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Im Hause des Kommerzienrates

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14

Am anderen Morgen herrschte reges Leben in der Villa Baumgarten. Gegen Mitternacht hatte eine telegraphische Depesche die Rückkehr des Kommerzienrates aus Berlin gemeldet, und eine Stunde später war er angekommen. Er hatte zwei Geschäftsfreunde mitgebracht, die in den Fremdenzimmern logierten. Die Gäste waren Koryphäen der Handelswelt; sie wollten nachmittags ihre Reise fortsetzen, und um ihnen Gelegenheit zu geben, auf der Durchreise mehrere ihrer Bekannten in der Residenz zu sprechen, hatte der Kommerzienrat in der Nacht noch ein großes Herrenfrühstück für den anderen Morgen angeordnet. Köchin und Hausmamsell hatten vollauf zu tun, und die Bedienten liefen treppauf, treppab.

Käthe hatte die ganze Nacht schlaflos verbracht. Die am Tage empfangenen Eindrücke und die Sorge um Henriette hatten sie nicht ruhen lassen. An dem einen Eckfenster ihres Zimmers hatte sie stundenlang gestanden und über die windgeschüttelten Parkbäume hinweggeforscht, ob nicht wenigstens eine im Mondschein flimmernde Spitze der Wetterfahnen auf dem Hause am Flusse zu sehen sei, aber es war wie versunken gewesen, das niedrige Haus, und still geblieben war es dort auch, obgleich Käthe jeden Augenblick gemeint hatte, es müsse jemand die Allee heraufkommen, um mit einer schlimmen Nachricht die Schlafenden in der Villa aufzurütteln.

Und vom anderen Fenster aus hatte sie dann die Ankunft des Kommerzienrates mit angesehen. Im Nu, wie aus der Erde gestampft, waren die Dienstleute der Villa mit ihren Sturmlaternen um den Wagen postiert gewesen; die hellen Lichtflammen hatten die weißen Säulen des Portikus angestrahlt, hatten sich in dem silberfunkelnden Pferdegeschirre und den glänzenden Leibern der Goldfüchse gespiegelt und waren kräftig genug gewesen, auch das bronzierte, an der Promenade hinlaufende Gitter und mehrere herrliche Marmorfiguren aus dem Dunkel  hervortreten zu lassen. Das alles hatte hocharistokratisch ausgesehen. Dann war der Kommerzienrat aus dem Wagen gesprungen, die stattliche, noch jugendlich elastische Gestalt in den eleganten Reisepelz gehüllt, in jeder seiner gebieterisch sicheren Bewegungen der reiche Mann, der eben noch reicher geworden, ein glänzender Komet, an dessen Fersen, magnetisch angezogen, der glitzernde Goldstrom sich hing. Er hatte seine Gäste in ihre Appartements geführt und erst gegen zwei Uhr das Haus mit dem voranleuchtenden Bedienten verlassen, um sich im Turme zur Ruhe zu begeben. Dann war es allmählich still geworden in der Villa, aber der Wind hatte sein Pfeifen und Blasen um das Haus fortgesetzt und den Schlaf von Käthes Augen verscheucht. Erst mit Tagesanbruch war sie eingeschlummert, zu ihrem großen Verdruss; denn nun hatte sie sich verspätet, und statt um sechs Uhr morgens, wie sie gewollt, das Haus am Flusse zu betreten, kam sie erst in der neunten Stunde dort an.

Es war ein schöner, klarer Morgen. Der ungestüme Nachtwind hatte sich zu jenem südlich warmen Hauche gesänftigt, der den Duft der ersten Frühlingsblumen im Atem behält, und der spröde zögernden Knospe schmeichelnd, aber beharrlich den braunen Schleier vom Gesichte zu ziehen sucht. … Auf des Doktors Hause zwitscherten die Vögel; das dunkle Geäst der Kirschbäume, das sich an die eine Hausecke schmiegte, erschien mit unerschlossenen, winzigen Blütenköpfchen zartweiß gesprenkelt, und vor der glanzvollen Morgenbeleuchtung konnten sich die sprossenden Halme im Rasengrunde auch nicht mehr verstecken – der ehemalige Bleichplatz schimmerte in einem schwachen jungen Grün.

Als Käthe die Brücke passierte, floss das Wasser sonnendurchleuchtet und klar bis auf den Grund unter dem morschen Holzbogen dahin, fast sanftmütig und friedlich – was Wunder! Die Wellen, die gestern den fortgeschleuderten Ring empfangen, hatten unterdes ein weites Stück Weges zurückgelegt und strömten dem Ozean zu – nur sie konnten erzählen von den verräterischen Frauenhänden, die so gewaltsam eine drückende Kette gesprengt.

Das Haus am Flusse hatte heute etwas eigentümlich Feierliches. Das rote Ziegelgetäfel im Flure war mit feingesiebtem, weißem Sande bestreut; der Duft einer feinen Räucheressenz schlug dem Eintretenden entgegen; auf dem kleinen Tische, nahe der Haustür, lag eine frische Serviette, und darauf stand ein mächtiger Strauß von Tannenzweigen, Maikätzchen und Anemonen, in einer altertümlichen, großen Tonvase. … Und die alte, getreue Köchin war auch angekommen; sie stand schon in voller Tätigkeit, mit aufgestreiften Ärmeln, die glänzend weiße Schürze über die derben Hüften gebunden, als sei sie nie fort gewesen, am Küchentische, und das gute, rotbackige Gesicht sah zufrieden und glücklich aus. … Warum aber erschien die Tante Diakonus heute, am frühen Morgen, im kaffeebraunen Seidenkleide, auf dem vollen Scheitel eine weiße Spitzenbarbe, und auch an Hals und Handgelenk mit Spitzen umkräuselt? Käthes Herz zog sich zusammen vor Weh und Angst – geschah das alles der Braut zu Ehren, die doch heute wiederkommen musste, um die kranke Schwester zu besuchen?

Die alte Frau sagte kein Wort darüber. Sie schien nur sehr bewegt zu sein, und man sah es noch an den zartgeröteten Augenlidern, hörte es in der weichen Stimme, dass Tränen der Rührung geflossen waren. Sie teilte dem jungen Mädchen freudig mit, dass die Nacht für die Leidende gut verlaufen und der Anfall nicht wiedergekehrt sei.

Für diese beruhigende Nachricht küsste ihr Käthe die Hand, und da geschah das Seltsame, dass die sonst so zurückhaltende Frau plötzlich die Arme um die schöne, jugendliche Mädchengestalt schlang und sie wie eine Tochter zärtlich an das Herz zog. Dann führte sie die froh Erstaunte schweigend in das Krankenzimmer.

Henriette saß aufrecht im Bette, und die Jungfer ordnete ihr ein wenig das reiche Haar unter dem Nachthäubchen, der Doktor aber hatte sich vor einer Stunde zurückgezogen, um zu ruhen. … Das schmale, langgezogene Gesicht der Kranken mit den fleischlos hervortretenden Backenknochen und den verhängnisvollen schwarzen Ringen unter den Augen hatte in der einen Nacht einen scharf hippokratischen Zug angenommen, der Käthe erschreckte, aber der Ausdruck der Züge war ein glücklicher. Sie konnte nicht genug beschreiben, wie aufopfernd der Doktor sie pflege, wie unsäglich wohl sie sich in der gemütlichen Fremdenstube fühle, und wie sie bei dem Gedanken schaudere, dass sie doch einmal wieder von da fortmüsse. Sie bat Käthe, in die Villa zurückzukehren und ein Buch zu holen, das sie der Tante Diakonus versprochen habe – es sei in Floras Händen, die es ihr abgeborgt – dabei flüsterte sie der Schwester in das Ohr, sie möge dafür sorgen, dass Flora und die Großmama sie hier nicht allzu oft belästigten. Nicht die leiseste Ahnung hatte sie von dem, was sich gestern Abend an ihrem Bette zugetragen, und dass durch ihre Schuld das so lange schwebende Ungewitter zum furchtbaren Ausbruch gekommen sei.

Käthe konnte ihr kaum in die Augen sehen; sie atmete auf, als die Kranke schließlich die Bitte um das Herbeiholen des Buches erneute und sie beauftragte, auch noch Verschiedenes aus ihrem Schreibtische mitzubringen, zu welchem Zwecke sie ihr die Schlüssel einhändigte.

Nach einer Stunde kehrte das junge Mädchen in die Villa zurück. Sie war ganz erfüllt von dem beängstigenden Eindruck, den ihr Henriette gemacht hatte; das Krankengesicht mit der totenhaft wächsernen Blässe und den eingesunkenen Zügen verfolgte sie und machte sie tieftraurig. Deshalb fuhr sie auch, im Innersten verletzt, zurück, als sie, die Treppe zur Beletage hinaufsteigend, schräg durch die offene Tür des Wintergartens den brillant hergerichteten Frühstückstisch mit seinem blinkenden Geschirr voll köstlicher Leckereien überblickte. Den ganzen Marmorfußboden des maurischen Zimmers bedeckte ein ungeheurer dicker Smyrnateppich; für warme Füße war gesorgt, und für heiße Köpfe auch – letzteres durch die auserwählten Flaschen aus dem Turmkeller.

Käthe suchte in Henriettens Zimmer alles zusammen, was die Kranke zu haben wünschte, und ging wieder hinab, um der Präsidentin pflichtschuldigst guten Morgen zu sagen. Ihre Tritte verhallten in dem weichen Treppenläufer; sie wurde nicht gestört von den zwei Bedienten, die unten im Korridor standen und von denen der eine ein Paket in der Hand hielt, welches der Briefträger eben gebracht hatte.

»Zum Kuckuck auch, da kommt das Paket zum dritten Mal zurück!« fluchte er und kratzte sich hinter den Ohren. »Ich hab’ die Geschichte satt bis an den Hals. Nun bin ich so freundlich und packe es morgen wieder ein und schreibe eine neue Adresse. Unser Fräulein muss auch denken, man hat auf der Gotteswelt nichts weiter zu tun.« Er drehte das Päckchen unschlüssig hin und her. »Am allerbesten wäre das Ding drunten im Küchenfeuer aufgehoben –«

»Was ist denn darin?« fragte der andere.

»Ein Haufen Papier, und das Fräulein hat mit ihren langbeinigen Krakelfüßen groß und breit draufgeschrieben: ›Die Frauen‹, mag schon ’was Rechtes sein!« er verstummte erschrocken und nahm sofort eine ehrerbietige Haltung an – Käthe kam eben die letzte Stufe herab und ging an ihm vorüber nach dem Schlafzimmer der Präsidentin.

Sie wurde nicht angenommen. Die herauskommende Jungfer berichtete, es sei früher Morgenbesuch da, eine Dame vom Hofe. Daraufhin ging Käthe in Floras Zimmer, um das besprochene Buch zu holen. Sie empfand eine heftige Abneigung, die Schwelle zu betreten; ihr Herz klopfte fast hörbar vor innerem Aufruhr, und bestürzt erkannte sie in diesem Augenblick, dass für diese Schwester auch nicht ein Funken von Sympathie in ihr lebe. Der ganze Grimm, den sie in der schlaflosen Nacht zu bewältigen gesucht, stieg wieder in ihr auf und nahm ihr fast den Atem.

Vielleicht fühlte Flora ähnlich. Sie stand mitten im Zimmer, neben dem großen, mit Büchern und Broschüren bedeckten Tische und sah mit einem sprühenden Aufblick nach der Eintretenden. Ach nein, der Zorn galt jedenfalls dem zurückgekommenen Paket. Dort lag es aufgerissen, und die schöne Empfängerin schleuderte einen ebengelesenen Brief mit einer verächtlichen Handbewegung in den Papierkorb. Fräulein von Giese, das moquante Hoffräulein, hätte das nicht sehen dürfen. Floras »kleiner Finger« hatte sich bezüglich »der Frauen« doch vielleicht ein wenig geirrt.

 

»Du kommst jedenfalls von Henriette«, sagte Flora und schlug hastig den blauen Umschlag über dem ihr zurückgeschickten Manuskript zusammen. »Es geht ihr ja recht gut, wie ich höre; ich habe schon um acht Uhr hinübergeschickt und mich erkundigen lassen. Moritz ist nicht recht klug; er jagt mich mit einem Billett, das er noch in der Nacht geschrieben hat, in aller Frühe aus dem Bette, damit ich rechtzeitig Toilette mache, weil er à tout prix der Großmama und mir vor dem Frühstück seine Gäste vorstellen wolle. Als ob das Heil der Welt von dieser Vorstellung abhinge! Die Großmama wird darüber gerade auch nicht sehr erfreut sein.«

Sie sah reizend aus. Man sagt, dass der Mensch sich unbewusst nach seiner Stimmung kleide, demnach musste Floras Erwachen heute ein überaus frohes und heiteres gewesen sein; denn die ganze schlanke, schöne Gestalt erschien wie in ein leuchtendes Ätherblau getaucht. Selbst in den zierlich gekräuselten Locken steckte eine glänzend blaue Atlasschleife. Mit dem Arbeitszimmer harmonierte freilich diese Toilette schlecht; es sah heute, wo der strahlend goldene Tag draußen lag, so düster und unwohnlich wie möglich aus und war allerdings weit eher ein passender Hintergrund für einen menschenscheuen Stockgelehrten, als für diese duftig blaue Fee. Aber auch der Gesichtsausdruck der schönen Dame passte nicht mehr zu den gewählten Farben; sehr üble Laune und eine kaum zu verbergende Niedergeschlagenheit guckten aus allen Winkeln und Linien ihrer Züge. Über die Ereignisse des gestrigen Abends fiel kein Wort. Die waren versunken und scheinbar vergessen; selbst der beraubte Goldfinger hatte Ersatz gefunden – zwei kleine Brillantringe schmückten ihn.

Auf Käthes Bitte trat Flora an ein Bücherregal und nahm das verlangte Buch herab. »Henriette wird doch nicht selbst lesen wollen?« fragte sie über die Schulter.

»Das würde Doktor Bruck schwerlich gestatten; die Frau Diakonus will das Buch lesen«, sagte Käthe mit ruhiger, kalter Stimme und nahm das Werk in Empfang.

Ein verächtliches Spottlächeln zuckte um Floras Mund; in ihren Augen blitzen Verdruss und Ärger auf; sie hielt es jedenfalls für eine nicht zu entschuldigende Taktlosigkeit von Seiten der Schwester, dass sie diese Namen vor ihren Ohren noch laut werden ließ

Käthe ging. Aber in demselben Augenblicke, wo sie die Tür öffnete, um das Zimmer zu verlassen, trat ihr der Kommerzienrat entgegen. Er sah prächtig, fast strahlend frisch aus, wenn er auch in sichtlich großer Aufregung kam.

»Dageblieben, Käthe!« rief er fast scherzhaft und breitete seine Arme aus, um sie zurückzuhalten. »Ich muss mich erst überzeugen, ob Du heil und unverletzt bist.« Er schob sie ins Zimmer zurück, drückte die Tür in das Schloss und warf seinen Hut auf den Tisch. »Nun sagt mir um Gotteswillen, was ist Wahres an der haarsträubenden Geschichte, die mir eben mein Anton beim Ankleiden mitgeteilt hat?« rief er. »Die Leute haben einfältiger Weise bei meiner Ankunft geschwiegen, um mir die Nachtruhe nicht zu stören, und ich habe mir eben dergleichen unzeitige Rücksichten für die Zukunft energisch verbeten.« Er fuhr sich mit beiden Händen durch das reiche Haar. »Ich bin ganz außer mir. Was muss die Welt von mir und meinem Taktgefühl denken! Henriette liegt auf den Tod krank, und ich arrangiere sorgloser Weise ein Herrenfrühstück in meinem Hause. Ist’s denn nur wahr, das Unglaubliche? Eine Schar Megären soll Euch attackiert haben?«

»Nicht ›uns‹, sondern ganz speziell mich, Moritz«, sagte Flora. »Henriette und Käthe haben eben nur mitleiden müssen, weil sie bei mir waren. Ich kann mir nicht helfen – den größten Teil der Schuld, dass es so weit gekommen ist, muss ich Dir beimessen. Du musstest schon bei den ersten feindseligen Kundgebungen ganz anders vorgehen; solch einer Rotte gegenüber ist ein entschlossener Mann stets Herr, wenn er’s richtig anzufangen weiß. Aber bei Deinen ewigen Rücksichten, um Gotteswillen nie und nirgends anzustoßen, bist Du schwach –«

»Ja, schwach gegen Euch, gegen Dich und die Großmama«, fiel der Kommerzienrat ganz blass vor Ärger ein. »Du vorzüglich hast nicht geruht, bis ich mein Wort zurückgenommen und dadurch meine Arbeiter unnötig gereizt habe. Bruck hat Recht –«

»Ich bitte Dich, verschone mich damit!« rief Flora dunkelrot vor Zorn. »Wenn Du keine andere Autorität zu nennen weißt, auf die Du Dich berufst –«

Der Kommerzienrat trat ihr rasch näher und sah ihr erstaunt prüfend in die funkelnden Augen. »Wie, noch immer so feindselig, Flora?«

»Hältst Du mich für so jammervoll schwachköpfig, dass ich meine Ansichten wechsele, wie man einen Rock aus- und anzieht?« fragte sie herb zurück.

»Das nicht, aber ist es nicht verwegen, der ganzen gebildeten Welt zum Trotz –«

»Was geht mich die Welt an?« Sie brach plötzlich in ein lautes Gelächter aus. »Die ganze, gebildete Welt!« wiederholte sie. »Willst Du mir sagen, wie Du es möglich machst, sie mit Deinem bedauernswürdigen Protegé in Verbindung zu bringen?«

Der Kommerzienrat fasste kopfschüttelnd ihre Hand; er war fast atemlos vor Überraschung. »Ja, wie ist denn das möglich? Weißt Du denn noch nicht –«

»Mein Gott, was soll ich denn wissen?« unterbrach sie ihn ungeduldig mit ärgerlich gerunzelten Brauen und stampfte leicht mit dem Fuße den Boden.

Da wurde sehr rasch die Tür geöffnet, und die Präsidentin trat herein. Sie war einfach, in penseefarbene Seide gekleidet. Ob die starke lila Nuance ihr Gesicht so gelb und alt machte, oder ob sie infolge der gestrigen Aufregung eine schlechte Nacht gehabt – genug, sie sah sehr verfallen und dabei unverkennbar tief alteriert aus.

Der Kommerzienrat eilte auf sie zu und küsste ihr ehrerbietig die Hand. Er betonte, dass er ihr schon vor einer halben Stunde habe seine Aufwartung machen wollen, aber zurückgewiesen worden sei, weil die Großmama das Schlafzimmer noch nicht verlassen und dort den Besuch der Hofdame Fräulein von Berneck angenommen habe.

»Ja, die gute Berneck kam, um mir ihr Beileid auszusprechen über Henriettens Erkranken und das abscheuliche Attentat, dem Flora ausgesetzt gewesen ist«, sagte sie. »Wir werden heute einen anstrengenden Tag haben; die ganze Stadt ist aufgeregt über den Vorfall, und die Freunde unseres Hauses sind empört; sie kommen sicher alle, um nach uns zu sehen.«

Sie sank matt in einen Lehnstuhl; ihre Stimme klang angegriffen und den Gebärden fehlte die Elastizität, die sie sonst noch so siegreich in ihrem Alter behauptete. »Übrigens hatte die Berneck auch noch einen anderen Grund, und der stand jedenfalls in erster Linie«, hob sie wieder an. »Ich kenne sie schon; sie ist eine von denen, die gar zu gern die Ersten sein wollen, die eine sogenannte gute Nachricht hinterbringen, und da fragen sie nicht viel danach, ob sie ein Hofgeheimnis verletzen, oder nicht. Denkt Euch, sie kam, um mir insgeheim zu gratulieren, weil unserem Hause Heil widerfahren werde.« Sie erhob sich und verschlang die Hände ineinander. »Mein Gott, welches Dilemma! Ich weiß wirklich nicht, ob ich weinen oder mich freuen soll. Es ist ja so trostlos niederschlagend, dass gerade bei Hof, der ein gutes Beispiel geben sollte, das alte Sprichwort vom Undanke immer wieder zur Wahrheit wird. Wie hat sich Bär zeitlebens aufgeopfert für die Herrschaften! Und jetzt geht man plötzlich über ihn hinweg, als habe der alte, treue Diener nicht existiert. Er ist noch so rüstig, so geistesfrisch, und doch – will man ihn pensionieren.«

»Und dazu gratuliert Dir die alte Person?« rief Flora ärgerlich.

»Dazu selbstverständlich nicht, mein Kind«, entgegnete die Präsidentin, ihre Stimme verstärkend, mit großem Nachdrucke. »Flora, es geschehen wunderbare Dinge in der Welt. Hättest Du das vor einer Stunde noch für möglich gehalten? Bruck soll Hofrat und Leibarzt des Fürsten werden.«

»Verrücktes Hofgeschwätz! Auf was alles werden wohl diese müßigen Köpfe noch verfallen! Sie kombinieren wirklich das Blaue vom Himmel herunter«, lachte Flora auf. »Hofrat und Leibarzt! Und solchen Blödsinn hörst Du ruhig mit an, Großmama, und lässest Dich auch noch deshalb beglückwünschen?« Sie brach abermals im ein schallendes Gelächter aus.

»Nun, das muss ich sagen, lebt man denn hier in der Residenz so weltenfern von der Zivilisation, dass keine Zeitungen gelesen werden?« rief der Kommerzienrat die Hände zusammenschlagend. »Ihr wisst wirklich nichts, rein gar nichts von Dem, was geschehen ist, was uns so nahe angeht? Und ich komme deshalb einen Tag früher zurück. Die Freude hat mir keine Ruhe gelassen. Alle Zeitungen sind voll von der wunderbaren Operation, die Bruck in L…..g ausgeführt hat; in allen Kreisen Berlins wird augenblicklich davon gesprochen. Der Erbprinz von R., der gegenwärtig in L…..g studiert, ist mit dem Pferde gestürzt; er ist so schwer und unglücklich am Kopfe verletzt gewesen, dass sich kein Arzt zu der Operation hat verstehen wollen, selbst der tüchtige Professor H. nicht. Denn aber ist es erinnerlich gewesen, dass Bruck im letzten Feldzuge einen ähnlichen Fall behandelt und zum Erstaunen aller glücklich durchgeführt hat. Daraufhin hat man ihn sofort telegraphisch berufen –«

»Und das soll Dein Bruck, Dein Protegé gewesen sein?« unterbrach ihm Flora – sie versuchte zu lächeln, aber diese weiß gewordenen Lippen schienen versteinert, wie das Ganze, plötzlich leichenhaft erblichene schöne, impertinente Gesicht.

»Es war allerdings mein Bruck, wie ich ihn jetzt mit Stolz nenne«, bestätigte der Kommerzienrat mit sichtlicher Genugtuung. Er war ja so froh über diese glückliche Wendung. Zwar Skrupel hatte er sich längst nicht mehr gemacht über sein Verschweigen – der bereits halb vergessene grauenhafte Vorfall hatte ihn ruhig schlafen lassen; denn er war ein echtes Kind seiner Zeit, ein Egoist, der bei der Wahl: »Er« oder »Ich« keinen Augenblick im Unklaren war, dass das »Ich« betont werden müsse. Aber nun war es doch gut, dass alles so gekommen, und Bruck sich durch eigene Kraft, wie er, der Kommerzienrat, ja vorausgewusst, wieder emporgerungen. »Übrigens macht auch zu gleicher Zeit eine Broschüre von ihm unglaubliches Aufsehen in den medizinischen Kreisen«, fuhr er fort. »Er hat für die Operation im Allgemeinen einen völlig neuen Weg entdeckt, der von unberechenbarer Tragweite sein soll. Es ist nicht mehr zu leugnen – Bruck geht einer großen Zukunft entgegen.«

»Wer’s glaubt!« sagte Flora mit seltsam erloschener Stimme. Verzweifelt gespannt in jedem Gesichtszuge, glich sie einem Spieler, der sein Letztes auf eine Karte setzt. »Mit Deinem hohlen Pathos überzeugst Du mich nicht. Entweder liegt hier eine Namensverwechselung vor, oder – die ganze Wundergeschichte ist erfunden.«

Bei dieser hartnäckigen, trotzigen Behauptung büßte auch der Kommerzienrat seine sprichwörtlich gewordene Langmut ein, die er den Damen seines Hauses gegenüber jederzeit an den Tag legte. Er stampfte zornig mit dem Fuße auf und wandte sich ab.

Die Präsidentin stand am Tische und ließ ihre weißen, welken Finger in nervöser Erregung auf der Tischdecke spielen. Ihre Augen fixierten unruhig die Enkelin. Sie begriff recht wohl, was in ihr vorgehen musste, die den nun so gefeierten Mann so schmählich verkannt und verleumdet hatte. Es war eine jämmerliche Niederlage, aber gerade in solchen Momenten musste die gut erzogene Weltdame sich ohne Weiteres zurechtfinden können.

»Dein Sträuben wird Dir wohl nichts helfen, Flora«, sagte sie gelassen. »Du wirst schließlich doch glauben müssen. Ich für meinen Teil – so wunderlich mir auch dabei zumute ist – zweifle nicht mehr. Der Herzog von D. ist der Mutterbruder des verunglückten Erbprinzen; er mag wohl sehr erfreut und glücklich sein über die Rettung seines Neffen, denn gestern Abend sah ich den D.’schen Hausorden auf Brucks Schreibtische liegen.«

»Und das sagst Du mir jetzt erst, Großmama?« schrie Flora wie wahnwitzig auf. »Warum nicht gestern noch? Warum hast Du mir das verschwiegen?«

»›Verschwiegen‹?« wiederholte die Präsidentin so geärgert, dass ihr Kopf in jenes leise nervöse Schütteln verfiel, das alten Leuten bei zorniger Erregung leicht eigen ist. »Wie impertinent! – Ich möchte wissen, was mich veranlassen könnte, dergleichen geheim zu halten, höchstens der Umstand, dass man in den letzten Monaten Brucks Namen vor Deinen Ohren kaum noch nennen durfte. Ich habe das allerdings auch möglichst vermieden –«

»Weil mein Verhalten vollkommen nach Deinem Geschmacke war, chère grand’ mère –«

»Bitte recht sehr, nur weil es mir im Innersten widerstrebt, Zeugin leidenschaftlicher Ausbrüche zu sein. Du bist ja seine erbittertste Gegnerin, hast ihn schärfer gerichtet, als die missgünstigsten unter seinen Kollegen; das leiseste Bemühen, ihn zu entschuldigen, ruft stets heftige Szenen hervor. Der arme Moritz und Henriette wissen ein Lied davon zu singen. Und hast Du nicht eben gezeigt, in welcher Weise Du eine Nachricht aufnimmst, die zu seinen Gunsten spricht?« Wie tief gereizt musste sie sein, dass sie – anstatt das fatale Vergangene nunmehr totzuschweigen, wie es sonst ihre Art war – noch einmal Floras hässliches Benehmen vor den Augen der anderen vorüberführte!

 

Flora schwieg. Sie stand am Fenster, den Rücken den Anwesenden zugekehrt; an ihren fliegenden Atemzügen sah man, dass sie heftig mit sich kämpfte.

»Sage mir doch, wann ich Dir die Mitteilung hätte machen sollen!« fuhr die Präsidentin fort. »Vielleicht gestern, wo Du beim Nachhausekommen kaum den Kopf zur Tür hereinstecktest, um mir und meinem Besuche guten Abend zu bieten? Oder im Hause des Doktors selbst, wo ich keinen Augenblick mit Dir allein war, und wo Dich das pauvere Hauswesen Deines Bräutigams in die übelste Laune versetzte?«

»Das war Dein Kummer, liebe Großmama, wie Du die Güte haben wirst, Dich zu erinnern; was mich betrifft, so übertreibst Du.«

Käthe öffnete weit die ehrlichen, braunen Augen vor Erstaunen über dieses kecke Verleugnen – das gestern gegen die »spukhafte Spelunke« geschleuderte Anathema klang noch in ihren Ohren.

»Mit Dir ist schwer rechten; ich kenne Dich schon. Bei aller bis zum Überdrusse an den Tag gelegten derben Wahrhaftigkeit verschmähst Du doch die Schlupfwinkel des Leugnens nicht, wo es Dir gerade passt«, zürnte die Präsidentin und schob mit einer ziemlich heftigen Handbewegung das vor ihr auf dem Tische liegende Manuskriptenpaket weiter. Der Umschlag löste sich wieder, und der mit den »langbeinigen Krakelfüßen« geschriebene Titel kam zum Vorscheine.

»Ah, spricht das wieder einmal vor auf seinem Zickzackwege durch die Welt?« fragte sie und zeigte mit dem Finger auf die Papiere. Ihr Ton bewies, dass die Frau der weisen Mäßigung auch schneidend maliziös werden konnte. »Ich dächte, Du gönntest ihm endlich die Ruhe im Papierkorb. Dieses fortgesetzte Angebot von Seiten eines meiner Angehörigen und die konsequente Zurückweisung der Buchhändler wird mir nachgerade unerträglich. Ich möchte wissen, wie Du es aufnehmen würdest, wenn eines von uns Deine ›hervorragende geistige Begabung‹ auch nur mit einem Worte anzweifeln wollte, und da lässest Du es Dir alle vier, fünf Wochen schwarz auf weiß sagen –«

»Echauffiere Dich nicht unnötig, Großmama! Du könntest leicht irren, wie gewisse andere Leute auch«, unterbrach Flora sie zornbebend; ihr Blick streifte dabei entrüstet die junge Schwester. Der Backfisch hatte ja schon gestern Abend ein ähnlich absprechendes Urteil mit angehört. »Du bist verstimmt, weil Du an Bär eine einflussreiche Stimme bei Hofe verlierst; je nun, ich verdenke Dir das im Grunde nicht, liebste Großmama, denn Bruck wird sich schwerlich dazu verstehen, Deine kleinen Interessen bei unseren Herrschaften zu vertreten, vielleicht nicht einmal mir zu Liebe; das ist fatal für Dich, aber ich sehe trotzdem nicht ein, weshalb ich armes Opfer es nun ausbaden soll. Ich werde mir erlauben, mich zurückzuziehen, bis das Wetter im Hause wieder klar ist.« Sie raffte die auseinanderfallenden Blätter des Manuskriptes zusammen und verschwand wie eine blaue Wolke hinter der Tür ihres Ankleidezimmers.

»Sie ist doch unberechenbar exzentrisch«, sagte die Präsidentin mit einem Seufzer. »Von ihrer Mutter hat sie nicht eine Ader; die war die Sanftmut und Fügsamkeit selbst. … Mangold hat sehr gefehlt darin, dass er sie so frühe die Honneurs in seinem Hause machen ließ. Ich habe genug dagegen geeifert, aber das war alles in den Wind gesprochen. Du weißt ja am besten, Moritz, wie obstinat Mangold sein konnte.«

Käthe schritt nach der Tür, um das Zimmer zu verlassen. Die allzu frühe Selbstständigkeit war für Flora allerdings verderblich gewesen, das ließ sich nicht mehr leugnen, aber das junge Mädchen konnte es doch nicht mit anhören, dass ihrem verstorbenen Vater in so verletzender Weise der Vorwurf gemacht wurde, dass – er der Frau Schwiegermutter aus guten Gründen das Herrscheramt in seinem Hause verweigert habe.

Der Kommerzienrat folgte ihr und ergriff ihre Hand. »Du bist so blass, Käthe, so erschrecklich ernsthaft und still«, sagte er. »Ich fürchte, Du stehst noch unter dem Eindrucke des gestrigen Vorfalles und leidest, armes Kind.« Das klang nichts weniger als vormundschaftlich.

»So verändert in der Gesichtsfarbe und so nachdenklich ist Käthe schon seit einigen Tagen«, warf die Präsidentin rasch ein. »Ich weiß, was ihr fehlt: sie hat Heimweh. Du darfst Dich darüber nicht wundern, bester Moritz. Käthe ist an das Stillleben in kleinbürgerlichen Verhältnissen gewöhnt; dort wird sie vergöttert; um das reiche Pflegetöchterchen dreht sich schließlich alles in dem kleinen Hauswesen. Wir können ihr das mit dem besten Willen nicht bieten. Wir leben zu sehr in der Welt; unsere gesellschaftlichen Formen, die Elemente unserer Kreise sind so ganz andere, dass sie sich bei uns entschieden unbehaglich und bedrückt fühlen muss« – sie trat näher und streichelte mit linder Hand die Wange des jungen Mädchens – »hab’ ich nicht Recht, mein Kind?«

»Es tut mir leid, aber ich muss ›nein‹ sagen, Frau Präsidentin«, versetzte Käthe mit ihrer festen Stimme; dabei bog sie den Kopf mit einer entschiedenen Bewegung zurück – es nahm sich aus, wie ein Protest gegen jegliche fernere Liebkosung. »Ich werde nicht vergöttert, und es dreht sich auch nicht alles um ›den Goldfisch‹« – sie lachte leise und schalkhaft aus – »der arme Goldfisch spürt die Zügel einer konsequenten Erziehung mehr als je; ein Versehen im Hauswesen wird mir weit schwerer verziehen, seit ich die reiche Erbin bin. Und so bedrückend fremd, wie Sie meinen, sind mir die vornehmen Elemente Ihrer Kreise auch nicht. Der Staatsminister von B. ist einer der Auserwählten, die zu dem kleinen Abendzirkel meiner Pflegeeltern gehören. Unser Salon ist freilich so eng, dass keine Spieltische aufgestellt werden können, aber einige Professoren der Akademie, Freunde des Doktors, halten interessante Vorträge; öfter kehren auch musikalische Zelebritäten bei uns ein, und dann wird unverdrossen, mit wahrer Lust auf meinem schlechten Pianino musiziert.« Um ihre Lippen schwebte wieder der ganze Liebreiz jugendlicher Heiterkeit, aber auch ein Zug von Sarkasmus trat hervor – sie hatte in der Tat eine »streitbare Ader« in sich.

»Ich bin, Gott sei Dank, so erzogen, dass ich dem Heimweh nicht die geringste Macht einräume, sobald ich weiß, dass ich irgendwo nötig bin«, wandte sie sich an den Kommerzienrat. »Damit lasse Dich nicht schrecken, Moritz! Erlaube mir vielmehr, auf unbestimmte Zeit hierzubleiben – Henriettes wegen!«

»Mein Gott, ich habe ja selbst keinen anderen Wunsch, als Dich hier zu behalten«, rief er mit einem Feuer, das selbst dem jungen Mädchen verwunderlich erschien.

Die Präsidentin stand wieder am Tische und ließ die Blätter eines vor ihr liegenden Buches unter ihrem Daumen hinlaufen, und die gesenkten Augen hingen so nachdenklich an diesem Spiel, als sehe und höre sie nichts anderes. »Es versteht sich ja von selbst, dass Du bleibst, so lange es Dir gefällt, meine liebe Käthe«, sagte sie gleichmütig, ohne aufzusehen. »Nur darf dieses Bleiben beileibe nicht den Anstrich einer Aufopferung erhalten; dagegen müssen wir uns entschieden verwahren. Nanni pflegt unsere Kranke musterhaft, und auch meine Jungfer ist angewiesen, nachts beizuspringen, wenn es nötig ist. Du könntest sie ohne Sorge verlassen.«