Die zweite Frau

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6.

Da stand die junge Dame allein, inmitten einer wildfremden Umgebung. Im ersten Augenblicke gab sie dem Gefühle einer fast sinnlosen Angst nach – sie lief durch die Gemächer und griff auf jedes Thürschloß; nein, sie war nicht gefangen, selbst die ins Freie führende Glasthür des einen Salons flog sofort unter dem Drucke ihrer Hand auf, und nichts hinderte sie, das Haus flüchtend zu verlassen ... Flüchten? War sie denn nicht freiwillig hierhergekommen? Hatte es nicht doch einzig und allein in ihrer Hand gelegen, nein zu sagen, trotz der grimmig drohenden Blicke der Mutter und der Bitten der Geschwister? ... Sie hatte sich stumpfsinnig einem furchtbaren Irrtume hingegeben, und an diesem Irrtume trug ihr Institutsleben die Schuld. Die meisten ihrer Mitschülerinnen, Töchter der ältesten Adelsfamilien, hatten schon nicht mehr über ihre Hand zu verfügen gehabt; sie waren durch Uebereinkommen der Eltern versprochen gewesen und waren fast alle vom Institute aus durch einen sehr kurzen, erklärten Brautstand in die Ehe gegangen, ja, eine derselben, eine schöne junge Dame, von welcher Liane wußte, daß sie eine tiefe Liebe zu einem Bürgerlichen im Herzen trug, hatte sich, ohne ein Wort des Widerspruchs, mit einem alternden Standesherrn verheiratet ... Unter dem Einfluß dieser Erfahrungen und Anschauungen und bestärkt durch Mutter und Geschwister, hatte sie gewähnt, daß dazu gar kein besonderer Entschluß gehöre – vielmehr ergebe er sich von selbst aus den gebotenen Verhältnissen. Magnus und Ulrike hatten sie retten wollen aus der Hölle daheim, und sie hatte sich retten lassen – nicht das mindeste Recht stand ihr zu, Mainau anzuklagen, daß er sie betrogen habe. Sie brachte ja auch nichts mit, als den guten Willen, treulich den neuen Pflichten zu leben. Wie fielen ihr jetzt die Schuppen von den Augen! Sie war für immer losgetrennt von denen, die sie liebte, und hatte nicht die geringste Hoffnung, für dieses Aufgeben je entschädigt zu werden; ja, sie mußte sich auf eine Art Gefrierpunkt dem Manne gegenüberstellen, an den sie zeitlebens gekettet war, der ihr keine Liebe geben konnte und nichts weniger wünschte, als von ihr geliebt zu werden ... Ein ganzes langes Leben in der Fremde ohne das Gefühl, einwurzeln zu dürfen durch gegenseitige Sympathie! ...

Sie warf einen Blick nach oben – er blieb in Wolken von strahlend blauem Atlas hängen. Jetzt erst sah sie, daß dieser glänzende Stoff sie umriesele, als schwimme sie im Aether ... Nach der bitteren Ironie, mit welcher Mainau von ihr gesprochen, mochte die Frau, die hier gewohnt, wohl ein eigensinniges Köpfchen gewesen sein, ein verzogenes Kind, das in übler Laune mit den kleinen Füßen stampfte und den zarten, verwöhnten Körper rücksichtslos hintenüberwarf, und das konnte sie hier ungestraft – unter den Füßen schwoll ein zolldicker, mit blauen Cyanen bestreuter Teppich, und in dem ganzen kleinen, üppigen Boudoir war nicht eine harte Holzkante zu sehen – Polster und weicher, gleißender Atlas, wohin man sah! ... Liane öffnete ein Fenster – diese Verstorbene mußte sich in Jasminduft förmlich gebadet haben; er füllte betäubend die Luft und entströmte selbst den Gardinen und Wandbehängen. Zog nicht in diesem Augenblicke, wo die zweite Frau mit dem eigenmächtigen Oeffnen des Fensters gleichsam von diesen Räumen Besitz ergriff, »die flatternde, aus Spitzen gewobene Seele«, die auf den Engelsflügeln strenger Frömmigkeit in den Himmel zurückgekehrt sein sollte, zürnend und aufseufzend droben am Plafond hin? Wie ein Hauch, und doch bestimmt, hatte der weiche Klagelaut einer Frauenstimme Lianens Ohr berührt. Sie blieb mit zurückgehaltenem Atem stehen und horchte. Da trat das Kammermädchen ein, um zu melden, daß zur Toilette alles vorgerichtet sei.

»Was ist das?« fragte die junge Dame – sie war im Begriff, über die Schwelle des Nebenzimmers zu gehen, als jener eigenthümliche Klang wieder durch das Zimmer schwebte – diesmal kam er unbestritten durch das Fenster.

»Da drüben in dem Baume hängen Windharfen, gnädige Frau,« versetzte das Mädchen.

Sie sah hinüber und schüttelte den Kopf. »Aber es rührt sich ja kein Lüftchen!«

»Vielleicht kommt es von dorther, wo die Frau seit vielen Jahren krank liegt,« meinte sie und zeigte nach dem fern vorüberlaufenden Drahtgitter, hinter welchem ein rötlich blinkender Obelisk in die Lüfte stieg. »Ich weiß es nicht – ich bin selbst erst seit acht Tagen in Schönwerth ... Die Leute kümmern sich nicht darum, und in der Küche sagten sie nur, sie hätte das Gnadenbrot im Hause – schrecklich – sie soll nicht einmal getauft sein ... Hinter das Gitter traue ich mich nicht – ich fürchte mich vor dem großen, türkischen Ochsen, und die Bäume wimmeln von Affen – greuliche Tiere - puh!«

Liane ging schweigend in das Nebenzimmer und überließ sich den flinken Händen der Redseligen. Diesmal rauschte und klirrte der Silberstoff um die bräutliche Gestalt her, und als sie nach einer halben Stunde im blauen Boudoir Mainau entgegentrat, da fuhr er sichtlich zurück ... Die »Hopfenstange« verstand es, die Silberschleppe zu tragen, die »Hopfenstange« hatte Schultern und Arme von so unvergleichlicher Schönheit, daß nur völliger Mangel an Koketterie und ein keusches, ernstes Denken diese Vorzüge bisher achtlos unter verhüllenden Stoffen hatten verbergen mögen ... Ein Orangenblütenkranz lag in dem hochaufschwellenden, vielverhöhnten Rothaar – es hob sich in wuchtiger Pracht, wie mit goldfunkelndem Tau überhaucht, von den blauglänzenden Wänden des Zimmers.

»Ich danke dir, Juliane, daß du deine Vorliebe für ein bescheidenes Auftreten so taktvoll unterdrückst und in meinem Hause erscheinst, wie es deine Stellung nun einmal verlangt,« sagte er freundlich, wenn auch ohne Betroffenheit im Ton.

Sie hob die dunkelblonden Wimpern – das waren keine blassen Veilchenaugen à la Lavallière – ein Paar großer, dunkelgrauer Augensterne voll Klugheit, aber auch voll finsteren Ernstes sahen ihn fest an. »Denken Sie nicht zu gut von mir!« versetzte sie gelassen – noch brachte sie das »Du«, das ihm so geläufig war, nicht über ihre Lippen. »Nicht aus Bescheidenheit bin ich in Rudisdorf einfach an den Altar getreten – nennen Sie es Stolz, Hochmut, wie Sie wollen ... Ich weiß recht gut, daß verschiedene Frauen in der Rudisdorfer Marmorgalerie den Hermelin um Schultern und Schleppe tragen – ich habe auch ein Anrecht daran und werde es zu behaupten wissen ... Gerade deshalb mochte ich diese geschenkte Pracht hier,« sie strich mit der Hand über die steife Robe, »nicht an mir leiden und durch mein Vaterhaus schleifen, von welchem uns augenblicklich kein Stein gehört. Ich meinte, das Geräusch müsse alle die Trachenberger aufwecken, die unter dem Altar in der Gruft schlafen – und ihnen ist gerade jetzt der Schlaf zu gönnen ... Hier repräsentiere ich Ihren Namen und dazu gehört das Geschenk.«

Er biß sich auf die Lippen. Etwas wie eine unliebsame, zornige Ueberraschung lag in dem Blicke, der bald an dem zarten, ruhig sprechenden Munde hing, bald sich in die unerschrockenen Augen bohrte, die nicht zurückwichen.

»Nun, die Trachenberger dürften getrost aufwachen,« sagte er sarkastisch. »Ihr weltbekannter Familienstolz lebt ja fort und weiß sehr energisch aufzutreten, und das hätte sie über die leeren Truhen – die du soeben betontest – sicher getröstet.«

Sie schwieg und trat langsam und majestätisch über die Schwelle der Thür, die er mit einer fast ironisch tiefen Verbeugung öffnete ... Wie er so an ihrer Seite dahinschritt, war er ein vollkommen anderer, als der frivole Weltmann, der die in Rudisdorf mit einer so graziösen Leichtigkeit, als gehe es zur Tafel, an den Altar geführt – er war ein anderer, als der kühne Bändiger der wildjagenden Rosse, der bei der Begegnung im Walde, strahlend vor Triumph, der bleichen, dahinfließenden Fürstin nachgesehen hatte – in diesem Augenblicke kämpfte er denselben Kampf, den seine junge Frau eben durchgemacht; er bereute tief und sichtlich den Schritt, den er im Vertrauen auf die Beteuerungen der Gräfin Trachenberg gewagt – sie hatte ihm ja fälschlicherweise eine Frau versprochen, »die er um den Finger wickeln könnte« ... Noch war es Zeit, noch hatte seine Kirche das ewig bindende Wort nicht gesprochen, das jede Scheidung verneint – das Rauschen der langen, schweren Schleppe verstummte plötzlich; die junge Dame zögerte, den Fuß weiterzusetzen; sie hob die Hand, die auf seinem Arme lag – notgedrungen hielt er den Schritt an und wandte befremdet das so nachdenklich gewordene Gesicht nach ihr; ein einziges Hinstreifen seiner Augen über ihr tieferblaßtes Antlitz mochte ihn belehren, was in ihr vorging – mit einem ausdrucksvoll spöttischen Lächeln empfing er die niedergleitende Hand, legte sie wieder auf den Arm, wo er sie augenblicklich festhielt, und schritt weiter durch das Spalier, das die festlich geschmückten Schloßleute vor der gewaltigen, erzenen Kirchenthür bildeten ... Nun denn – er war trotzalledem entschlossen, und sie ging mit ihm; aber nicht wie ein in sein Schicksal ergebenes Opferlamm – die stolze Prinzessin Großmutter in der Ahnengalerie hätte sicher nichts auszusetzen gewußt an den majestätischen Gebärden der Enkelin, an dem verschlossenen ruhigen Gesicht, das nicht im entferntesten auf das beschleunigte Klopfen eines erregten Herzens schließen ließ.

Mit welchem Glanz wurde hier der Betrug in Szene gesetzt! Ein Silberreichtum, wie ihn Liane selbst in Rudisdorf, in den versunkenen Zeiten der Pracht nie gesehen, umringte und bedeckte den Altar, Hunderte von Flammen auf mattblinkenden Armen emportragend, und die Orangerie, die der alte kranke Mann zur Begrüßung der einziehenden neuen Herrin verweigert hatte, hier dunkelte und duftete sie zu Ehren der heiligen Handlung – ein wahrer Wald breitästiger, mit Blüten bedeckter Bäume. Durchzuckt von den bleichen Lichtflammen und dem goldenglühenden Strahl der hereinfallenden Abendsonne, wogten erstickende Weihrauchwolken in dem säulengetragenen Raume; wie durch einen Nebel sah Liane die Köpfe vieler Anwesenden aus den Betstühlen auftauchen, sah seitwärts die rotseidene Steppdecke leuchte, auf welcher die blassen Hände des Hofmarschalls gefaltet lagen, und das prächtige Meßgewand des Priesters von den Stufen des Altars herabflimmern. Hoch und gebietend stand er droben – sie erschrak, als sie vor ihn hintrat – von dem Gesicht dieses Mannes ging es aus wie ein Feuerstrom; ein seltsam glimmender, tief befremdeter Blick tauchte in ihre großaufgeschlagenen Augen; erst auf ihr scheues Zurückweichen hin wandte er sich zögernd gen Himmel, und nun tönte eine prachtvolle, erschütternde Stimme über ihrem Haupte hin und sprach von der Liebe und Hingebung für immer und ewig – welch ein Frevel! ... Die schlichten Worte des Geistlichen in Rudisdorf hatten sie ruhig gelassen – erst diese glühende Beredsamkeit warf ein blendendes Licht auf den Hohn und die schwarze Lüge, unter welcher dieser Bund geschlossen wurde; sie machte jedes Wort zu einer Dolchspitze, zu einem Spottpfeil. – Die junge Frau zitterte vor diesem Priester, dessen zündende Augen nicht von ihr wichen, und – sie wußte selbst nicht weshalb – ihre Hände griffen plötzlich nach dem über den Rücken hinabfallenden Schleier und zogen ihn verhüllend über Busen und Arme.

 

Und dieser Tag, der schwerste und verhängnisvollste ihres ganzen Lebens, er neigte sich endlich auch; es kam der heißersehnte Moment, wo sie die nach dem Säulengange führende Hauptthür ihrer Gemächer schließen durfte, die sie von allen Bewohnern des Schlosses schied. Sie schickte das harrende Kammermädchen fort, entledigte sich selbst der Brauttoilette und warf einen weißen Schlafrock über. Ruhen konnte sie noch nicht; sie mußte, so einsam in der Fremde und gequält von schmerzlichem Heimweh, irgend einen mitgebrachten Gegenstand aus der Heimat sehen und berühren ... Mit hastigen Händen öffnete sie einen kleinen Koffer, den man auf ihren Wunsch in den Salon gestellt hatte. Ein Heft mit lateinischen Aufsätzen von ihrer Hand lag obenauf – unwillkürlich zuckte sie empor und warf einen scheuen Blick auf das große Oelbild, das ihr gegenüber hing – ja, das war er, der schöne Mann mit dem Rätselgesicht, das in so jähem Wechsel Feuer und tödliche Kälte, seelenvolle Güte und den beißendsten, verwundenden Spott widerspiegelte! Ihr graute vor diesen Widersprüchen. Sie rollte hastig das Manuskript zusammen; nicht einmal diese gemalten Augen durften das Geschriebene sehen.

»Mainau wird dir deinen Gelehrtenkram schon austreiben!« hatte die Gräfin Trachenberg gesagt, und heute abend bei der Tafel hatte er infolge einer lebhaften Debatte über die Frauenemanzipation mit dem ausgesprochensten Abscheu in allen Gebärden geäußert, er wisse nicht, welche Frau er mehr verurteilen solle, diejenige, die aus Eitelkeit und Vergnügungssucht eine schlechte Mutter sei, oder den Blaustrumpf, der seine Kinder aus dem Zimmer jage, um Verse oder gelehrte Aufsätze machen zu können – ein Tintenklecks an einer Frauenhand sei ihm widerwärtiger als ein häßliches Mal.

Sie trat an den Schreibtisch, um alle Zeugen ihrer bisherigen geistigen Thätigkeit hineinzuflüchten – er war von Rosenholz, das zierlichste Gebild, das je aus kunstreicher Hand hervorgegangen. Welchen Gedanken hatte wohl »die luftige, flatternde Seele« hier nachgehangen? ... Der Aufsatz des Tisches wurde beinahe erdrückt durch Nippesfiguren und Gruppen, die fast alle einer mehr oder minder frivolen, ja anstößigen Idee entsprungen waren – wie hatte sich das mit der strengen Frömmigkeit vertragen? ... Liane zog mit Anstrengung ein Fach auf – es war bis an den Rand gefüllt mit Geldrollen – offenbar ihr stipuliertes Nadelgeld. Erschrocken stieß sie den Kasten wieder zurück und drehte den Schlüssel um – das Geld war begraben. Diese Entdeckung und die mit den unvermeidlichen Jasmindüften beschwerte Zimmerluft trieben sie nach der Glasthür des Nebensalons.

Hinter den zugezogenen Vorhängen hatte sie nicht bemerkt, daß draußen der Vollmond am Himmel stand. Sie fuhr zurück, so blendend, so fremdartig lag dieses Schönwerth inmitten felsenzackiger, zum Teil mit dem prächtigsten Hochwald bestandener Berge, die es von allen Seiten umstarrten wie dräuende, ein funkelndes Kleinod hütende Drachenzähne ... Sie trat hinaus unter ein Säulendach – welch ein Kontrast zwischen der modernen inneren Einrichtung der Gemächer und diesen altersgrauen mächtigen Säulenbündeln, die in strenger Schönheit aufstiegen und hoch droben Rundbogen von tadelloser Reinheit scharf in den Mondhimmel schnitten! Nicht das leiseste Wehen des Nachtwindes strich vorüber, und doch mußte in der höheren Luftregion Bewegung sein - nervenberührend wie die geisterhafte Stimme, die im Glase schläft, zitterte manchmal ein vereinzelter Tonhauch von den Windharfen herüber.

In diese feierliche Nachtstille hinein klangen plötzlich fernhereilende Menschentritte, förmlich erschreckend – die junge Frau trat in den Schatten der Pfeiler, während eine Kindergestalt laufend um die nördliche Hausecke kam; es war Leo. Seine kleinen nackten Füße steckten in Schlafschuhen; das in sichtlicher Eile übergeworfene grüne Samthöschen hielt er mit beiden Händen, und das spitzenbesetzte Nachthemd fiel von den Schultern offen zurück und ließ das Mondlicht über die kräftige, glänzend weiße nackte Büste des Kindes hinspielen ... Der Kleine sah sich scheu um und lief spornstreichs auf das Drahtgitter zu. Mit einigen raschen lautlosen Schritten stand die junge Frau hinter ihm.

»Was thust du hier, Leo?« fragte sie und hielt ihn fest.

Er stieß einen Schreckenslaut aus. »Ah, die neue Mama!« stammelte er gleich darauf sichtlich erleichtert. »Wirst du's dem Großpapa sagen?«

»Wenn du ein Unrecht vorhast, allerdings –«

»Nein, Mama,« versicherte er in seinem trotzig festen Tone und schüttelte die verwirrten Locken von der Stirn – er hatte offenbar schon im Bette gelegen. »Ich will Gabriel nur Schokoladefiguren bringen – ich habe sie nicht genommen, ganz gewiß nicht, Mama! – Herr von Rüdiger hat sie mir bei Tische auf den Teller gelegt. Ich spare sie mir immer ab für Gabriel; aber früh sind sie nie mehr in meiner Tasche – Fräulein Berger ißt sie zu gern; sie kaut den ganzen Tag – sie maust, das abscheuliche Ding.«

»Wo ist denn dieses Fräulein Berger?« fragte Liane – die Erzieherin war ihr nach der Trauung vorgestellt worden und hatte ihr einen entschieden ungünstigen Eindruck gemacht.

»Pfänderspiele spielt sie im Schulzimmer, und ich darf nicht hinein; sie hat zugeschlossen,« murrte er. »Sie machen einen greulichen Spektakel, und Punsch trinken sie auch – ich riech's durch das Schlüsselloch ... Ich habe Gabriel heute gar nicht mehr sehen dürfen, weil ich zu ungezogen gewesen bin – aber ›gute Nacht‹ werde ich ihm doch wohl sagen dürfen,« stieß er trotzig heraus. »Darf ich, Mama? Ja? Darf ich?«

Er bat mit all seinem Ungestüme, aber auch mit dem köstlichen Tone des Vertrauens, der unbestrittenen Zusammengehörigkeit von Mutter und Kind – ein freudiges Aufschrecken durchzuckte die junge Frau – dieser Knabe mit dem ausgeprägtesten Trotze in den Zügen, er unterwarf sich ihrer mütterlichen Autorität freiwillig in den ersten Stunden. Mild wie das niederfließende Mondlicht fiel ein wehmütiges Glücksgefühl in ihre verdunkelte Seele; sie umschlang den Kleinen mit beiden Armen und küßte ihn zärtlich.

»Gib mir das Konfekt, Leo! Ich will es Gabriel bringen. Du mußt jetzt in dein Bett zurück,« sagte sie und hielt ihm ihre Hand hin. »Ich werde ihm auch ›gute Nacht‹ von dir sagen; aber wo finde ich ihn denn?«

Willig kehrte er seine Taschen um und schüttete den ganzen Inhalt in die schönen, schlanken Hände der Mutter. Sie lächelte – diesen Schokoladereichtum hätte der Großpapa allerdings nicht sehen dürfen – ihrem feinen Ohre war sein halb verbissenes Schelten über das teure Fruchteis heute nachmittag nicht entgangen.

»Du mußt da drin am Teiche vorübergehen,« versetzte der Kleine, während er auskramte; er zeigte nach dem Drahtgitter. »In das Haus darfst du aber nicht – der Großpapa hat es streng verboten, und Fräulein Berger sagt, es wäre eine Hexe drin mit langen Zähnen. Dummes Zeug – ich fürchte mich nicht. Beißt sie doch Gabriel auch nicht.« ...

Die junge Mutter zog ihm das Nachthemd über der Brust zusammen, nahm seine kleine Rechte in ihre Hand und führte ihn in das Schloß zurück ... Eine Ampel brannte am Plafond und goß durch ihr grünes geschliffenes Glas einen magischen Schein über das Schlafzimmer des Kindes. Ein Königssohn konnte nicht üppiger und prächtiger gebettet sein als dieser Sproß der Mainaus; aber was halfen diese seidenrauschenden Bettbehänge, diese mit Spitzen und Stickereien besetzten Kissen und Decken dem armen reichen Kinde! Sein Schlaf war doch kein behüteter, und wenn auch der Bronzeengel droben die Seidenfalten gerafft in seinen Händen hielt und die goldglänzenden Flügel darüber hinbreitete ... Vom Schulzimmer her klang gedämpft ausgelassenes Gelächter und das Zusammenklingen der Gläser. Liane meinte, der Geist der geschiedenen Mutter müsse zürnend durch diese Räume flattern und für die Pflichtvergessene dort drüben ein Mene Tekel an die Wand schreiben.

»Mama,« sagte der Kleine und ließ in scheuer Raschheit sein Händchen liebkosend über ihre Wange hingleiten, während sie ihn sorgsam zudeckte, »es ist doch zu hübsch, wenn du da bist! Kommst du nun immer? Die erste Mama ist nie an mein Bett gekommen ... Gelt, und du gehst ganz gewiß noch zu Gabriel und bringst ihm die Schokolade?«

Sie versprach ihm alles. Er legte befriedigt sein Köpfchen auf dem Kissen zurecht und nach fünf Minuten verrieten seine Atemzüge, daß er fest schlafe. Die junge Frau verließ geräuschlos das Zimmer und schloß draußen die Thür ab, durch welche der Kleine entwischt war.

7.

Es schlug eben halb elf, als sie das Parterre wieder betrat, das sich vor ihren Appartements hinzog. Graudurchsichtig, als schlüpfe der Saum der wandelnden Frau Sage durch die Gebüschlücken, lief drüben das Drahtgitter hin, der Prügelknabe, wie ihn Herr von Rüdiger heute genannt, der bleiche, schweigsame Sündenbock, schlief jedenfalls schon längst – er hatte auch weniger Teil an dem geheimnisvollen Reize, der die junge Frau unwiderstehlich nach jenem abgeschlossenen Reviere zog. Ihr Auge überflog, rückwärts gewendet, forschend das Schloß; in altersgrauer Pracht, mit seinen wuchtigen Steinbogen, seinen Kleeblättern in den gemeißelten spitzenklaren Steinrosetten der Bogenfenster und seinem Schutzheiligen dort auf dem Mauervorsprunge, stieg es auch hier wie eine Abtei in die weiße Mondlichtflut hinein. Nirgends blinkte ein Licht hinter dem Glase – nur aus dem Salon drunten quoll der Lampenschein grellgelb in das Dunkel des Säulenganges ... War es doch, als lehne dort an einem Pfeiler ein Mensch und starre lauschend nach der halboffenen Glasthür – Täuschung! Nicht ein Sandkorn bewegte sich unter den Füßen der vermeintlichen Gestalt; nicht die leiseste Bewegung zeigte, daß Atem in ihr sei – es war der Pfeilerschatten.

Nun wandelte die junge Frau unter beschleunigtem Herzklopfen drinnen auf dem weißen Sande eines schmalen Weges; die Gitterthür war hinter ihr zugefallen. Noch beschatteten die letzten Zweige der traulich herüberreichenden Wacholder- und Nußbüsche ihr Haupt; aber dort aus dem Rasenspiegel hob sich fremd der gewaltige Schaft der indischen Banane, und der schräg hereinfallende Mondschein streckte den Schatten der imposanten Blattform riesenhaft über die Grasfläche hin. Dann lief der Weg durch dunklen Busch; zahllose Feuerfunken stoben umher – die kleine Käferleuchte kam in dem Dunkel zur Geltung. Durch das Geäst droben fuhr es hastig und rauschend; ein abgerissener Zweig flog auf die Schulter der jungen Frau; hier und da griff ein kleiner Arm nach ihr, und glänzende, kluge Affenaugen bogen sich aufgeregt neugierig tief zu ihrem Gesicht herab. Unwillkürlich fuhr ihre Hand nach der Stirn, als wolle sie einen beklemmenden Traum wegwischen – züngelte da nicht auch die bunte Cobra Capella aus dem duftenden Laube, und brach nicht die plumpe Masse des Elefanten herein, das Gebüsch und sie selbst unter den wuchtigen Füßen zerstampfend? ... Sie zögerte, aber nur ein aufgescheuchtes Perlhuhn lief über den Weg, und nach einigen weiteren Schritten traten Busch und Bäume auseinander, und die Wasserflut des Teiches lag vor ihr, so still und glatt und unbeweglich, wie ein ungeheures, auf den Rasengrund hingeworfenes Silberstück; der Hindu-Tempel aber trug seine goldstrahlenden Kuppeln fest und zuversichtlich in den Nachthimmel, als führe seine Marmortreppe direkt in die heiligen Fluten des Ganges, und nicht in das Teichwasser eines deutschen Thales.

 

Tiefatmend und durchrieselt von jenen Schauern des Bangens, welche uns in fremder Einsamkeit so leicht überkommen und die uns gleichwohl unwiderstehlich vorwärts treiben, umschritt Liane langsam den Teich. Sie ahnte aber nicht, daß ihre dahinschwebende Gestalt im weiß nachfließenden Gewande, mit dem schöngetragenen Haupte, über dessen Stirn das schwellende Haar flimmerte, wie ein Diadem von tiefdunklem Golde, diese Landschaft voll fremdartiger Gebilde zauberhaft belebte – sie ahnte auch nicht, daß sich vorhin beim Knarren der Gitterthür der vermeintliche Schatten vom Pfeiler gelöst hatte und ihr geräuschlos, aber so konsequent folgte, als gehe von den über den Rücken herabsinkenden, im Mondlichte fast phosphoriszierenden Flechten ein magnetischer Strom aus, dem er folgen müsse.

Die weißen Wände eines niedrigen Hauses tauchten auf. Ein breiter Sandweg umlief das kleine Mauerviereck, und doch lag es wie eingebettet in Rosengebüsch, oder vielmehr in Rosenblüten – zu Tausenden dufteten sie auf hochstämmigen Kronen und niedrigem Busche, selbst drunten in den Weg herein rankten noch einzelne Zweige der Theerose – schwer, wie mondscheintrunken lagen die bleichen Kelche auf dem harten Gerölle.

Man hätte meinen können, jeder stärkere Windhauch müsse das wunderliche Haus zerblasen, so leicht und zierlich stand es da mit seinen Hohlziegeln von Rohr auf dem Dache und den Pfählen aus Bambus, welche die Veranda trugen. Es hatte große Fenster, aber geschnitzte Holzgitter lagen vor dem Glase. Zögernd trat die junge Frau auf die niedrige Verandastufe; der Fußboden war belegt mit Matten von Palmenried, so kühl, glatt und glänzend, wie sie nur der heiße Fuß des Indiers ersehnen mag. Hinter dem Holzgitter brannte Licht; es entströmte einer an der Zimmerdecke hängenden Lampe; der niedergelassene Fensterbehang von steifem, buntem Flechtwerke staute sich seitwärts, da wo das verschlungene Gitterwerk einen herzförmigen Ausschnitt bildete – durch diese Oeffnung konnte Liane einen größeren Teil des Inneren überblicken.

An der Hinterwand des Zimmers stand eine Bettstelle von Rohr; auf schneeweißen Decken lag eine Gestalt hingestreckt – war dieses außerordentlich zarte Geschöpf, das eben sein Gesicht in das Kissen einwühlte, Weib oder Kind? Weiche, weiße Mousselinfalten flossen um den hingeschmiegten Leib bis auf die Füße, die nackt, wunderklein, aber auch blutlos wächsern dort ruhten. Ein bis an die Schulter entblößter, schlanker und magerer Arm, wie er kaum dem unentwickelten dreizehnjährigen Mädchen eigen, legte sich in eigentümlicher Schwere die Hüfte entlang – breite funkelnde Goldreifen umschlossen das Handgelenk und den Oberarm; sie machten den peinlichen Eindruck, als müßten sie dieses weiße, ätherzarte Fleisch wundreiben ... Die große, robuste Frau aber, die, einen Silberlöffel in der Hand, neben dem Bett stand und ihre rauhe Stimme zu sanft bittenden Tönen zwang, kannte Liane bereits. Sie war ihr heute nach der Trauung als Frau Löhn, die Beschließerin, vorgestellt worden.

Der Löffel, den die Frau vorsichtig von ihrer breiten, glänzend sauberen Schürze fernhielt, war offenbar mit Medizin gefüllt und ein Gegenstand des Abscheues für das auf dem Bett liegende Wesen. Alles Zureden, das sanfte Streicheln mit der kräftigen freien Rechten über das tiefeingewühlte Köpfchen verfing nicht.

»Ich kann dir nicht helfen, Gabriel,« sagte Frau Löhn endlich nach der Zimmerseite hin, welche die junge Frau nicht übersehen konnte, »du mußt ihr den Kopf halten ... Sie muß schlafen, Kind, um jeden Preis schlafen.«

Der bleiche Knabe, Leos Sündenbock, trat in den Lichtkreis der Hängelampe. Behutsam versuchte er, seine Hand zwischen das Kissen und das Gesicht der dort Liegenden zu schieben. Unter dieser Berührung fuhr ihr Kopf jäh, wie entsetzt, empor und zeigte ein schmales, verzehrtes, und dennoch schönes Frauenantlitz. – Liane erschrak bis ins Herz vor dem sprechenden Blick aus übergroßen Augen, der so zärtlich vorwurfsvoll und in Todesangst flehend zu dem Knaben aufsah. Er wich zurück und ließ die Hände sinken. »Nein, nein, ich thue dir nichts!« sagte er tröstend, und seine sanfte Stimme brach in Jammer und Mitleid. »Es geht nicht, Frau Löhn – ich thue ihr ja weh! ... Ich will sie lieber einsingen.«

»Da kannst du bis morgen früh singen, Kind,« versetzte die Frau. »Wenn es so schlimm ist, wie heute, da verfängt das nicht – du weißt's ja.« Sie zuckte ratlos die Achseln, hatte aber nicht den Mut, weiter in Gabriel zu dringe. Was für ein weiches Herz schlug in der vierschrötigen Frauengestalt mit den groben scharfkantigen Gesichtszügen, die heute so barsch und unzugänglich ernsthaft der neuen Herrin bei der Vorstellung gegenüber gestanden hatte!

Liane drückte die Thür auf, die zwischen den zwei Fenstern in das Zimmer führte, und trat ein. Die Beschließerin stieß einen Schreckensruf aus und hätte fast den Inhalt des Löffels verschüttet.

»Halten Sie die Kranke!« sagte die junge Frau, »ich werde ihr die Medizin geben.«

Der plötzliche Eintritt der weißen, schlanken Gestalt mit der vornehm gelassenen Gebärde mochte förmlich lähmend auf die kranke Frau wirken – sie rührte sich nicht und sah nur groß und starr in das liebliche junge Gesicht, das sich über sie beugte – ohne jeglichen Widerstand ließ sie sich das Schlafmittel einflößen.

»Sieh, nun ist's geschehen, mein Junge,« sagte Liane und legte den Löffel auf den Tisch. »Es ist ihr kein Schmerz zugefügt worden, und sie wird schlafen.« – Sie strich sanft über Gabriels dunklen Scheitel. – »Du hast sie wohl sehr lieb?«

»Sie ist meine Mutter,« versetzte der Knabe in überströmender Zärtlichkeit.

»Es sind arme Leute, gnädige Frau, arm und gering,« fiel die Beschließerin mit harter, trockener Stimme ein. Nicht eine Biegung in diesen tiefen Tönen, nicht der leiseste Zug des ernsthaften Gesichts verriet die Weichherzigkeit und Teilnahme, die vorhin ihr ganzes Wesen charakterisiert hatten.

»Arm?« wiederholte die junge Frau und deutete unwillkürlich nach den blitzenden Armreifen und den Ketten von edlem Metall, die über den Busen der Kranken fielen. Bis zu diesem Moment hatten die Augen der letzteren unverwandt an Liane gehangen; jetzt aber malte sich Angst und Unruhe in ihren Zügen – sie klammerte die zarten Finger der Linken krampfhaft um einen Gegenstand, der an einer Kette hing – allem Anschein nach ein Flakon von Silber.

»Na, na, nur ruhig – die gnädige Frau nimmt's nicht!« beschwichtigte Frau Löhn rauh und gebieterisch. »Arm sind die Leute, sage ich,« fuhr sie gegen Liane fort. »Das bißchen Zeug da kann man doch nicht essen« – sie zeigte nach dem Geschmeide – »und eigentlich gehört's der Frau auch gar nicht; der alte gnädige Herr Hofmarschall könnte ihr auch den Firlefanz noch wegnehmen, wenn er wollte – sie hat auf der Gotteswelt nichts, gar nichts, und daß sie mit dem Jungen ihr täglich Brot im Hause gereicht kriegt und in der Bude da wohnen darf, das ist die reine Gnade von der Herrschaft, die reine Gnade.«

Diese Erklärung, so mitleidslos und in so geflissentlich scharfen und grellen Umrissen gegeben, fuhr der jungen Frau wie ein Messer durch das Herz, um so mehr, als sich Gabriel über seine Mutter bog und sie während der harten Rede streichelte, als sei sie das schutzbedürftige Kind, dem man alles zugefügte Weh durch Liebkosung vergessen machen könne ... Dieser junge, schöne Knabenkopf mit der müden seitlichen Neigung und dem schwermütigen Zug um den Mund trug das Gepräge der Duldung und sklavischen Fügsamkeit, das ihm jedenfalls eine jahrelange Mißhandlung aufgedrückt hatte. Wohl hätte Liane fragen mögen: »Wer ist diese seltsame Fremde, und wie kommt sie hierher mit ihrem Kinde, das unter einem so furchtbaren Drucke aufwachsen muß?« Allein die Furcht vor weiteren schonungslosen Mitteilungen der Beschließerin schloß ihr den Mund. Sie griff in die Tasche und legte die Schokoladefiguren auf den Tisch. »Das schickt dir Leo,« sagte sie zu Gabriel, »und ich bringe dir auch eine ›gute Nacht‹ von ihm.«

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