestube; denn hier wirst du ja doch nicht mehr gelitten, armes Ding! ... wenn gar die alten Bilder fort müssen, nachher –«



Er seufzte und drückte die Thür zu; Friederike war bereits eilig in die Küche zurückgekehrt, denn man hörte die Schritte der herabsteigenden Frau Hellwig.



Felicitas sah sich scheu um in der Hausflur – sie war leer; da, wo der Sarg gestanden hatte, lagen zertretene Blumen und Blätter am Boden.



»Wo ist der Onkel?« fragte sie flüsternd, indem sie sich widerstandslos von Heinrich nach der Gesindestube führen ließ.



»Nu, sie haben ihn fortgetragen; aber du weißt ja doch, Kindchen, er ist nun im Himmel – da hat er's gut, besser als auf der Erde,« antwortete Heinrich wehmütig.



Er nahm seine Mütze vom Nagel und ging fort, um einen Auftrag in der Stadt zu besorgen.



In der Gesindestube herrschte bereits starke Dämmerung. Seit Heinrichs Weggange kniete Felicitas auf der Holzbank, die unter den eng vergitterten Fenstern weglief, und blickte unablässig in das Stückchen dunkelnden Himmels droben über den Giebelhäusern der schmalen, steilen Gasse, wo ja der Onkel nun sein sollte ... Sie fuhr erschrocken zusammen, als Friederike mit der Küchenlampe eintrat. Die alte Köchin stellte einen Teller mit Butterbrot auf den Tisch.



»Komm her, Kind, und iß – da ist dein Abendbrot!« sagte sie.



Die Kleine kam näher, aber sie rührte das Essen nicht an; sie griff nach ihrer Schiefertafel, die Heinrich aus des Onkels Zimmer herübergebracht, und fing an zu schreiben. Da kamen hastige Schritte durch die anstoßende Küche, und gleich darauf steckte Nathanael seinen blonden Kopf durch die offenen Thür. Felicitas zitterte, denn er war stets sehr ungezogen, wenn er sich mit ihr allein sah.



»Ah, da sitzt ja Jungfer Fee!« rief er in einem Tone, den Felicitas so sehr an ihm fürchtete. »Hör mal, du ungezogenes Ding, wo hast du denn die ganze Zeit über gesteckt?«



»In der grünen Stube,« antwortete sie, ohne aufzublicken.



»Du, das probiere nicht noch einmal!« sagte er drohend. »Da hinein gehörst du jetzt nicht mehr, hat die Mama gesagt ... Was schreibst du denn da?«



»Meine Arbeit für Herrn Richter.«



»So – für Herrn Richter,« wiederholte er und wischte dabei mit einer raschen Bewegung das Geschriebene von der Tafel. »Also du bildest dir ein, Mama wäre so dumm, die teuren Privatstunden noch für dich zu bezahlen? ... Sie wird sich hüten. Das ist alles vorbei, hat sie gesagt ... Du kannst nun wieder dahin gehen, wo du hergekommen bist – nachher wirst du das, was deine Mutter war, und dann machen sie es mit dir auch so« – er legte die Hände gegen die Wange, machte die Pantomime des Sc