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»Ich darf der, die meine Braut gewesen ist, keinen Vorwurf machen; ich trage die Schuld, dass es zu einem solchen Eklat kommen musste, ich, der ich, um der Welt willen, schwach genug war, nicht schon in dem Augenblicke zurückzutreten, wo ich unter tödlicher Bestürzung erkannte, dass ich eine hinreißend schöne Form gewählt habe, deren vermeintlich reicher Inhalt unter den prüfenden Augen zu Nichtigkeiten zerbröckelte – und das geschah schon in den ersten Wochen nach meiner Verlobung.«

Nein, es waren keine Nichtigkeiten, welche »die hinreißend schöne Form« umschloss, es war ein Frauencharakter voll teuflischer Bosheit. Flora, hatte um Brucks Liebe für sie gewusst, jedenfalls durch sein eigenes Geständnis – welch eine niederträchtige Intrige! Die Betrogene hatte den Ring in der Tasche; sie hätte ihn um jeden Preis erkauft; sie hatte selbst jeden listigen Einwurf der ränkevollen Schwester bekämpft und ihr Wort verpfändet, sogar auf die Möglichkeit hin, dass Bruck ihre Hand begehren könne. Die Augen des jungen Mädchens irrten verzweiflungsvoll über den gestirnten Himmel. Sie wusste, Flora, gab ihr das Wort nicht zurück, und wenn sie sich in qualvoller Bitte zu ihren Füßen die Knie wund rieb; sie wusste, dass sie und Bruck in den Augen aller verfemt sein würden; denn niemand hatte einen vorurteilslosen Einblick in die Sachlage. Es bedurfte nicht einmal Floras glänzender Beredsamkeit, die Welt zu überzeugen, dass sie die Hintergangene sei, der die jüngere Schwester den Verlobten weggelockt habe, und dass Flora diese Beleuchtung wählen werde, das stand fest, wie der Himmel da droben. Wie sie flimmerten, die kreisenden Sternbilder! Auf welchen dieser goldenen Himmelsfunken hatten die rosig durchhauchten Abendlüfte den erlösten Geist der Schwester getragen? Sah sie jetzt zurück? Sah sie, wie das Glück des geliebten Mannes in Trümmer ging?

»Sie sind so still, Käthe. In Ihrer Seelenhoheit weisen Sie mich schweigend in die Schranken; ich hätte heute nicht sprechen sollen«, hob er wieder an. »So will ich auch jetzt nicht weiter in Sie dringen. Ich verhehle mir nicht, dass meine Bitten und Wünsche mit schweren Bedenken in Ihrer Seele kämpfen müssen; denn sonst wären Sie nicht die peinlich gerechte, die ehrliche Käthe, die Sie sind, aber ich werde mein ersehntes Ziel erreichen, ohne dass ich zur stürmischen Überredung greifen muss – das weiß ich auch. Ich lasse Ihnen Zeit zur Prüfung und zur Überwindung des tiefen Schmerzes, der Sie jetzt erfüllt und in allem, was Sie denken und fühlen, mitspricht. Ich gehe jetzt unbeglückt, aber – ich komme wieder. Und nun wollen wir nach der Mühle gehen. Geben Sie mir getrost Ihren Arm! Ein Bruder kann seine Schwester nicht selbstloser führen, als ich in diesem Augenblicke an Ihrer Seite gehe. Sie könnten sich ebenso ruhig mir und meiner Tante anschließen, wenn wir unsere Reise nach L…g antreten.«

»Ich kehre nicht nach Sachsen zurück«, sagte sie. Sie hatte ihre Hand auf seinen Arm gelegt, und nun durchschritten sie die Allee. Ein Gefühl von tödlicher Erstarrung durchschlich die Glieder des Mädchens, und es war, als krieche es auch lähmend an das wildklopfende Herz und hauche die Stimme an, die so fremd, so hart und klanglos aus der Brust kam. »Ich habe schon bei meiner letzten Anwesenheit in Dresden gefühlt, dass mir, so wie es jetzt in meinem Innern aussieht, mit dem ausschließlichen Versenken in das Sprachstudium und die Musik, mit der Besorgung kleiner Hausgeschäfte und dergleichen nicht geholfen – ich muss einen Wirkungskreis haben, der tüchtige, anstrengende Arbeit, Tag für Tag, von mir fordert. Bis vor wenigen Tagen noch zögerte ich, dieses Vorhaben auszusprechen; denn ich wusste, dass das erste Wort eine Reihe von Kämpfen mit meinem Vormunde einleiten würde – der ›Goldfisch‹ hatte ja bereits seinen Beruf, den, mit tadellosem Chic seine Revenuen zu verbrauchen. Das ist nun alles aus. Der gefürchtete Geldschrank existiert nicht mehr, oder eigentlich, sein papierener Inhalt ist schon wertlos gewesen, ehe er zertrümmert in die Luft geschleudert wurde – das ist mir zur unumstößlichen Gewissheit geworden, seit mir Nanni heute Nachmittag zuflüsterte, dass man drunten versiegele. Nicht wahr, meine vielen Hunderttausende existieren nicht mehr?«

»Ich glaube schwerlich, dass sich etwas retten lässt –«

»Aber meine Mühle habe ich noch – und da will ich bleiben. Vielleicht erregt es Ihre ernstliche Missbilligung, wenn ich Ihnen sage, dass ich von nun an mein Eigentum selbst verwalten will; denn es sieht nach Emanzipation aus, wenn ein junges Mädchen als Inhaberin einer Firma selbstständig hervortritt.«

»So falsch urteile ich nicht; ich befürworte sogar warm diese Art von Selbstständigkeit der Frauen; ich weiß auch, dass Sie mit Ihrer Kraft und Energie sofort im richtigen Fahrwasser sein würden – aber das ist ja nicht Ihre Bestimmung, Käthe. Sie sind berufen, ein Familienglück zu begründen, nicht aber, den Kopf voll Zahlen und Berechnungen, Tag für Tag, einsam am Geschäftspulte zu stehen. Fangen Sie lieber gar nicht an! Denn eines Tages wird man Sie wegholen und nicht danach fragen, wo Sie in den Büchern gerade mit Ihrem Soll und Haben stehen, und das könnte eine schlimme Verwirrung heben.«

Wäre nur ein einziger intensiv beleuchtender Strahl des Sternenlichtes in das Dunkel der Allee gefallen, dann hätte der Sprechende schon von diesem Augenblicke an das Mädchen nicht mehr von seiner Seite gelassen – eine so trostlose Verzweiflung malte sich in ihren Zügen –, er würde sie in seine Hut genommen und nicht gezögert haben, der eigentlichen Spur nachzugehen, die den Widerstand erklärte. So aber deckte die Finsternis den entsetzlichen Seelenkampf, der da neben ihm, ohne Laut, ohne auch nur einen verräterischen Seufzer, durchstritten wurde, und er führte die Entmutigung und Niedergeschlagenheit, die ihre Stimme so dumpf und eintönig machten, auf das Trennungsweh, auf die tiefe Erschütterung zurück, die der Anblick eines Sterbenden hinterlässt.

Hier und da sprang ein Kiesel mit leichtem Rasseln unter den Füßen der Weiterschreitenden auf, und das Wellengeräusch des nahen Flusses scholl stark in das augenblickliche Schweigen hinein, das auf die letzten Worte des Doktors gefolgt war. Die Linden der Allee traten zurück; der Nachthimmel breitete sich droben wieder hin, und in sein Flimmern hinein stiegen dort die zwei schlanken italienischen Pappeln, welche die Holzbrücke flankierten.

Bei diesem Anblicke drückte der Doktor unwillkürlich den Arm des jungen Mädchens an sich. »Dort, Käthe!« flüsterte er innig. »Dort haben Sie stets die ersten Veilchen gesucht; ich habe Ihnen versprochen, dass Sie das immer dürften, und ich kann Wort halten – ich werde meine Osterferien stets hier verleben.«

Käthe presste die geballte Rechte auf die Brust; sie glaubte ersticken zu müssen an dem heftigen Schlagen ihres Herzens, und doch fragte sie nach einer kurzen Pause anscheinend gelassen: »Die Frau Diakonus wird Sie nach L…g begleiten?«

»Ja, sie will meinem Hauswesen vorstehen, so lange ich noch allein sein werde. Sie bringt mir ein großes Opfer und wird Gott danken, wenn sie den Staub der großen Stadt wieder von den Füßen schütteln und in ihr geliebtes grünes Heim hierher zurückkehren darf. Ich weiß, das edle, brave Herz, um das ich werbe, wird sie nicht allzu lange auf die Ablösung von ihrem Posten warten lassen«, setzte er mit weicher, bittender Stimme hinzu.

Ein Licht in der Mühle tauchte vor ihnen auf. Dort hatten sie heute den Müller Franz hinausgetragen. Der Verunglückte hinterließ eine Witwe und drei Waisen. Das Dach, das sie noch beschützte, gehörte ihnen nicht, und das, was der fleißige Mann erarbeitet und gespart hatte, genügte nicht zu ihrem Hinterhalte. Suse war heute für einen Moment in der Villa gewesen, um nach ihrer Herrin zu sehen. Sie hatte Käthe die Verzweiflung der Hinterlassenen als herzzerreißend geschildert und dabei den Wirrwarr bejammert, in den »das herrenlose Geschäft« mit jeder Stunde tiefer gerate.

Das Bogenfenster der Familienstube im Erdgeschoss, das nach dem Park hinausging, war dunkel. Schwarz und ungestalt ragte der Gebäudekomplex der Mühle in die Luft; sie lag so einsam, so weltverlassen da; das Gebell der Hofhunde, die beim Geräusch der näherkommenden Schritte anschlugen, klang verloren wie in eine öde, endlose Weite hinein. Die Räderarbeit schwieg, und der Mühlenraum stand so leer, so feierlich unbelebt, als hätte, seit dem Erkalten der freudig hier schaffenden Menschenhand, ein geschäftiges Heinzelmännchen nach dem andern die Kappe über das vergrämte Gesicht gezogen und sich davongeschlichen.

Der Doktor zog das junge Mädchen näher an sich, ehe er die Mauerpforte öffnete. » Mir ist, als führte ich Sie in die Verbannung«, sagte er zögernd und gepresst. »Sie sollten mir den Schmerz nicht machen, Sie gerade heute in diesen dunklen schweren Stunden allein zu wissen. Kommen Sie mit mir! Die Tante wäre überglücklich, Sie aufnehmen und mütterlich verpflegen zu dürfen.«

»Nein, nein!« stieß sie hastig heraus. »Glauben Sie ja nicht, dass ich mich nutzlosem Jammer leidenschaftlich hingebe, wenn ich allein bin – ich habe nicht einmal Zeit dazu, und ich will auch nicht. Ich muss dort« – sie zeigte nach dem Bogenfenster, wo jetzt hinter dem Kattunvorhange ein matter Lampenschein aufdämmerte – »sofort als Trösterin eintreten – die vier armen Menschen sind auf meine Kraft, meinen Beistand angewiesen.«

»Liebe, liebe Käthe!« sagte er und zog mit beiden Händen ihre Rechte gegen seine Brust. »So gehen Sie denn in Gottes Namen! Ich würde es für eine schwere Sünde halten, Sie zu beirren, die Sie so tapfer den harten, aber unfehlbaren Weg zur Überwindung unfruchtbaren Schmerzes wählen. Seien Sie aber in der ersten Zeit nicht ebenso streng gegen sich als Rekonvaleszentin! Tragen Sie die schützende Binde noch einige Tage auf der verheilenden Wunde, dann fort damit! Und nun: zu Ostern, wenn die letzten Winternebel fliehen, wenn Schnee und Eis tauen, darin gehen auch die Menschenherzen auf; zu Ostern, da komme ich wieder. Bis dahin gedenken Sie eines Fernen, eines sehnsüchtig Harrenden, und lassen Sie Verleumdung und Misstrauen nicht zwischen uns treten!«

 

»Nie!« Dieses eine Wort brach fast wie ein Aufschrei aus ihrer Brust. Sie entzog ihm die Hand, die er an seine Lippen presste; dann rasselte die Mauertür hinter ihr zu. Sie tat keinen Schritt vorwärts, an die kalte, feuchte Mauer gedrückt, und das Gesicht in den Händen vergraben, horchte sie atemlos auf seine verhallenden Tritte. Was war Henriettes Sterben gewesen gegen die Qualen ihres wildschlagenden Herzens, das weiterleben musste! Sie lauschte, bis die weiche Nachtluft lautlos an ihr vorüberstrich; dann ging sie starren, tränenlosen Auges in das Haus, um ihre Mission als Trösterin und Versorgerin zu beginnen.

Drei Tage später, sofort nach Henriettens Beerdigung verließen Doktor, Bruck und die Tante Diakonus die Residenz. Ihn hatte Käthe nicht wiedergesehen, aber die Tante war wiederholt stundenlang bei ihr gewesen. An demselben Tage reiste auch Flora in Begleitung der Präsidentin ab. Die alte Dame begab sich in ein stärkendes Bad, und Flora ging nach Zürich, wo sie, wie man sich in der Residenz erzählte, behufs medizinischer Studien eine Zeitlang leben wollte.

29

Mehr als ein Jahr war vergangen seit jenem Märztage, wo Käthe Mangold, die Enkelin und einzige Erbin des reichen Schlossmüllers, auf dem Fahrwege von der Stadt her geschritten war, um sich im Hause ihres Vormundes in ihrer neuen Eigenschaft als »Goldfisch« vorzustellen.

Wer jetzt, von der mit eleganten Villen besetzten Chaussee abbiegend, diesen Weg betrat, der sah rechts, und zwar ebenfalls an der Chausseelinie hin, eine Reihe hübscher kleiner Häuser liegen; sie gehörte den Arbeitern der Spinnerei und stand im ehemaligen Mühlengarten, auf dem Grund und Boden, den Käthe ihrem Vormund für die Leute abgetrotzt hatte. Und die Bewohner der Residenz gingen so gern da vorüber. Früher hatte sich hier die alte, dicke, das Mühlengrundstück begrenzende Mauer aufgetürmt – in ihrem tiefen Schatten war der Fußsteig selten trocken geworden; er war als grundlos verrufen gewesen. Nun dehnte sich hier, plötzlich eine anmutige, mit Kugelakazien bepflanzte Promenade hin. Die kleinen Häuser sahen so nett und holländisch sauber aus mit ihrem fleckenlosen Ölanstriche, der luftigen Veranda neben der Haustür und dem schmalen Vorgarten, der schon im Herbst mit allerlei Reisern schönblühender Gebüsche besetzt worden war.

Die Schlossmühle lag hinter ihnen, altersdunkel, stolz in ihrer Ehrwürdigkeit, aber auch abgewendet mit ihren Fenstern, als zürne sie, dass man ihrem grünen Gartenmantel diesen modernen Saum angeflickt habe. Sie selbst hatte sich keiner Veränderung unterworfen; nur die alte, halbverwischte Sonnenuhr war aufgefrischt und die kleine Tür nach dem anstoßenden Parke zugemauert worden. Die Schlossmühle stand in keiner Beziehung mehr zu dem ehemaligen Besitz der verblichenen Ritter von Baumgarten, die ihr vor Zeiten den herrschaftlich klingenden Titel verliehen hatten. Aber der tosende Lärm, das klopfende Herz in dem ehrwürdigen Bau des Mittelalters klang in verjüngter, erhöhter Kraft, und der in den Mühlhof mündende Fuhrweg war befahrener als je; das »herrenlose Geschäft« ruhte in starker, sicherer Hand und wurde mit klugem Blicke geleitet. Käthe hatte Glück gehabt bei ihrem Unternehmen. Sie hätte für die Mühle einen braven, sachkundigen Geschäftsführer gefunden, und in, der Buchführung stand ihr der gänzlich verarmte Kaufmann Lenz zur Seite.

Als Lehrling war sie in dem Kontor eingetreten, das sie in der Mühle geschaffen, aber bei ihren bedeutenden Schulkenntnissen, ihrem scharfen, klaren Urteil und Überblick war sie ihrem Lehrer und Meister binnen kurzem ebenbürtig geworden. Sie arbeitete in der Tat, »Tag für Tag«, wie ein Mann – das Geschäft wuchs und erweiterte sich in rapider Weise und zeigte sehr bald Erfolge, wie sie selbst der Schlossmüller nicht errungen hatte. Und das, was sie auf ihrem selbstgewählten rauen Lebenswege stärkte und ermutigte, waren die zufriedenen Gesichter um sie her; es war jedes an seinem Platze. Sie hatte die Witwe des verunglückten Franz mit ihren Kindern bei sich behalten und ihr ein Asyl in einem neuhergerichteten, kleinen besorgte mit Suse zusammen, nach wie vor, die kleine zur Mühle gehörige Ökonomie und das Hauswesen, und die Kinder erhielten eine Ausbildung, wie sie ihr verstorbener Vater, der mehr auf die materiellen Errungenschaften bedacht gewesen war, sicher nie bewerkstelligt hätte.

Von der großen Hinterlassenschaft des Schlossmüllers war Käthe in der Tat nichts verblieben, als die Mühle und einige Tausend Taler, die sie mit dem Stück Gartenboden zugleich von ihrem Vormunde erbeten und erpresst und den Arbeitern zu ihrem Häuserbau geliehen hatte. Die vielen Hunderttausende waren in den Flammen spurlos verschwunden, und das wenige Gold und Silber, das man geschmolzen später unter Schutt und Trümmern fand, rührte wohl eher von Essgerät und Trinkbechern her, als von Münzen. Bei dem auf die Explosion folgenden geschäftlichen Zusammenstürze kamen viele Gläubiger, trotz der vorhandenen Liegenschaften und Wertobjekte, um ihr Geld; der Konkurs erwies sich als einen der schlimmsten, hoffnungslosesten, die der große Krach hinter sich herschleppte. Villa und Park waren wieder in altadlige Hände gekommen, und der neue Besitzer ließ schleunigst die Turmtrümmer forträumen, das Wasser in den Fluss zurückleiten und den Graben zufüllen; selbst der geborstene Hügel wurde der Erde gleichgemacht, auf dass der ehemals ritterliche Grund und Boden durch nichts mehr an die Zeit erinnere, wo sich der Übermut eines Parvenü hier breit gemacht und ein schmachvolles Ende genommen habe. Auch der alte, ehrwürdige Holzbogen, der nach dem Hause am Flusse führte, war abgebrochen worden. Man ging jetzt über die der Spinnerei nahegelegene Steinbrücke und einen hübschen Fußweg am jenseitigen Ufer entlang, wenn man nach dem Doktorhaus kommen wollte.

Das Haus, das im Spätherbste noch vollständig restauriert worden war, stand unbewohnt; die alte Freundin der Tante Diakonus war den Winter über in der ehemaligen Stadtwohnung des Doktors verblieben und wollte erst mit Beginn der schöneren Jahreszeit wieder hinausziehen. … Dorthin wanderte Käthe fast jeden Tag. Ob die Herbstnebel dampften, und Weg und Steg von Nässe triefen mochten, ob die Schneeflocken stöberten oder der Wind eisig von Norden herblies: sowie die Abenddämmerung hereinbrach, warf Käthe die Feder fort, hüllte sich warm ein und huschte hinaus ins Freie. …

Da schüttelte sie die Zahlenlast, das starre, trockene Geschäftswesen, unter welchem sie ihr heißes, klagendes Herz geflissentlich vergrub, für eine halbe Stunde ab; dann war sie nicht die ernste, geschäftspünktliche Herrin, deren achtsamem Auge nicht die kleinste Unregelmäßigkeit entging, die an sich und ihre eigenen Leistungen die höchste Forderung stellte, und in weiser Verteilung von Lob und Rüge dasselbe bei ihren Untergebenen zu erzielen wusste, ohne dass je ein hartes Wort von ihren Lippen, ein heftig zürnender Blick aus ihrem Auge kam – sie war in diesen Dämmerstunden nur das junge Mädchen, das seiner tiefen Sehnsucht Raum gab, das, bei aller Härte und Strenge gegen seine unbezwingliche Neigung, sich doch Momente der wehmütigen Träumerei, der Hingabe an den Schmerz zugestand.

Dann trat sie durch die schmale, knarrende Stakettür, die ins Feld hinausführte und auf welche sie, Henriette auf den Armen, nach dem Attentat im Walde, todesermattet zugeschritten war. Im Vorübergehen strich sie stets mit schmeichelnder Hand über das grünangelaufene Steinpostament, inmitten des Rasengrundes, neben welchem sie einmal mit Bruck gestanden, und suchte dann die Stelle auf, wo der Gartentisch postiert gewesen hatte Bruck um ihretwillen schwer gelitten – das wusste sie nun. Sie umging das einsame Haus mit seinen verrammelten Fensterläden, seinen neuen, ungeheizten Schloten und schnarrenden Wetterfahnen und stieg die schlüpfrigen, winternassen Stufen hinauf, um das Ohr an das Schlüsselloch der Haustür zu legen. Jenes schwache, scheinbare Seufzen, das der von dem geöffneten Bodenraum herabkommende Zugwind verursachte, schlich durch den weiten Flur; neben und über der Tür rasselten dürre Weinranken, und manchmal flog noch ein verspäteter Spatz unter den Dachvorsprung – das war alles Leben, welches sich in der Verlassenheit regte, und doch horchte das junge Mädchen begierig darauf; es war doch nicht Grabesstille, und das Recht, diese Tür wieder zu öffnen, lag ja noch in geliebten Händen, und eines Tages wurden auch wieder Schritte laut da drinnen, und liebe Gesichter sahen zu den Fenstern heraus – das war ja alles festgestellt, wenn Käthe sich auch dabei sagen musste, dass sie selbst dann stets verreisen werde, bis – Bruck einmal ein weibliches Wesen am Arme führte, in dessen Hand sie den Ring legen durfte.

Er mochte wohl vielumworben sein in L…g. Der Ruf seines Namens wuchs von Tag zu Tage; eine große, auserwählte Zuhörerschaft drängte sich zu seinen Vorlesungen, und die Nachricht von verschiedenen glücklichen Kuren, denen er hervorragende Persönlichkeiten unterworfen hatte, machte die Runde durch die Welt. Die Briefe der Tante Diakonus an Käthe – sie schrieb ihr sehr oft – atmeten Glück und Seligkeit; sie waren für das junge Mädchen eine Quelle des Genusses, aber auch furchtbarer, neuaufgerüttelter Seelenkämpfe, und deshalb antwortete sie ziemlich sparsam und zurückhaltend. Der Doktor selbst schrieb nicht er hielt streng an seinem Versprechen fest, sie nie zu bestürmen – und begnügte sich stets mit einem Gruße, den sie freundlich und pünktlich erwiderte.

So verlief ihr junges, einsames Leben Tag für Tag. Sie ahnte nicht, dass man sich in der Stadt viel mit ihr beschäftigte, dass sie jetzt, nach ihrer energisch durchgesetzten Mündigsprechung, wo sie sich so resolut und willensstark an die Spitze ihres Etablissements gestellt, weit mehr das Interesse und die Beachtung herausfordere, als früher durch ihren unliebsamen Goldfisch-Titel. … Dieser ausgezeichnete Leumund führte denn auch sehr oft einen Besuch in die Schlossmühle, den sie das erste Mal mit unverhohlenem Erstaunen begrüßte. Die Frau Präsidentin Urach verschmähte es durchaus nicht mehr, auf ihren Spaziergängen mit der ihr treugebliebenen Jungfer in der Mühle einzukehren, um, »wie es ihre Pflicht gegen ihren verstorbenen teuren Schwiegersohn erheische, nach seiner Jüngsten zu sehen«.

Die alte Dame war schon wenige Wochen nach ihrer Abreise in die Residenz zurückgekehrt; sie hatte es draußen »nicht ausgehalten«. In einer engen Straße ein paar kleine, hochgelegene Zimmer bewohnend, lebte sie, ihren kargen Mitteln gemäß, zurückgezogen und halbvergessen von der Welt. Der Medizinalrat von Bär hatte sich ein Landgut gekauft und der Residenz grollend den Rücken gekehrt – er war für sie verschollen, und von den übrigen Freunden besuchten sie nur noch einige Altersgenossinnen und der pensionierte Oberst von Giese, die manchmal zu einem Spielchen bei ihr zusammenkamen.

Sie fühlte sich mit einem Male so wohl »in der großen,  weiten Schlossmühlenstube, in der man so recht aufatmen könne«; sie ließ sich, ermüdet von dem zurückgelegten Weg und behaglich in das altmodische, federngepolsterte Kanapee des seligen Schlossmüllers gedrückt, den delikaten Kaffee vortrefflich schmecken, den Käthe stets sofort auf der Maschine bereitete, und protestierte durchaus nicht, wenn Suse, auf den Wink ihrer jungen Herrin hin, einen schweren Korb voll frischer Butter, Eier und Schinken an den Arm der Jungfer hing.

Auf Flora war sie nicht gut zu sprechen. Die Enkelin, die im vollen Besitze ihres Vermögens geblieben, bezahlte zwar die Mietwohnung für ihre Großmama und trug auch die Kosten für die Bedienung; alles Übrige verbrauchte sie aber für sich selbst und konnte kaum auskommen, wie sie wiederholt brieflich versicherte. Zürich hatte sie sehr bald wieder verlassen – das »grause« ärztliche Studium irritierte ihr die Nerven »bis zum Wahnsinnigwerden«. Sie war ihm eine jener geistigen Koketten, die um jeden Preis eine Rolle spielen und Aufsehen machen wollen, die sich gern den Anschein grübelnden Denkens und tiefgehender Kenntnisse geben, vor nichts aber mehr zurückschrecken, als vor der ernsten, harten Geistesarbeit.

Nun war die Osterzeit herangekommen. Schon seit mehreren Wochen wurde im Garten des Doktorhauses unermüdlich gearbeitet. Der Doktor hatte einen Gärtner aus L…g geschickt; der steckte neue Wege ab oder suchte vielmehr die Spuren des alten, sehr hübschen Gartenplanes wieder aus und gab den Anlagen die frühere Gestalt zurück. viele Hände waren beschäftigt, zu graben und zu pflanzen, und Plätze wurden vorgerichtet, wo einige Statuen aufgestellt werden sollten, die aus L…g gekommen waren, und noch verpackt im Hausflur standen. Am Hause waren schon seit vierzehn Tagen alle Läden geöffnet; die Zimmer wurden tapeziert und mit neuem Firnisanstriche versehen, und auf den First war sogar eine Fahnenstange gekommen. Dann zog die Freundin der Tante wieder ein und brachte eine Schar Tagelöhnerinnen mit, die das Haus vom Dachboden bis zum Keller hinab spiegelblank machten.

 

Käthe hatte ihre Spaziergänge nicht unterbrochen. Auch heute, am Heiligen Abend vor dem Osterfeste, war sie in der Mittagsstunde noch einmal drüben gewesen. Im Garten wurde noch immer gepflanzt und angesät, aber die alten Taxusgruppen, die früher als undurchdringliche, buschige und struppige Wildnis das Terrain verunstaltet und verdüstert hatten, standen gesäubert und in die ehemaligen Schranken zurückgewiesen, und aus ihrem dunklen Grün traten leuchtend und anmutig die neuen Sandsteinfiguren. Auf den Wegwindungen, welche die Hecken durchschnitten, lag in tadelloser Glätte heller Sand; an die Stelle der knarrenden Holztür im Zaune war ein feines schwarzes Eisengitter getreten, die Laube der Tante Diakonus stand weiß angestrichen und hinter dem Hause umschloss ein Plankenzaun den neuen Hühnerhof.

Und auf dem wohlbekannten Steinpostamente vor dem Hause hob sich eine Terpsichore, die Arme in graziösem Schwünge emporgestreckt, auf der äußersten Spitze ihres zarten Füßchens, genauso, wie sich Käthe die längst zertrümmerte Gestalt auf dem schmalen Fußreste wieder aufgebaut hatte.

»Die Statue ist sehr hübsch!« sagte der fremde Gärtner achselzuckend; »sie müsste nur auf einem eleganteren Grunde stehen. Der Rasen« – er zeigte über den Grasplatz hin – »ist verwildert und nichts nutz, aber der Herr Professor hat mir streng verboten, den Spaten da anzusetzen.« – Käthe bückte sich, helle Glut auf den Wangen, und pflückte die ersten Veilchen, die sich im Schutze des Postamentes bereits voll und köstlich duftend entfaltet hatten. »Ja, der Rasen starrt von Unkraut«, setzte der Gärtner über die Schulter hinzu und ging weiter.

Und das Haus – jetzt in der Tat ein Schlösschen – stand heute da, glänzend in Frische und Neuheit und so festlich und feierlich geschmückt, »als ob eine Braut einziehen sollte«, sagte die alte Freundin ahnungslos lächelnd zu Käthe. Das schneeweiße Kätzchen kam über den neuen Mosaikfußboden des Flures leise gegangen; im Zimmer der Tante Diakonus, hinter den Filetgardinen und umringt von den in der Stadt überwinterten Lorbeer- und Gummibäumen, schmetterte der Kanarienvogel aus voller, trillernder Kehle, und die Goldfischchen schwammen munter in der da war ja auch schon das gewohnte Leben und Treiben wieder eingekehrt, und die Tante Diakonus selbst sollte mit dem Nachmittagszuge eintreffen. Sie bringe auch einen Gast mit, hatte die alte Freundin, geheimnisvoll mit den Augen blinzelnd, gemeint; wen das wisse sie nicht; sie habe nur den Auftrag erhalten, das Fremdenzimmer mit hübschen, neuen Möbeln zu versehen. Und dabei hatte sie stolz die breite, weißglänzende Flügeltür zurückgeschlagen, und Käthe war in einen Tränenstrom ausgebrochen – sie musste an ihre Henriette denken, die hier gelitten hatte, und doch noch einmal in ihrem armen Leben so glücklich, so stillselig gewesen war. Neben dieser schmerzvollen Erinnerung rang sich aber auch noch eine nie gekannte, heißaufquellende Eifersucht empor. Wer war sie, die sich an das Herz der Tante gedrängt und die alte Frau so sehr für sich eingenommen hatte, dass sie als Besuch mitkommen durfte?

Die rosenbestreuten Gardinen und die schaukelnden Blumenampeln waren an den Fenstern verblieben; die altmodische, mühsam zusammengesuchte Zimmereinrichtung dagegen hatte modernen, hübschen, wenn auch sehr einfachen Kirschbaummöbeln weichen müssen, und statt der verblichenen Bilder aus Voß’ »Luise« hingen einige schöne Landschaften an den helltapezierten Wänden. Der, ach, so wohlbekannte Raum war in ein trauliches Wohnzimmer umgewandelt und ein anstoßendes, früher vollkommen leerstehendes Kabinett als Schlafgemach eingerichtet worden.

Dies alles hatte Käthe noch einmal mit tränenverdunkelten Augen überblickt, dann war sie heimgegangen, um an den Schreibtisch zu treten und noch einige nötige Geschäftsbriefe zu schreiben. Kaufmann Lenz sollte am Abende von seiner geschäftlichen Rundreise zurückkehren; bis dahin hatte die junge Herrin noch manches zu erledigen, um dann, abgelöst von ihrem Posten, auf vierzehn Tage nach Dresden zu ihren Pflegeeltern zu reisen.

Ach, wie entsetzlich zerstreut war sie doch heute! Wie klopften ihre Pulse, und wie abscheulich zerfahren kamen die sonst so sicheren Gedanken und Buchstaben aus ihrer Feder! Und nun trat auch noch die Jungfer der Präsidentin ein; sie hatte den großen, leeren Marktkorb am Arme, »weil sie eben das bisschen Bedarf für die Festtage in der Stadt einkaufen wollte«; es sei ja nur ein kleiner Umweg über die Mühle, habe die gnädige Frau gemeint und ihr einen eben eingelaufenen Brief von Fräulein Flora zum Durchlesen für das »liebe Fräulein Käthchen« mitgegeben.

Suse wurde sofort beordert, den Korb bis an den Rand mit ihren schöngeratenen Napfkuchen und allen möglichen guten Dingen aus der Speisekammer zu füllen, der Brief aber lag noch unberührt auf dem Schreibtische, als die Jungfer längst in die Stadt zurückgekehrt war.

Die Präsidentin hatte dem jungen Mädchen schon einige Male die Zuschriften der Stiefschwester mitgeteilt – es war Käthe zwar stets zumute gewesen, als glühe das Briefblatt zwischen ihren Fingern, aber sie hatte pflichtschuldigst gelesen, um nicht feindselig zu erscheinen. Auch jetzt überschlich sie das Gefühl, als müsse aus dem starkparfümierten Couvert da neben ihr eine Flamme züngeln, um sie zu verletzen. Unwillig schob sie das widerwärtige kleine Viereck mit dem Ellenbogen weiter, sodass es unter einem Stoße von Rechnungsformularen verschwand – sie sah nicht ein, weshalb sie sich auch noch durch das Lesen einer der meist sehr frivolen und von Anmaßung und Übermut strotzenden Episteln aufregen solle, wie es bisher stets der Fall gewesen war.

Die Feder wurde wieder ausgenommen, aber nur für wenige Augenblicke. Erregt griff das junge Mädchen wie nach einem schützenden Talisman nach den mitgebrachten Veilchen, die vor ihr im Glase standen, und atmete den kühlen, süßen Duft ein; sie trat an ihren Flügel und spielte zur inneren Beschwichtigung eine harmlose, sanfte Melodie; sie öffnete eines der Fenster und streichelte die kirren Tauben, die draußen auf dem Sims hockten, und dabei sagte sie sich wiederholt, dass die Übermittelung des Briefes im Grunde ja nur ein maskiertes Attentat auf ihre Speisekammer gewesen sei – aber es musste ein böser Zauber in dem unseligen Couvert stecken. Das Blut stürmte ihr immer heißer nach dem Kopfe, bis sie, glühend wie im Fieber, plötzlich die Formulare wegstieß und mit hastigen Fingern den Brief ergriff.

Beim Entfalten des Papierbogens fiel ein versiegelter Zettel heraus – sie bemerkte es nicht – ihre Augen irrten über den Anfang der Zuschrift; sie wurden groß und weit, und unwillkürlich griff das starke Mädchen nach einer Stütze, um sich eine festere Haltung zu geben. Flora schrieb von Berlin aus:

»– Du wirst wohl lachen und triumphieren, liebe Großmama, aber ich sehe ein, es ist besser so – ich habe mich vor einer Stunde mit Deinem ehemaligen Protegé, Karl von Stetten, verlobt. Er ist hässlicher und körperlich verkommener als je und trägt in seinem Bullenbeißergesicht jetzt auch noch eine blaue Brille – fi donc, ich werde mich zeitlebens genieren, an seinem Arm zu gehen, aber seine hündisch treue, wirkliche närrische Leidenschaft für mich erweckte mir schließlich doch ein menschliches Rühren, und weil er durch den unerwarteten Tod seines jungen Vetters plötzlich Majoratsherr aus Lingen und Stromberg geworden ist, hier zu Hofe geht, und in der Gesellschaft gut angeschrieben zu sein scheint, so hatte ich sonst nicht viel mehr gegen die Partie einzuwenden –«